Auf dem Einsamkeitskarussell

25. März 2022. In eine Seelen-Black Box, zwischen dunkle Wänden und auf einen schwarz glänzenden Boden, setzt Lilja Rupprecht die Figuren aus Gerhart Hauptmanns "Die Ratten". Mit Chuzpe und Spiellust eignet sich das RambaZamba-Ensemble das post-wilhelminische, tragisch-komische Personal an – und erzählt vom Versuch, in einer repressiven Gesellschaft aus dem Schicksals-Hamsterrad auszubrechen.

Von Stephanie Drees

"Die Ratten" von Lilja Rupprecht und dem Theater RambaZamba © Andi Weiland

25. März 2022. Auf dem Kinde wird ordentlich einer gehoben. Jaja: Der Satz stimmt wortwörtlich. Dieses Baby aus Stoff dient der illustren Gesellschaft zu Partyzwecken auch mal als Sitzgelegenheit: Mit seinem weichen Bauch, seinen langen Armen und Beinen, den flachen, überdimensionierten Händen und Füßen, dem riesigen Kopf lässt es sich zwischenzeitlich wunderbar zum Sofa für vier oder mehr Menschen drapieren. Nach dem dritten Klaren (auf einem kann man nicht stehen, undsoweiter...) sitzt (Ex-)Direktor Hassenreuter rittlings auf dem Körper der großen Puppe. Schließlich gilt er zu feiern, der Nachwuchs für den Kaiser, das Land, den Nationalstolz. Und während Hassenreuter auf dem deutschen Jungkörper von Eitelkeit, patriotischem Patriarchendunst und ein wenig auch vom Schnaps angeschickert wird, scheint die Frau neben ihm immer mehr in sich hinein zu schrumpfen: schwant ihr doch, auf welcher riesengroßen Lüge sie da sitzt.

Inneren Landschaften, bewohnt von Begehrlichkeiten

Ach, ach, Frau John. Sie ist eine der wohl berühmtesten verzweifelten Mütter der Literaturgeschichte (und dort versammeln sich ja einige). Auch, weil sie die Mutterschaft als Lebenszwecks und -elixier einst verlor und sie so unbedingt wiederhaben will, dass ein grausamer, zerstörerischer Egoismus sich in ihr ausbreitet wie ein Tumor. Und sie dem Dienstmädchen Pauline für den Witzbetrag von 123 Mark auf dem Dachboden des Mietskasernen-Molochs ihr – zunächst – ungewolltes, weil uneheliches Kind abkauft. Das Haus ist ein gesellschaftliches Abbild der ausklingenden wilhelminischen Ära. In sein morsches Gebälk ist nicht nur Ungeziefer, sondern auch der Geist eines nahenden Ersten Weltkrieges eingezogen. Die Menschen, die, wenngleich aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammend, nebeneinanderher leben, drehen Runde um Runde auf dem Karussell der Einsamkeit – beflissen, ihren Platz, so übel ihnen vom Fahren auch ist, zu verteidigen.

DieRatten 3 NN uParty on im Mietskasernen-Moloch © Andi Weiland

So nimmt in Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" das Unglück seinen Lauf. Dessen Titel natürlich jene Menschen meint, die sich wie Nager auf dem Dachboden verstecken, um dort den unterdrückten Ichs, geheimen Beziehungen und Begierden nachzugehen. Sie alle agieren in Lilja Rupprechts Inszenierung zwischen dunklen Wänden und auf einem schwarzen, glänzenden Boden. Eine Seelen-Black Box. Videoprojektionen lassen die Riesen-Babypuppe zu melancholischer Live-Musik mit Keyboard und E-Gitarre lebendig werden, geben ihr Gesicht und Ausdruck. Eine Hand schleicht sich an und umgreift von hinten den Kindskörper. Auf den Wänden erscheinen Visualisierungen von inneren Landschaften, bewohnt von Begehrlichkeiten. Zum Beispiel goldene Kreise, Tropfen, Muster, ähnlich den Pailletten am Kleid der Schauspielerin Alice, die Direktor Hassenreuter auf dem Dachboden mit Scheinwerferlicht visuell penetriert.

Eigenwillig einfühlsame Chuzpe

Interessiert zeigt sich Lilja Rupprecht an der in Hauptmanns Text angelegten Figurenpsychologie (die aus heutiger Sicht etwas muffig riecht). Es ist das dritte Mal, dass sie mit dem Theater RambaZamba zusammenarbeitet, einem der stilprägendsten Inklusionstheater im deutschsprachigen Raum. Schon bei "Antigone", einer Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater Berlin, ging es ums Ausbrechen aus dem Schicksals-Hamsterrad, um Figuren, die versuchen, ihre Identität inmitten einer unerbittlich repressiven Gesellschaft selbst zu schreiben.

Auch für diese Arbeit verlässt sich die Regisseurin auf die Spielkunst des Ensembles. Und: auf eine atmosphärische Dichte, die durch die klug reduzierte Bühne einerseits, andererseits durch das Nebeneinander von Tragik und Komik zustande kommt. Etwas, das RambaZamba besonders kann, was die Darsteller:innen besonders können, die sich Hauptmanns Sätze im wahrsten Sinne vornehmen und ihnen nachspüren, sie teilweise wiederholen, wenn sie beim ersten Mal nicht so rauskommen, wie es sich für sie richtig anfühlt. All das gibt der Inszenierung eine eigenwillige, einfühlsame Chuzpe, die diesen Hauptmann zu ihrem Hauptmann macht.

Vor der Kunst sind alle Menschen gleich?

Zu sehen und fühlen ist das, wenn Paulina und Jette John in den Mauern des dunklen Dachbodens den Baby-Deal der Verzweiflung ausmachen. Wenn Hieu Pham als schwangeres Dienstmädchen Wut und Angst im Stakkato-Berlinerisch aus sich rauspresst und Nele Winklers Frau John ihre Traurigkeit mit lebenserfahrener Verschlagenheit im wahrsten Sinne rausfeudelt – und danach noch den kriminellen Bruder (schön unbeeindruckt gespielt von Christian Behrend mit Gauner-Blick und milieugerechter Bicolor-Perückenfrise). Der soll im Laufe des Stückes noch für reichlich Unheil sorgen.

Oder: Wenn der junge, idealistische Hauslehrer Erich Spitta, der nach Abbruch seines Theologiestudiums unbedingt Theaterschauspieler werden will und beim ehemaligen Theaterdirektor Hassenreuter Unterricht nimmt, mit diesem über Sinn und Wesen der Kunst diskutiert. Ein hochtouriger Dialog zwischen Jonas Sippel als jugendlichem Heißsporn voller Enthusiasmus (und schwer in love mit Hassenreuters Tochter Walburga, oh, oh…), der das Theater als naturalistisches Abbild einer Gesellschaft sehen will, nicht als verstaubte Herrscher-Show, und Guido Lambrecht, Ensemblemitglied am Hans Otto Theater in Potsdam, der als Gast die Rolle des dünkelnden Theaterpatriarchen sichtlich auskostet.

All das macht viel Spaß und vermag mitunter die ordentlich knarzenden Dramaturgie-Scharniere von Hauptmanns Text zu ölen. "Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich", spuckt Spitta dem Direktor in ihrem Schlagabtausch vor die Füße. Schön wär's. Aber man darf ja wohl noch Träume haben.

 

Die Ratten
von Gerhart Hauptmann

Regie: Lilja Rupprecht, Bühne & Kostüme: Annelies Vanlaere, Musik: Heiko Fechner, Philipp Rohmer, Video: Moritz Grewenig, Dramaturgie: Tobias Herzberg, Regieassistenz: Vicki Steinmüller, Bühnen- und Kostümassistenz  Nathalie Volkmann.
Mit: Christian Behrend, Juliana Götze, Hieu Pham, Zora Schemm, Jonas Sippel, Sebastian Urbanski, Nele Winkler, Gast: Guido Lambrecht, Live-Musiker:innen: Heiko Fechner, Sophie Milz.
Premiere am 24. März 2022

Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.rambazamba-theater.de

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