Geschlecht und Erbschaft

15. April 2022. In "Gabriel" thematisierte die französische Schriftstellerin George Sand bereits 1839 Genderfragen. In Karlsruhe hat jetzt Sláva Daubnerová den Dialog-Roman in einem Glaskasten inszeniert.

Von Thomas Rothschild

Sláva Daubnerová inszeniert "Gabriel" in Karlsruhe © Felix Grünschloß

15. April 2022. Vor der Pause entdeckt der junge Graf Astolphe (Andrej Agranovski), dass Gabriel (Swana Rode), den er für einen Mann gehalten hat, eine Frau ist. "Gabriel, du bist eine Frau! Oh mein Gott! – Keine Angst, fürchte dich nicht! Von nun an werde ich nicht mehr ohne deine Erlaubnis durch diese Tür gehen. (Fällt auf die Knie.) Oh Herrgott, ich danke dir!" Das geht so weit, wie man zur Zeit der Entstehung des Textes gehen konnte. Dass Verkleidung und Verstellung das wahre Geschlecht verheimlichen, war noch möglich. (Ein schöner Einfall: ein aus dem Schnürboden herabgesenkter breitkrempiger Hut verwandelt Gabriel – für andere – in eine Frau.) Dass sich ein Mann in einen Mann verliebt, ohne dass der sich als Frau entpuppt, wäre noch lange danach ein Skandal gewesen.
Gabriel, biologisch ein Mädchen, ist als Junge aufgezogen worden, um ihr oder ihm das Erbe zu sichern, das nur einem männlichen Nachkommen zustand. Gabriel weiß selbst nichts von seinem/ihrem Geschlecht, und als er/sie die Wahrheit entdeckt, kommt es zu allerlei Komplikationen, nicht nur mit Astolphe.

Ein Vorläufer von Virginia Woolfs "Orlando"

Briefromane bieten sich bevorzugt für die Bühne an. Die Bearbeiter müssen lediglich einen Vorwand dafür finden, dass die Korrespondenten direkt anstatt schriftlich und verzögert mit einander kommunizieren. Sie haben, anders als die Erzähler von Ich-Romanen, ein vorformuliertes Gegenüber, und es gibt keine Instanz, für deren Umsetzung oder Verschwinden man, wie bei der Adaption auktorialer Erzählungen, eine bühnengerechte Lösung finden müsste.

"Gabriel" von 1839 geht einen Schritt weiter. Seine Autorin wählt die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung "Dialogroman" und führt vorneweg "Handelnde Personen" an. Die Repliken erfolgen, anders als im Briefroman, Schlag auf Schlag. Der Roman ist also für das Theater prädestiniert. Er ist allerdings heute noch weniger bekannt als seine zu Lebzeiten weit über ihre französische Heimat hinaus berühmte, wenn auch umstrittene Autorin. Von George Sand weiß man wohl, wenn überhaupt etwas, dass sie die Geliebte von (unter anderem) Frédéric Chopin war. In den vergangenen Jahren erlebte sie eine späte Wiederentdeckung als Vorkämpferin für die weibliche Emanzipation und als Galionsfigur des aristokratischen Feminismus.

Gabriel Felix Gruenschloss uMann? Frau? Erb*in! Swana Rode als Gabriel(le) © Felix Grünschloß

Der androgyne Protagonist bzw. die androgyne Protagonistin und das damit benannte Thema der Geschlechterambivalenz machen "Gabriel" zu einem Vorläufer von Virginia Woolfs "Orlando" und zu einem Fundstück für virulente gesellschaftliche Debatten. Der Text passt wie bestellt zur Programmatik des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, und hier fand auch die jüngste Inszenierung nach der deutschen Erstaufführung vor einem halben Jahr in Saarbrücken statt, in der Übersetzung von Yasmine Salimi.

Wichtiger als die Identität ist hier die Erbfolge

Wie "Orlando", bewegt sich "Gabriel" vorwiegend im gepflegten Milieu, zu dem die ehemalige Kurtisane Faustina (Ute Baggeröhr) kontrastiert. Daran hält sich auch die Inszenierung. Die Infragestellung der Zuschreibung von Geschlechterrollen ist den besseren – zu George Sands Zeiten: adeligen, heute: bürgerlichen – Kreisen vorbehalten. Ihnen entsprechen Sprache und Umgangsformen des in der italienischen Renaissance, irgendwo in der Nähe von Shakespeares "Was ihr wollt", angesiedelten Personals, das Gabriel umgibt.

Das Motiv des verheimlichten Geschlechts ist bei George Sand wie in so vielen literarischen Werken der vergangenen Jahrhunderte verknüpft mit den Motiven der Erbfolge. Es geht weniger um Identität, als um Geld und Besitz. Jedenfalls in der äußeren Handlung. In den Dialogen reflektiert Gabriel durchaus über seine sexuelle Zugehörigkeit, also darüber, wer er oder sie eigentlich ist.

Eifersucht und Standesdünkel

Die Renaissance hat für die Regie der Slowakin Sláva Daubnerová keine zwingende Verbindlichkeit. Weder die Musik, noch Bühne und Kostüme halten sich über marginale Andeutungen hinaus daran. Agiert wird in und vor einem großen, die Spielfläche ausfüllenden Glaskäfig, in dem man Statuen und Möbel sowie Kostüme aus verschiedenen Epochen sieht. Vor der Rampe liegen Fragmente antiker Architektur: die Trümmer der Geschichte. Im Zentrum steht Swana Rode als Gabriel. Sie ergänzt den umfangreichen Sprechpart mit an Akrobatik grenzendem Tanz und demonstriert imposant ihre Fähigkeit zum Radschlagen.

Gabriel3 Felix Gruenschloss uUte Baggeröhr (Settimia / Faustina), Andrej Agranovski (Graf Astolphe) © Felix Grünschloß

Außer ihr und Andrej Agranovski spielen alle Beteiligten mehrere von den um gut ein Drittel zusammengestrichenen Rollen. Die psychologische Modernität des Textes zeigt sich, jenseits der Geschlechterproblematik (von "nichtbinär" ist bei George Sand naturgemäß noch nicht die Rede), besonders eindrucksvoll in einer Replik von Astolphes Mutter Settimia (Ute Baggeröhr), in der sie ihre Eifersucht auf Gabriel/Gabrielle und ihre Standesdünkel offenbart.

Am Ende haben die Männer das Wort

Und klingt es nicht wie aus einem Manifest unserer Gegenwart, wenn Gabriel kurz vor dem Ende des Rivalen Antonio (André Wagner) sagt, er hätte die Absicht gehabt, "sich eine glanzvolle Stellung in der Gesellschaft zurückzuerobern, einen großen Titel, politische Rechte, in einem Wort: Macht, all das, was Männer noch neidischer macht als Geld".

Ganz am Schluss spricht Gabriel anstelle seines von George Sand vorgesehenen Selbstmords ein Gedicht von Heiner Müller, das Bezug nimmt auf Paul Klees "Angelus Novus". Heiner Müller? Paul Klee? Walter Benjamin? Ist es nicht ein Paradox, dass bei einem Stück über die Schwierigkeiten einer Frau, sich in der patriarchalischen Gesellschaft durchzusetzen, eine Frau, die Autorin, durch drei Männer verdrängt wird? Hätte man nicht ihre Absicht respektieren können? Auch nach 180 Jahren? Ich mein ja nur...

Gabriel
von George Sand
Deutsch von Yasmine Salimi
Regie: Sláva Daubnerová, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Natalia Kitamikado, Musik: Felix Kusser, Choreographie: Milan Tomášik, Kampfchoreographie: Annette Bauer, Licht: Christoph Pöschko, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Gunnar Schmidt, Swana Rode, Jens Koch, Andrej Agranovski, André Wagner, Ute Baggeröhr.
Premiere am 14. April 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

"Das Kunststück von Daubnerovás Inszenierung liegt darin, die ernsten Themen des Textes unterhaltsam zu verpacken. So lässt sie das literarisch knir- schende Konstrukt, dass der Schwindel der Erbschaftsintrige 17 Jahre lang geheim bleibt, schön schmierenkomödiantisch ausspielen", so Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (16.4.2022). "Getragen wird die Aufführung durch die überzeugende Chemie zwischen Swana Rode als Gabriel(le) und Andrej Aganowski als Astolphe, deren Liebesgeschichte man vom herzflimmernden Anfang bis zum todtraurigen Ende gebannt folgt."

"Swana Rode als Gabriel wartet mit Pathos auf. Daneben macht sie die Zerrissenheit der Rolle im Spektrum von sensibler Zartheit, derber Härte und tiefer Empörung glaubwürdig", so Rüdiger Krohn von Die Rheinpfalz (20.4.2022). "Leider ist die schlüssige Studie mit zahlreichen choreografischen Bildern (von Milan Tomášik) unterlegt, in denen sie sportive Körperkunst zwischen Tanz und Turnen zeigt. Der Fluss der Handlung gerät darüber ins Stocken, und die gut dreistündige Aufführung bekommt entbehrliche Längen.“ Zum Ausgleich für die lyrischen Interludien lasse die Regie mit physischem Getöse agieren, bei dem viel gerannt und geschrien werde.

Kommentare  
Gabriel, Karlsruhe: Rad schlagen
Jetzt weiß ich etwas über literatuthistorische Hintergründe zur Textvorlage, aber leider noch nicht viel mehr zur Inszenierung - außer dass Swana Rode scheinbar auch Rad schlagen kann
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