Die Blase im Sand

3. April 2022. Die Uraufführung einer Neuüberschreibung des "Lalenbuches", einem alten Volksbuch, sollte bereits vor einem Jahr stattfinden aber Corona kam dazwischen. Jetzt verhandelt der Abend mit "höherer Idiotie" die Abkapseltendenzen der Neuen Rechten – und versandet dabei.

Von Julia Nehmiz

"Das Ende von Schilda" in der Regie von Annina Dullin-Witschi an den Bühnen Bern © Annette Boutellier

3. April 2022. Mitten in der Wüste eine Utopie. Ein Sprungturm ragt aus dem Sand, das verwitterte Haus ist halb im Sand versunken, keine Türen, keine Fenster mehr, eine Wimpelkette hängt schlapp von der Dachkante in den Sand. Dieser Un-Ort ist einem versprengten Häuflein Heimat. Hier haben sie sich eingerichtet: im Nirgendwo, im Sand. Feiern Partys, als wäre ihr Leben ein einziges Festival. Nur die Mäuseplage stört. Dann kommt eine Fremde dazu. Und die Zerstörung beginnt.

Ein Leben in der Blase

Aber hat der Verfall nicht schon vorher angefangen? War die kleine zurückgezogene Gemeinschaft nicht eh schon kaputt? Die Bühnen Bern nehmen das "Lalenbuch" von 1597 als Folie für eine Neuüberschreibung. Dem Autorenduo Ariane von Graffenried und Martin Bieri geht es nicht um die Schildbürgerstreiche. Es geht ihnen um die Konsequenzen, die ein zurückgezogenes Leben in der eigenen Blase, im eigenen (rechten) Weltbild, mit sich bringt. Der Stücktitel macht es deutlich: "Das Ende von Schilda".

Die Uraufführung in der Regie von Annina Dullin-Witschi hätte vor einem Jahr stattfinden sollen, Corona verhinderte das. Roger Vontobel, seit dieser Spielzeit Schauspieldirektor an den Bühnen Bern, übernahm die fertig geprobte Produktion des Vorgängerteams.

Schilda, das ist in den alten Erzählungen der Ort, wo die Schildbürger lauter Dummheiten anstellen. Sie sind klug, gaukeln aber Blödheit vor, um in Frieden leben zu können und nicht als Berater an Königshöfen arbeiten zu müssen. Die vorgetäuschte Dummheit geht ihnen mit der Zeit in Fleisch und Blut über. Schließlich zerstören sie dadurch ihren Ort und wandern in alle Welt aus.

Moderne Adaption

In Bern wird das ins Heute übertragen. Die Schildbürger sind ehemalige Broker:innen, Heads of Marketing Consulting oder Architekturkritiker:innen. Die eine kam aus Heimatliebe nach Schilda, die andere suchte einen Ort, um ihren Sohn aufzuziehen, der nächste fand hier das gute, einfache Leben. In die Idylle stößt die junge, naive Dichterin, die als Erzählerin fungiert. Sie ist auf der Suche nach ihren Wurzeln – ihre Eltern lebten einst dort. Und mit der Fremden in der Gemeinschaft beginnt die Zerstörung.

Von Graffenried und Bieri packen viel hinein in den Stoff. Ihre Schildbürger versteigen sich in Blut-und-Boden-Heimat-Tümelei. Die Dummheit, die sie vortäuschen, wird zur brutalen Doktrin, die sich gegen die eigenen Mitglieder wendet, sobald diese abweichen. Niemand kann entkommen, auch nicht die Jungen. Die Hellseherin und der Faxenmacher, Kinder der Bewohner, träumen in Dada-Fantasiesprache vom Abhauen. Annina Dullin-Witschi lässt sie auf die Werbetafel klettern, sehnsuchtsvoll in die Wüstennacht schauen.

Bern 30.3.2022 -  AMA zu DAS ENDE VON SCHILDA von Ariane von Grafenried und Martin Bieri © Annette BoutellierRegie: Aninna DullinBühne: Konstatina DachevaKostüme: Miriam CasanovaMusik: Marcel GschwendDramaturgie: Adrian Flückiger, Felicitas ZürcherDarsteller*innen:David Bern, Olivier Günter, Jonathan Loosli, Grazia Pergoletti, Lea Maline Hiller, Marie Popall, Anna Katharina Müller, Matthias KurmannAlle gemeinsam in Schilda – bis jemand abweicht © Annette Boutellier

Konstantina Dechava hat einen Bühnenraum entworfen, der die Träume von einem Aussteigerleben als gescheitert zeigt. Ihr Schilda ist ein ehemaliges Hotel, wie die übriggebliebenen Buchstaben am Werbegestänge verkünden, von der Wüste halb verschluckt. Mehr Albtraum als Traum. Und auch das heitere Aussteiger-Leben wandelt sich: aus Utopie wird Dystopie. Dieser Kippmoment ist stark: Der Faxenmacher, der "wirkliche" Idiot im Dorf, hat – ganz Narr – dem Kaiser die Wahrheit über Schilda verraten. Die anderen sperren ihn ein, foltern ihn. Sogar seine Mutter sagt, er habe das verdient.

"Das Ende von Schilda" will entlarven, wie die Zurückgezogenheit in eine eigene Lebensrealität zu Gewalt und Krieg führt. Motive der Neuen Rechten klingen an, der Querdenker:innen und Verschwörungstheoretiker:innen aller Art. "Wahrheiten müssen nicht geteilt werden, sondern gefühlt," sagt der Troll, der angeblich das Internet nach Schilda gebracht hat, das aber sonst weiter keine Rolle spielt. "Das Dümmste, das Schilda tun konnte, war, das Dümmste, was es je getan hatte, noch einmal zu tun", sagt die Dichterin. Sie wird später dafür sorgen, dass sich das Dümmste wiederholt, so dass die Schildbürger wegen einer Katze ihr Dorf wieder in Brand setzen.

Versandete Aussage

Doch die wirkliche Gefährlichkeit, die solche radikalisierten Gruppierungen verbreiten, die Anziehungskraft, die sie ausstrahlen – das versandet. Weder Text noch Regie finden eine ausdrucksstarke Zuspitzung. Slapstickhaft die Blödheit der Schildbürger, harmlos ihr Auftreten, spröde viele Dialoge. Und: Neue Rechte (die explizit im Programmheft erwähnt werden) oder andere radikalisierte Gruppen, die sich von der Gesellschaft abgewandt haben, sind nicht so einfältig. In Schilda versenken sie ungewollt das Symbol ihrer Gemeinschaft. Kurz darauf zünden sie wieder ihre eigenen Häuser an. Die Toten liegen auf dem Dach, die Dichterin reist ab: Mission erfüllt. Gewalt mit Gewalt auslöschen? Im Theater kein Problem. Doch so einfach ist es eben nicht.

 

Das Ende von Schilda
Von Ariane von Graffenried und Martin Bieri
Regie: Annina Dullin-Witschi, Bühne: Konstantina Dacheva, Kostüme: Myriam Casanova, Musik: Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, Licht: Hanspeter Liechti, Dramaturgie: Adrian Flückiger / Felicitas Zürcher.
Mit: Marie Popall, Jonathan Loosli, Anna-Katharina Müller, Lea Maline Hiller, Grazia Pergoletti, Matthias Kurmann, Olivier Günther, David Berger.
Uraufführung am 2. April 2022
Dauer: 1h 35 Minuten, keine Pause

https://buehnenbern.ch/

 

Kritikenrundschau 

"Statt nachgedacht wird gesungen, getanzt, werden sinnbefreite Reden geschwungen und das Ungeschick zelebriert", schreibt Michael Feller in Der Bund (4.4.2022). Die Figuren wirkten "vertraut" und tatsächlich gäbe es viel zu lachen angesichts der "trotteligen Slapstickeinlagen und (...) herrlich absurden Dialoge" in diesen "105 kurzweiligen Theaterminuten". Allerdings gibt der Rezensent zu bedenken: "Erfreuen wir uns da Witzen, die gegen unten treten, gegen die Aussteigerinnen und Aussteiger, die mit der Welt, wie sie ist, überfordert sind und sich nach einem einfachen Leben sehnen und sich deswegen abschotten?" 

"Das Autorenduo kann sich nicht entscheiden, was es von diesen Figuren will, und zu einer Haltung gegenüber dem Stoff durchringen“, kritisiert Andreas Klaeui auf SRF2 Kultur (4.4.2022). Viele Fäden lägen aus, aber an keinem werde gezogen. "Das bedeutet auf einer zweiten Ebene auch, dass es keine Entwicklung gibt. Figuren, Situationen, alles bleibt von Anfang an gleich bis zum Schluss - nichts könnte undramatischer sein."