"Wohin sollen wir denn in dieser Welt?"

26. März 2022. Wolfang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" war lange Teil der kulturellen DNA der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Michael Thalheimer sucht das Universale im Stoff – und erfindet eine beklemmend-apokalyptische Nummernrevue voller schauriger Gestalten. 

Von Esther Slevogt

"Draußen vor der Tür" von Michael Thalheimer am Berliner Ensemble © Matthias Horn

26. März 2022. Der erste Eindruck ist natürlich überwältigend. Hunderte von bunten Glühbirnen füllen das schwarze Guckkastenloch im Berliner Ensemble, das der Bühnenbildner Olaf Altmann in einen Nachthimmel aus bonbonfarben funkelnden Sternen verzaubert hat. Die Stille wird bald zerrissen von dem Song "Feeling good": It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life! Doch so wird es dann nicht kommen.

Wie die Fliegen an der Wand

Denn der Mensch, der hier jetzt eher schreit als singt und sich im graublauen Oversize-Pullover humpelnd aus dem Dunkel in die Sichtbarkeit vorarbeitet, ist Beckmann, Deutschlands berühmtester Kriegsheimkehrer. 1946 erdacht vom Dramatiker Wolfgang Borchert und Hauptfigur seines Stücks "Draußen vor der Tür", 1947 in Hamburg uraufgeführt - wo das Stück auch spielt. Die Elbe, in der sich Beckmann gleich zu Anfang ertränken will, ist eine Figur ebenso wie der Tod, der sich an den Leichen, die im 20. Jahrhundert "wie die Fliegen" an der Wand klebten, fettgefressen hat. Ein verhärmter, trauriger Gott, an den niemand mehr glaubt, kommt auch vor, der hier jetzt in Gestalt von Peter Lupa im weißen Hochzeitskleid mit weinerlicher Mine und großgeschminkten Augen vergeblich nach Trost und Verständnis heischt.

Die ganze Geschichte geht ungefähr so: Traumatisiert kehrt der Soldat Beckmann aus dem Krieg zurück, wird aber nirgends mehr heimisch. Seine Frau hat einen Anderen, die Eltern sind tot, sein Kind liegt ebenfalls tot irgendwo unter den Trümmern der bombenzerstörten Stadt. Beckmanns Versuche, für seine Not Gehör zu finden, scheitern. Alle Türe bleiben zu. Er bleibt das Gespenst des Krieges, von dem die Welt nichts wissen will. Verfolgt von den toten Kameraden, wird er die Verantwortung nicht los. "Wer schützt uns davor, dass wir Mörder werden?", schreit er schließlich in einem anklagenden Schlussmonolog. "Wohin sollen wir denn auf dieser Welt? Verraten sind wir. Furchtbar verraten."

Draußen vor der Tür 3 foto Matthias HornKein neues Leben in Sicht: Kathrin Wehlisch als Beckmann © Matthias Horn

Das Stück war lange Teil der kulturellen DNA der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Hier erkannte sie sich wieder, die ihre Schuld nicht sehen oder gar Verantwortung übernehmen wollte. Der Dramatiker selbst war am Tag vor der Uraufführung im Alter von 26 Jahren gestorben: unheilbar krank aus dem Krieg zurückgekehrt, dessen Schrecken sein schmales Werk prägen. Im Berliner Ensemble hat Michael Thalheimer jetzt das Universale im Stoff gesucht. Beckmann als Nachfahre von Büchners Woyzeck und Universal Soldier, die böse Welt als grelles Varieté, in dem Wolfgang Borcherts symbolschweres Stationendrama als beklemmende Nummernrevue voller schauriger Gestalten über die Bretter geht.

Der Tod rülpst schaurig

Immer arbeiten sie sich erst mühsam aus der Bühnentiefe durch das bunte Sternengewimmel nach vorne: Das blonde Mädchen im weißen Kleidchen, das Beckmann aus der Elbe fischt, aber selbst nichts als ein bleicher Todesengel ist (Philine Schmölzer). Ihr Mann, der einbeinige andere Kriegsheimkehrer des Dramas, ist ein frankensteinhaftes Monster (Oliver Kraushaar) und der Tod erscheint als schaurig rülpsendes Dunlop-Männchen (Jonathan Kempf).

Draußen vor der Tür 3 foto Matthias HornVerfolgt von schaurigen Gestalten: Beckmann (Kathrin Wehlisch) und der Tod (Jonathan Kempf) © Matthias Horn

Musikalisch unterlegt sind die vergeblichen Versuche des 25-jährigen Ex-Wehrmachtssoldaten Beckmann, seinen Frieden zu finden, mit dem düster-repetitiven Hauptmotiv von Philipp Glass' Musik für den zivilisationskritischen Dokumentarfilm Koyaanisqatsi. Meist lässt Bernd Wrede dieses Motiv leise quetschig (auf einem Harmonium gespielt?) als Endlosloop im Hintergrund laufen. Nur manchmal schwillt es zu vollem Dolby-Surround-Volumen an und verströmt sein oratoriumhaftes wie apokalyptisches Trance-Potenzial.

Die Verzweilung aneignen

In der Rolle des Beckmann balanciert die Schauspielerin Kathrin Wehlisch den Abend virtuos auf ihren Schultern: erst noch leise staunend von außen kommentierend eignet sie sich diese Figur samt ihrer Verzweiflung immer entschiedener an. Aus Beckmanns berühmter Gasmaskenbrille hat Kostümbildnerin Nele Balkhausen ein knallrotes, schrilles Gerät mit aufklappbaren Gläsern gemacht, das Beckmann unterm bonbonfarbenen Sternenhimmel gelegentlich die entfernte Anmutung einer berühmten Disney-Figur gibt. Manchmal irisiert Wehlisch aber auch als Reinkarnation von Guiletta Masinas "Gelsomina" aus Frederico Fellinis Schaustellerfilm "La Strada" durch den Abend – von dessen pittoresker Poesie sich Thalheimer und Balkhausen manches abgeschaut und besonders in die Figuren von Oberst (Veit Schubert) und Kabarettdirektor (Tilo Nest) gelegt haben.

Kein Gespenst des Krieges

So könnte das ein toller Abend sein. Ist es aber nicht. Schon Wolfgang Borchert blendet in seinem Stück vollkommen Millionen Menschen aus, die Opfer der Deutschen wurden. In Borcherts Massengräbern liegen nur deutsche Soldaten. In ihrem Bemühen, das Stück ins Universale zu heben, haben Thalheimer und sein Team vieles gestrichen, das das Drama im Konkreten verortet. Das Wort "Stalingrad" zum Beispiel. Drin geblieben ist aber die Szene, in der Beckmann zur Wohnung seiner Eltern kommt und erfährt, dass sie sich das Leben nahmen. Sie waren aktive Nazis. Im Luftschutzkeller hatte Vater Beckmann stets gegen die Juden gehetzt. Nach 1945 wurden sie dafür bestraft.

Schon Borchert klagt in seinem Drama nur die Indolenz der Frau Kramer an, die jetzt in der Wohnung der Eltern wohnt, und kein Mitleid mit Beckmanns toten Nazi-Eltern aufzubringen vermag. Bei Thalheimer wird die Szene 1:1 wie bei Borchert gespielt und Bettina Hoppe verleiht ihrer Frau Kramer eine gehörige Portion kleinbürgerlicher Biestigkeit. Spätestens jetzt aber müsste sich der Abend zu der Tatsache verhalten, dass in den Massengräbern des Zweiten Weltkrieges nicht nur tote deutsche Soldaten liegen. Tut er aber nicht. Weshalb dieser Beckmann hier kein Gespenst des Krieges sondern bloß das Gespenst eines nicht denkenden Regietheaters und seines Wirkungsdrangs ist. 

 

Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nele Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Kathrin Wehlisch, Jonathan Kempf, Peter Luppa, Josefin Platt, Philine Schmölzer, Oliver Kraushaar, Veit Schubert, Tilo Nest, Bettina Hoppe.
Premiere am 25. März 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"In Thalheimers Tragödien-Theater herrschen archaische Gewaltverhältnisse. Den Versprechen von Zivilisation, Frieden und Aufklärung traut es nur sehr bedingt", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.3.2022). Klugerweise verzichte Thalheimer auf Tränendrüsen-Effekte und Zeitkolorit, seien es dekorative Hakenkreuze, seien es Verweise auf den gegenwärtigen Krieg. Stattdessen errichte er unter einem Himmel bunter Lichter ein Vaudeville aus der Hölle. "Kathrin Wehlisch gibt als Kriegsheimkehrer Beckmann der Aufführung Würde, Kraft und Wahrheit, wenn sie als einziger Mensch unter lauter Geisterbahn-Zombies durch diesen Albtraum irrt. Und am Ende darauf in der einzig möglichen Weise antwortet: mit einem stummen Schrei."

"Borcherts Sätze klingen oft hohl, ihr Zynismus wirkt verbraucht", schreibt Simon Strauß in der FAZ (28.3.2022). "Was das Stück an Schwächen in sich trägt, verstärkt Thalheimers Inszenierung noch." Anstatt der jungdramaturgischen Nervosität mit einer entschiedenen Setzung zu begegnen, lasse der sonst so auf Disziplin bedachte Regisseur sein Ensemble einfach machen. "Überdreht, überzeichnet wirken hier Spiel und Sprache"  Ihre Ideenlosigkeit kompensiere die Inszenierung mit Orgelmusik, hallenden Echos und hunderten Glühbirnen. Fazit: "So erzeugt die Inszenierung keinerlei Bindungskraft. Wie leere Hülsen fallen die Worte dem Publikum vor die Füße."

Michael Thalheimer und sein Ensemble wollen dem Text universelle Gültigkeit abringen: die Brutalität des Krieges, die Traumatisierung der Opfer (und auch der Täter – Beckmann ist ja als deutscher Soldat des Zweiten Weltkriegs beides), das Ignorieren von Schuld und das Abwälzen von Verantwortung," schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (27.3.2022) Insbesondere Kathrin Wehlisch bringe in einer "bemerkenswerten Energieleistung" sämtliche Tonlagen "zwischen schriller Anklage und stiller Verbitterung, stummem Entsetzen und lautem Schrei zur Geltung." Weil Thalheimer jedoch prinzipiell nicht mit szenischen Aktualisierungen und Gegenwartsbezügen arbeite, "sondern sich, im Gegenteil, gerade für das Zeitlose und Allgemeingültige an Texten interessiert, ist aber das, was jetzt tatsächlich draußen vor der Tür bleibt, fatalerweise vor allem die tagesaktuelle Realität: die fünfte Kriegswoche in der Ukraine."

Der Regisseur Michael Thalheimer stelle seine Kunst über Wirklichkeit und Gegenwart, analysiert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.3.2022). "Die Wucht seiner Theatersprache schmettert erst nieder und nutzt sich dann ab", schreibt der Rezensent. So sei es auch an diesem Abend zu erleben, vielleicht noch deutlicher als sonst, "weil das Stück auf der Stelle tritt und von Anbeginn lebensmüde Resignation in Abschieds- und Schlussworten aufeinanderstapelt". Die "betonte Künstlichkeit der elegischen Thalheimer-Welt" habe keine Tür, durch die die Wirklichkeit eintreten könne, resümiert Seidler den Abend.

Von großer Schauspielkunst und Intensität, die sich über den ganzen Abend hält, spricht Felix Müller in der Berliner Morgenpost (26.3. 3.2022). Speziell Olaf Altmanns "Wunder" von Bühnenbild sei "der suggestive Rahmen für ein Stück, das durch einen fast wahnwitzigen Zufall gerade jetzt auf dem Spielplan erscheint, wo Beckmanns Alpträume in der Ukraine täglich reproduziert werden." Borcherts Drama mitsamt seinem harten Rhythmus liest sich für diesen Kritiker "wie ein Gegenwartskommentar, und Thalheimer musste, auch wenn es die Gelegenheit dafür gab, gar nichts umplanen, keine Bezüge herausarbeiten. Der Lampenhimmel muss nicht in Blaugelb erstrahlen, um Wladimir Putins Angriffskrieg in die Köpfe zu holen. Der ist dort sowieso, und aus dem Text spricht er mit jedem Wort."

 

Kommentare  
Draußen vor der Tür, BE: sportliche Leistung
Am Ende war es eben doch nur eine Nummernrevue, eine sportliche Leistung einer omnipräsenten Hauptdarstellerin, ein bisschen Theater halt, und Darsteller, die sich gerne tönen hören. Und das ja auch gut machen. Aber, wozu ein Stück von vorgestern mit etwas Regietheater von gestern, wenn die Aktualität einfach mal eben Jahrzehnte weiter ist?
Draußen vor der Tür, Berlin: Wo ist das Draußen?
Ich habe mich wirklich auf diese Premiere gefreut! Nachdem ich 75 Minuten angebrüllt wurde, bin ich gegangen, ja geflüchtet. Das war eine Inszenierung im Stil Casdorf: viel tam tam - keine Tiefe. Keine Einfühlung in das Stück. Ein düsteres Stück; was soll die Kirmes Beleuchtung? Nur Gebrüll und Wirkung. Beckmann ertrank nicht in der Elbe in diesem Stück, weil es an TIEFE fehlte. Schade

Hier das Originalhörspiel von 1948 zum Vergleich:

https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Draussen-vor-der-Tuer-Hoerspiel-vor-75-Jahren-erstmals-im-Radio,wolfgangborchert101.html
Draußen vor der Tür, Berlin: Ein ärgerlicher Abend
Ein ärgerlicher Abend, (...) Diese abgekupferten und deplazierten Glühbirnen, die unentschiedenen bis banalen Kostüme, das andauernde Schreien einer lieblosen und viel zu langatmigen Fassung, die einfallslosen Auftritte und Szenen: Wenigstens das hätte man hinbekommen müssen, wenn man (wie dankenswerterweise schon treffend beschrieben) sich schon die inhaltliche Auseinandersetzung einfach spart, was bei diesem Stück (und der Rezeptionsgeschichte, die es mittlerweile durchgemacht hat) eigentlich nicht mehr allen Ernstes geschehen kann.
Draußen vor der Tür, Berlin: Soundtrack
Also wenn man schon einen Soundtrack mit nur 5 Tönen macht, die könnte man sich dann doch wenigstens selbst ausdenken.
Draußen vor der Tür, Berlin: Großartig
Ich fand's ganz großartig. Vor allem das Spiel der Kathrin Wehlisch hat mich zutiefst berührt.
Ihr Entsetzen über das, was die Figur der Frau Kramer ihr berichtet, war für mich eine eindeutige Markierung dessen, was hier inhaltlich transportiert wurde. Den Schmerz, die Fassungslosigkeit aufgrund der Erkenntnis, dass auch die eigenen Eltern menschenverachtende Täter waren, die sich dann feige der Verantwortung entzogen haben, das hat Kathrin Wehlisch meiner Meinung nach überzeugend verdeutlicht.

Insgesamt ein ernsthaftes Schauspieler*innen-Theater.

Wünschen würde ich mir, dass hier in der Kritikerrundschau auch die positiven Besprechungen abgedruckt werden könnten.
Draußen vor der Tür, Berlin: Apokalyptisch
"Michael Thalheimer zeigt Dingens als apokalyptischen Figurenreigen" ist der Teaser auf Social Media für diese Kritik. Wow, Thalheimer, der alte Hedonist, zeigt auf einmal apokalyptische Figuren! Ein Coup! Auch Social Media textet manchmal wie von vorgestern. Oder liegt es an der Regie, die immer zu den gleichen verblüffenden Ergebnissen kommt? Leute, please, tell it like it is.
Draußen vor der Tür, Berlin: Aber die Deutschen
Vielen Dank für Ihre Kritik, die mehr von einer Aufführung heute verlangt und mehr sieht, als ästhetische Lösungen.
Der 26jährige Borchert schreibt aus seiner verletzten, erschrockenen Perspektive kurz nach dem Krieg.
Dass aber eine Aufführung heute die Augen nicht weiter öffnet und sich in die selbstmitleidigen deutschen Perspektive erschöpft, ohne über die Shoah
zu weinen und all die Opfer dieses deutschen Wahnsinns, ist für mich nicht zu fassen.
Aber die Deutschen sind ja nur zu gern die selbstergriffenen, gefühlsduseligen Hauptleidtragenden.
Draußen vor der Tür, Berlin: Zum Trotz
Allen zum Trotz!!! Es war für mich der großartigste Theaterabend des Jahres!!! Mehr habe ich nicht zu sagen.
Draußen vor der Tür, Berlin: Romantisch angeglotzt
Für mich bleibt ein Rätsel, was das wildromantische Horváth-hafte Bühnenbild soll. Darin könnten die Geschichten aus dem Wienerwald über die Bretter gehen aber doch nicht dieses zentrale Stück über deutsche Schuld und Verdrängung, für die "Draußen vor der Tür" sozusagen Quelle und Dokument in einem ist. Das ist aus meiner Sicht ein schwerer Denkfehler. Da gibt's den berühmten Brechtsatz: "Glotzt nicht so romantisch!" Und jetzt glotzt mich ausgerechnet in DIESEM Theater bei DIESEM Stück das Bühnenbild romantisch an?
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