Junkies mit Heißklebepistolen

2. April 2022. "Ich habe gerne Sachen ausprobiert", sagt Sabine. Johannes funktionierte noch lange in seinem Job. Bis er zusammen mit den Drogen nicht mehr funktionierte. Philipp Löhle inszeniert eine Geschichte des Suchtkonsums, verwoben mit Lebensgeschichten und -wirklichkeiten jenseits der Klischees. 

Von Jan Fischer

„Der Hund muss raus“ von Philipp Löhle am Deutschen Theater Göttingen © Thomas Müller

2. April 2022. Drogen machen Spaß. Zumindest, und das ist die Krux an der Sache, solange, bis sie keinen Spaß mehr machen. Und dann ist es schwer, sie sein zu lassen. Vorausgesetzt, man lebt so lange. "Mit Drogen 30 werden, das ist schon was", heißt es in "Der Hund muss raus", das Philipp Löhle am Staatstheater Göttingen inszeniert hat. Und: "Der größte Wunsch ist der kontrollierte Konsum. Aber den gibt es nicht." Für das Stück hat Löhle vier Menschen mit Drogenbiographien befragt, die zusammen in einer Art Entzugs-WG in Göttingen leben und versuchen, davon loszukommen.

"...hatte nie so die Identität eines Junkies"

Die Biographien der vier – Sabine, Stefan, Johannes und Andreas – lässt er von seinem Ensemble erzählen. Die (krankheitsbedingt bei der Premiere drei statt vier) Menschen auf der Bühne stehen dabei vor einer gigantischen Wand, an die eine golden schimmernde Kronkorkenlandschaft geklebt ist, die sie auch während der Inszenierung noch fleißig mit Heißklebepistolen aus einem unerschöpflichen Kronkorkenvorrat erweitern.

Die drei auf der Bühne – Paul Trempnau, Christoph Türkay und Jenny Weichert - übernehmen dabei aber nicht die Rollen der vier Suchtkranken, sie spielen nicht nach, sondern sie erzählen nach. "Sabine sagt", "Stefan sagt", so werden ihre Geschichten eingeleitet. Es werden nur Erzählhaltungen gespielt – aber nicht Erzähler:innen. Es geht nicht darum, die Biographien auszustellen, sondern eben: Sie nachzuvollziehen. Sabine ist gleich mit Heroin eingestiegen: "Ich habe gerne Sachen ausprobiert", sagt sie. Bei Johannes ging alles lange gut – er funktionierte in seinem Job in Zürich und "hatte nie so die Identität eines Junkies". Ausprobieren, funktionieren: Das geht nicht ewig gut. Und irgendwann verschwinden die vier in kaum sichtbaren Löchern in der Kronkorkenwand, die in Lichteffekten glänzt und zu schmelzen beginnt, während "Heroin" von Velvet Underground läuft.

DerHundmussraus 1 ThomasMueller uBiographien vor der Kronkorkenwand: Christoph Türkay, Jenny Weichert, Paul Trempnau © Thomas Müller

Diese persönlichen Geschichten konterkariert die Inszenierung immer wieder mit einer – sehr, sehr kurz – angerissenen Geschichte der Drogen, vom Opium in der Jungsteinzeit über die Opiumkriege bis zum Onlinehändler Shiny Flakes, auf dessen Leben die Netflix-Serie How to sell drugs online (fast) lose basiert. In diesen Zwischenspielen wird immer wieder klar: Drogen sind ein großes Geschäft, in dem Kriege und Drogentote nur kleine Hindernisse auf dem Weg zu traumhaften Gewinnen sind. "Wir haben ein Produkt“, sagt ein Vertreter des britischen Empire, das sich anschickt, möglichst ganz China abhängig zu machen, "das der Konsument auch kauft, wenn er es gar nicht haben will."

Ohne Knalleffekte

Löhle gelingt in "Der Hund muss raus" eine einfühlsame Suchtgeschichte, die sich dicht an der Lebenswirklichkeit bewegt – der des Publikums und der der Portraitierten, die nie versucht, auf den ganz großen Knalleffekt zu zielen und mit einem simpel-fantastischen Kronkorkenkunstwerk von Bühnenbild beeindruckt. Nur die kurzen Kontextpassagen zur Geschichte der Drogen geraten etwas oberflächlich dafür, dass hier der ganz große Geopolitikhammer geschwunden werden soll. Zwar sicherlich nicht ungerechtfertigt – dennoch: Die Opiumkriege in einem 7-minütigen Einschub zu erklären, ist doch etwas zu sportlich gedacht.

DerHundmussraus 3 ThomasMueller uEinmal falsch abgebogen: Jenny Weichert, Paul Trempnau, Christoph Türkay © Thomas Müller

Aber davon sind die vier, um die es gehen soll sowieso nicht beeindruckt. Dass die Inszenierung mit ihrer recht oberflächlichen Geschichtsstunde und den vier Biographien nicht in Drogenbaron-und-Junkie-Kitsch abgleitet, liegt an den Lebensgeschichten, die erzählt werden. Denn es sind keine Drogenbiographien nach Schema Christiane F., mit großen Dramen und tiefen Abstürzen in irgendeiner weit entfernten Parallelwelt. Die vier sind Altenpfleger, Mutter, Schüler, stehen mitten im Job, und biegen dann, nur ganz kurz, an einer Stelle falsch ab. Trinken ein paarmal zu oft ein paar Bier am Abend. Sind einmal zu oft neugierig. Wollen einmal zu oft feiern.

Dicht an der eigenen Realität

Die Biographien der vier sind dicht an der eigenen, an bekannten Biographien – und gleichzeitig keine altbekannten, oft gehörten Drogengeschichten, die mit dem Tod auf dem Straßenstrich enden. Selbstverständlich: Freunde der vier sterben, Bekannte sterben, der Tod ist allgegenwärtig. Aber die vier sind noch da, in ihrer Entzugs-WG mit dem Hund, der jeden Tag raus muss und ihnen damit Struktur gibt. "Der Hund muss raus", sagen am Ende alle gemeinsam. "Das ist das wichtigste."

 

Der Hund muss raus
von Philipp Löhle
Regie: Philipp Löhle, Bühne und Kostüme: Thoma Rump, Ton und Video: Lukas Goldbach.
Mit: Paul Trempnau, Christoph Türkay, Jenny Weichert, Gerd Zinck
Premiere am 1. April 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.dt-goettingen.de

Kritikenrundschau

Ein "ausgesprochen ernsthaftes Stück" hat Michael Schäfer im Göttinger Tageblatt (4.4.2022) gesehen, obwohl man "manchmal an die Sendung mit der Maus" denken müsse. Vermittelt bekomme man "Einblicke in den Mechanismus, wie Jugendliche, angestiftet von schlechten Vorbildern und beruhigt von dem anfänglichen Bewusstsein, man könne ja jederzeit wieder aufhören, in den Teufelskreis der Abhängigkeit geraten". Lobend erwähnt der Rezensent die Schauspieler*innen: "Da ist nichts aufgesagt, sondern es sprechen wirkliche Menschen." Das sei im Ergebnis "keine Minute langweilig".

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