Politische Schmerzpunkte

23. April 2022. Der erste Theaterblockbuster, der die Geschichte aus der Perspektive ihres Umgangs mit Homosexualität betrachtete, war Tony Kushners "Angels in America" in den 1990ern Jahren. Nun hat der US-Dramatiker Matthew Lopez mit der emotionalen wie politisch scharf gedachten Achterbahnfahrt "Das Vermächtnis" nachgelegt. 

Von Michael Laages

 

"Das Vermächtnis" am Schauspiel Hannover © Kerstin Schomburg

22. April 2022. Alle zehn Jahre etwa ist das wohl so – die alte europäische Theaterwelt hockt wie erstarrt vor einem Ereignis, das aus den Vereinigten Staaten von Amerika herüber geweht, ach was: gestürmt kommt und überall Staunen, Verblüffung und völlige Ratlosigkeit hervor ruft. Wie kann so etwas gerade dort entstehen, wo eigentlich nur der Broadway zählt: ein grandios konstruiertes und mit unzähligen Versatzstücken der Theatertradition, mit Emotion, Intensität und tiefer Erkenntnis jonglierendes Gesellschafts-, Sitten- und Weltuntergangsszenario?

So war es 2008 bei "August: Osage County", zu Deutsch "Eine Familie", von Tracey Letts. So ist es jetzt mit "Das Vermächtnis" von Matthew Lopez, diesem Fünf-Stunden-Monstrum eines Theaterstücks, das wieder kaum jemanden unbewegt lässt und durchaus zu Tränen rühren kann – ja, das ist möglich in den USA; und im so immens viel reicheren Theaterland Germany weiß eigentlich niemand, wie das geht. Über Stärken und Schwächen des Dramas, das der 1977 im US-Bundesstaat Florida geborene und auch für die Film- und Fernseh-Industrie arbeitende Autor Lopez geschrieben hat, wurden alle wichtigen Details ausgebreitet nach der deutschsprachigen Erstaufführung Ende Januar in München, der Erfolg war überwältigend.

Anatomisches Theater

Am hannoverschen Schauspielhaus ist das nun nicht anders – "standing ovations" vom ersten Beifall an, nachdem dreimal etwa 90 Minuten zuzüglich zweier Pausen, mithin also knapp fünfeinhalb Stunden vergangen sind. Ronny Jakubaschk, als Regisseur Mitglied der Theaterleitung am Neuen Theater in Halle, hat ziemlich viel ziemlich anders gestaltet als zuvor Philipp Stölzl in München – dass beide Aufführungen derart fundamental abheben, wird also wohl wirklich am Stück liegen.

Vor allem – und das ist das Wichtigste – hat Jakubaschk jede Form von Dekor gemieden. Der Raum von Alexandre Corrazzola ist im Grunde leer. Vorne, unter dem Portal, liegt leicht schräg eine Scheibe über der Bühne, unter der Decke schwebt eine zweite, die für Projektionen von Video-Sequenzen genutzt wird, die von Marina Stefan stammen und oft auf größerer Fläche ganz hinten im Raum gedoppelt werden. Im Halbrund hinter der Scheibe am Boden steht eine Art "anatomisches Theater" – Tribünen wie für Studierende in der medizinischen Fakultät, für die in solchen Räumen Körper aufgeschnitten und Seelen zerlegt werden.

vermächtnis 3 C kerstin schomburgGoldener Anatomiesaal, Liebe unterm Sezierblick: die Bühne von Alexandre Corazzola  © Kerstin Schomburg

Und genau das tut das Stück – menschliches Leben treibt es bis in die extreme, schmerzliche Auflösung. Dass die Menschen, um die es da geht, durchweg homosexuell sind, ist zwar immens wichtig – die Schmerzpunkte allerdings, an die das Stück die Wahrnehmung grundsätzlich treibt, gehen weit über das Schwulen-Melodram hinaus. Zwar stört es ein wenig, dass die nicht-homosexuelle Welt in diesem Marathon nur rudimentär und nur für Minuten vorkommt; aber letztlich stört es nicht sehr.

Sprung zwischen den Zeiten

Nicht mit der großen Party (wie sie bei Lopez steht) beginnt Jakubaschk, sondern mit einer Art Theaterprobe – ein junger Mann will mit Freunden und Kollegen die eigene Geschichte erzählen. Wie wir sehr viel später erfahren, handelt die in einem Vexierbild aus Spiel im Spiel im Spiel von dem jungen Mann selbst. Einen großen Ratgeber hat er leibhaftig an der Seite – den 1970 gestorbenen englischen Schriftsteller Edward Morgan Forster, den womöglich ersten prominenten homosexuellen Autor, der aber den Roman "Maurice" (in dem er schwules Leben und schwule Liebe offen beschrieb und bejahte) zu Lebzeiten nicht veröffentlichte. Im goldenen Morgenmantel schreitet er sehr lange durchs Stück, gibt gute Ratschläge, stellt die richtigen Fragen, weiß immer, was die jungen Leute denken, aber nicht sagen (oder umgekehrt) – und wird so zum Teil einer veritablen Geisterbeschwörung. Als ihm von einem schriftstellerischen Nachgeborenen, dem jungen Toby, vorgehalten wird, dass er nie mutig genug war fürs sexuelle Bekenntnis, zieht Forster sich zurück; aber sein Geist bleibt präsent – in den Büchern.

Mit dem klugen Forster-Trick ermöglicht Lopez den Sprung zwischen den Zeiten; und auch der Fabel selber sind historische Epochen eingeschrieben: vom Beginn der HIV-Seuche, die ungezählte Opfer forderte vor allem in der schwulen Community seit den 1980er Jahren, bis zum Wahlsieg jenes Präsidenten, den Schicksale wie diese nie interessierten. Trump, so benennt es Lopez in aller Schärfe, verbreitete selber das neue Killer-Virus. Amerika hat AIDS und war (war?) mit Trump auf dem Weg in die Selbstzerstörung. Zugleich aber wird schonungslos darüber gestritten, dank welcher gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen die Bekämpfung des Virus überhaupt möglich wurde … Lopez schreibt politisch extrem geschliffene Diskurse.

Liebe und Düsternis

Sie stehen neben den vertrackten Liebesgeschichten – zwischen dem fundamental menschenfreundlichen Eric, Spross einer jüdisch grundierten Familie, und Toby, dem Jung-Schriftsteller, der die grauenhafte Kindheit stets verborgen hielt, aus ihr aber eine zutiefst verlogene Zweit-Biographie destillierte für das erste Buch, das auch zum Broadway-Stück wird. Dieser Toby ist eine extrem egomane, poly-amouröse Schreckgestalt, die in den Beziehungen prinzipiell alles falsch macht. Eric verschleißt er, den jungen Schauspieler Adam und danach den noch jüngeren Prostituierten Leo. Was Sex ist, hat er gelernt; aber niemand hat ihm beigebracht, was "lieben" heißt. In der Katharsis kurz vor Schluss rast Toby mit 150 Sachen im Auto zielstrebig an eine Wand. Er ist die funkelnd fürchterliche Figur im Stück; Eric ist das helle Gegenstück zu all dieser Düsternis.

vermächtnis 1 kerstin schomburgIm Haus der Geister: ein historisches Vexierbild, auch medial auf verschiedenen Ebenen erzählt. © Kerstin Schomburg

Parallel wird von sehr alter Liebe erzählt – Walter, der weise Philanthrop, hat dreieinhalb Jahrzehnte an der Seite des Selfmade-Milliardärs Henry zugebracht; übrigens ohne Ehe. Nie passten sie wirklich zueinander, aber die Liebe blieb. Walter gründete in der Hoch-Zeit der HIV-Seuche ein Sterbe-Hospiz für Infizierte, als er selber stirbt, hat er es Eric vermacht, diesem Bruder im Geiste. Auf Umwegen verbinden sich der von Toby verlassene Eric und Witwer Henry; sie heiraten sogar. Und wenn auch die Ehe scheitert – das Haus der Geister, voll von toten Seelen, hält sie zusammen. Dort, unter einem jahrhundertealten Kirschbaum, schenkt schließlich Leo (der es auch war, der am Beginn die Geschichte zu erzählen begann mit Edward Morgan Forsters Hilfe!) dem ewigen Helfer Eric den ersten eigenen Roman. Klar, dass er "Das Vermächtnis" heißt.

Plädoyer für Selbstbestimmtheit

Brillant sind alle diese Figuren mit- und ineinander verstrickt; und weil sich die hannoversche Inszenierung so fern hält von realen Bild-Behauptungen, ist wirklich ganz wenig zu spüren vom durchaus vorhandenen, aus Berechnung und Zufall gemixten Kitsch. Auch deshalb klingt dann das fundamentale Plädoyer in dieser Version so einfach, klar und aufrichtig: für die blanke Selbstverständlichkeit selbstbestimmten homosexuellen Lebens.

Und das Ensemble findet durchweg die richtigen Töne dafür – Wolf List und Lukas Holzhausen als altes Paar (um die 70 müssten beide sein); Fabian Dott als das helle und Nikolai Gemel als das dunkle Zentrum im Stück; Alban Mondschein und Nils Rovira-Munoz als die beiden zentralen Liebhaber, die einander (noch so ein Trick!) ähneln müssen wie ein Ei dem anderen; Jörg Kunze (der auch für die zurückhaltende Musik gesorgt hat) und Mohamed Achour in ständig wechselnden Rollen, also als "die Gesellschaft" drumherum. Sabine Orleans stößt dazu als Pflegerin im Toten- und Geisterhaus, die dort auch schon den eigenen Sohn verlor … dieses Ensemble trägt das Stück. Und das Stück lässt das Ensemble über sich hinaus wachsen.

 

Das Vermächtnis
von Matthew Lopez
Übersetzt von Hannes Becker
Regie: Ronny Jakubaschk, Bühne: Alexandre Corazzola, Kostüme: Anne Buffetrille, Video: Marina Stefan, Komposition: Jörg Kunze, Licht: Oliver Hisecke, Dramaturgie: Hannes Oppermann.
Mit: Mohamed Achour, Fabian Dott, Nikolai Gemel, Lukas Holzhausen, Jörg Kunze, Wolf List, Alban Mondschein, Nils Rovira-Munoz, Sabine Orleans.
Premiere am 22. April 2022
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen

www.schauspiel-hannover.de

Kritikenrundschau

Trotz "vieler Zumutungen" habe das Stück "einen gewissen Drive, eine gewisse Dringlichkeit und ja, auch das, eine gewisse Größe", schreibt Thomas Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (25.4.2022). Jakubaschk reihe die vielen Szenen "locker und ohne große Regieeinfallsmätzchen aneinander". Dass es am Ende stehenden Applaus gebe, liege "an der großartigen Geschichte, an dem wichtigen Thema und daran, dass alle, Darsteller und Zuschauer, die Zumutung der langen Spieldauer so gut gemeistert haben".

Das Stück weise "weit über das schwule Milieu New Yorks dieser Zeit hinaus", findet Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (25.4.2022), sei "übervoll" und doch "erstaunlich kurzweilig". Nicht immer nutze das Ensemble den Bühnenraum, mal Amphitheater-Oval, mal zerklüftete Landschaft. "Aber wenn das geschieht, entstehen große Momente." Sein Fazit: "Es lohnt sich, dem Leben der evermeintlich Anderen beizuwohnen." Ihnen zuzuhören, bedeutet kein Weniger der eigenen Privilegien, sondern ein Mehr an Geschichten."

 

Kommentare  
Das Vermächtnis, Hannover: Begriff
Da kommt endlich mal wieder ein queerer Stoff auf die Stadttheater-Bühne, und da fehlt dann die nicht-homosexuelle Welt? Das ist natürlich furchtbar. Und der Begriff Schwulen-Melodram ist auch nicht gerade feinsinnig formuliert. Vom Hetero-Melodram spricht man bei den meisten nicht-schwulen und dramatischen Stücken ja auch nicht.
Das Vermächtnis, Hannover: Dieselbe Brechtigung
Kann mich an keine Kritik erinnern, die sich darüber beschwert, wenn auch zugewandt, (egal ob es klassische oder zeitgenössisch Dramatik betrifft), es störe ein wenig, "dass die nicht-HETEROsexuelle Welt in diesem Marathon nur rudimentär und nur für Minuten vorkomme". Warum kann sich so ein Marathon denn bitte nicht auch mal nur mit homosexuellen Themen beschäftigen?
Andere Stücke behandeln doch immer noch zum größten Teil hererosexuelle Realitäten. Das ist ja auch okay, aber diesen Satz finde ich extrem befremdlich. Als hätte das nicht dieselbe Berechtigung wie ein Ferdinand-Luise-Komplex..
Das Vermächtnis, Hannover: Der Anfang
Soweit ich weiss, beginnt Lopez' Stück nicht mit einer Party...wie in der Kritik steht. Sowohl im Textbuch der englischen Version (als auch im Residenztheater) beginnt der Abend mit der beschriebenen Schreib/Probensituation.
Das Vermächtnis, Hannover: Nichts Schlechtes
Das well-made-play ist für Michael Laages durch und durch homosexuell konnotiert. Deshalb auch der Verweis auf den Broadway (Tennessee Williams, Tony Kushner). Ich finde daran nichts schlechtes. Ich vermute mal, er will das gar nicht denunzieren, zum Beispiel als überassimiliert. Er stellt es einfach als Fakt dar.
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