Solo für eine Stiefmutter

23. April 2022. Sätze, die den Figuren Wunden schlagen, bis sie nacheinander verrecken: Sarah Kanes zweiten Theatertext "Phaidras Liebe" inszeniert Robert Borgmann im Neuen Haus des Berliner Ensembles als vielstimmigen Monolog. Mit Stefanie Reinsperger als Phaidra und Hippolytos – und in Vollkontakt zu Kanes Sprache.

Von Iven Yorick Fenker

"Phaidras Liebe" mit Stefanie Reinsperger © JR / Berliner Ensemble

23. April 2022. Anfangs sitzt Stefanie Reinsperger noch apathisch am Boden. Die Tribüne füllt sich, sie hat ihr den Rücken zugewandt. Es läuft Ambient Hardcore, Basslinien und Melodiephrasen, sakraler Sound, in auf und ab wallenden Loops. Komponierte Erregung, Musik, die Nazanin Noori und Robert Borgmann, zusammen 123CEREMONY, live spielen. Die Spannung steigt.

Süchtig nach Stimulation

Auf eine schwarze Stellwand wird der Prologtext projiziert, der parallel aus dem Off über die Musik gesprochen wird. Es ist eine Prophezeiung – Phaidras Liebe wird sterben. Und es wird Rache genommen werden. In die Wand daneben ist ein Loch gesprengt, dahinter ein Bildschirm. Die Bühne im Neuen Haus des Berliner Ensembles ist zweigeteilt: Rechts ruht ein riesiger Gymnastikball, der mit einem Smiley bedruckt ist. Drei weiße Riesenkegel, mit Frischhaltefolie umzogen, liegen dort auch. Ein Spielzimmer, mit rotem Boden, das farbig ausgeleuchtet ist und in dem sich nun die Spielerin erhebt. Auf der linken Bühnenhälfte ist der Boden feinsäuberlich mit schwarzen Plastikfetzen bedeckt. Dort steht eine schwarze Sonnenbank.

Phaidras Liebe3 JR Berliner Ensemble uIm Spielzimmer des Hippolytos © David Baltzer / bildbuehne.de

Stefanie Reinsperger spielt Hippolytos, den Prinzen, das depressive Arschloch, das schonungslos die Wahrheit spricht. Und sie spielt zugleich Phaidra, die Königin, seine Stiefmutter, die in ihrer Liebe für ihn schutzlos ist. Hippolytos liebt Phaidra nicht, er ist süchtig nach Stimulation, nach Sex, er ist verfressen, von Bildschirmen besessen, er leidet. Phaidra betet ihn an. Warum? Das ist "nicht unbedingt logisch", sagt Hippolytos und Phaidra erwidert: "ist Liebe nie".

Stimmen, um darauf zu reagieren

Theseus, Hippolytos’ Vater, der König, ist im Krieg. Er wird erst später zurückkehren. Zu spät sein, denn Phaidra wird tot sein. Denn auch alle anderen Figuren des Stücks sind nicht eingeschritten. Sarah Kanes toller Text baut einen Mythos um, nimmt sich der Gewalt an, um seinen Figuren mit stichhaltigen Sätzen Wunden zu schlagen, bis sie alle nacheinander verrecken, obwohl sie doch eigentlich nur eins wollen: lieben.

In der Inszenierung bleiben Stiefmutter und Stiefsohn allein. Keine der anderen Figuren des Textes betritt die Bühne. Der Arzt, der die Depression Hippolytos’ und die Liebe Phaidras zu diesem diagnostiziert, der sie vor Sex mit ihrem Stiefsohn warnt, Strophe, die Stiefschwester, die bereits mit dem Stiefvater und dem Stiefbruder geschlafen hat, der Priester, Theseus der Rückkehrer, das Volk. Zu hören sind nur ihre Stimmen.

Robert Borgmann hat eine Textfassung für eine Schauspielerin erstellt, einen Solo-Remix, mit Ausnahmegenehmigung des Sarah Kane Estates, der Nachlasswalter, die darauf hinweisen, das dies kein Präzedenzfall für andere Inszenierungen darstellt. Stefanie Reinsperger spielt zwei Figuren und reagiert auf Stimmen; auf der Bühne ist sie allein zu zweit.

In Vollkontakt mit Sarah Kanes Sprache

Diese Verdichtung ist zeitweilig interessant, reizvoll, da Stefanie Reinsperger mühelos für zwei spielen kann. Es ist eine beklemmende Freude, ihrem Wahn zu folgen. Sie spricht mit sich selbst, zu sich selbst, an sich selbst vorbei, dann immer wieder auch zum Publikum oder zu einzelnen Zuschauer:innen. Sie scheut die Konfrontation nicht. Windet die Worte, kämpft mit den Sätzen. Sie spielt Hippolytos, der Phaidra mitspielt, in kurzer Hose und Unterhemd, in der Körperlichkeit eines Mannkindes und in Vollkontakt zur gewalt(tät)igen Sprache Sarah Kanes.

Phaidras Liebe3 JR Berliner Ensemble uOn the dark side: Phaidra © JR Berliner Ensemble

Dann geht sie ab und tritt wieder auf, auf der dunklen Seite der Bühne, wo nun die schwarzen Fetzen fallen. Sie spielt Phaidra, die Hippolytos mitspielt, mit schwarzer Perücke, in schwarzem Reifrock und mit schwarzem Schleier. Der Abend springt zurück in eine schon erlebte Szene. Jetzt ist auch die Haltung anders. Phaidra leidet, sie spricht mit dem Wissen um das Geschehen und dessen schmerzhafte Folgen. Bis sie sich umbringt – und schließlich alle tot sind.

Während der leidenschaftlichen Selbstvernichtung der Herrscherfamilie hat das Publikum Robert Borgmann persönlich im Rücken; die Vorstellung des Regisseurs als DJ verlässt hier den Bereich der Metapher. Borgmann und Nazanin Noori nutzen die Premiere auch zur Ankündigung ihres soeben gegründeten Kollektivs. In ihren Soundteppich gehüllt, bleibt Sarah Kanes Text trotz der intelligenten, geloopten Fassung und Dramaturgie (Amely Joana Haag), sowie der grandiosen Stefanie Reinsperger seltsam unkommentiert. Die autokratische Selbstverherrlichung, das mächtige Manchild, der Rapeskandal, die Geister des Textes, die Geister der Gegenwart schleichen als Echo über die Bühne. Die Inszenierung bleibt an der Oberfläche, obwohl sie zugleich unter die Haut geht.

 

Phaidras Liebe
von Sarah Kane
Regie, Bühne und Kostüm: Robert Borgmann, Gesamtkonzeption und Musik: 123CEREMONY (Nazanin Noori und Robert Borgmann), Video: Bahadir Hamdemir, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Stefanie Reinsperger und den Stimmen von Feli Benk, Robert Borgmann, Esther von der Decken, Fiona Hauser, Nazanin Noori, Jonas Vogt, Tim Wedell.
Premiere am 22. April 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Teilung und Verdopplung, Unverstandenheit und Projektion, Selbsthass und Liebesunfähigkeit – es ist das ganze Programm des schwarzlackierten Daseinsfrustes," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (23.4.2022). "Nebel wallen in weißen Lichtkegeln, sodass man unheilvolle Ultraschallbilder von mutterfressenden Embryonen zu sehen glaubt. Borgmann und Nazanin Noori spielen live blubbernde, schwellende und kratzende Ambient-Musik ein, zwischen grellen Neon-Blitzen regnet und bläst es Düsternis. Beseelt wird das Ganze mit der Spielwut von Stefanie Reinsperger. Wehe dem, der sie aufzuhalten versucht!" Die ganze Inszenierung besteht aus Sicht dieses Kritikers "wie so oft bei Robert Borgmann in einem bildstarken, aber distanzierten und coolen Rahmen, der einem, wenn es eng wird, immer auch die Ausflucht in den Kitsch lässt."

"Viel muss die Regie nicht machen, um diesen Abend zu einem Ereignis werden zu lassen", konstatiert Simon Strauß in der FAZ (24.4.22). Und die "wenigen Einfälle", die sie habe  – "wildes Ballwerfen und Kegelspiel am Anfang, herabrieselnder Ascheregen am Ende" – störten auch nicht weiter. Denn auf der Bühne steht Stefanie Reinsperger: "In jedem Moment bietet sie etwas Neues, Unvorhergesehenes, noch Extremeres", beschreibt der Kritiker deren Spiel. "Sie fordert die Blicke der Zuschauer heraus, gibt sich ihnen höhnisch preis und bestraft sie anschließend für ihren Voyeurismus, sie spielt heftiger und derber als die anderen, sie holt immer noch ein wenig weiter aus, schlägt noch tiefer zu."

"Reinsperger ist grandios“, findet auch Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.4.22). "Ohne Handbremse und Sicherheitsnetz" werfe sie sich "in die Schlacht". Im Hippolytos-Part sei Reinspergers Monolog "ein wütender Hassgesang", als Phaidra wechsele sie "in ein einziges, hellsichtiges Schmerzdelirium, die Bankrotterklärung des verstörten und zerstörten Lebens", urteilt der Kritiker, um anschließend einschränkend fortzufahren: "So weit, so intensiv, aber auch so Retro-Exzesstheater aus harmloseren Zeiten. Die albernen Bühnen-Gimmicks, ein riesiger Gummiball mit Emoji-Grinsen, drei große Kegel, Lichteffekte wie in der Technodorfdisco und gemächlich rieselnder Ascheregen, sorgen für eher harmlos sinnfreie Bilder - die gefällige Dekoration der Kaputtheits-Demonstration."

"Borgmanns Inszenierung erzählt im Kern von Einsamkeit und Selbstentfremdung, was Stefanie Reinsperger in ein mal fein moduliertes, dann wieder rotzig-wütendes Spiel übersetzt", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (24.4.22) und konstatiert: "Sie trägt den gesamten Abend." Die Frage sei allerdings, wohin: „Die Intention, dieses Stück heute zu erzählen", habe dem Kritiker zufolge "wohl der Geier geholt".

Kommentare  
Phaidras Liebe, Berlin: Reinsperger!
Das ist ein so tiefer, unglaublicher Abend für eine der derzeit großartigsten Schauspieler*innen der Stadt. Sie wütet auf der Bühne und man wird als Zuschauer in ihren Bann gezogen. Wirklich wunderbar die Inszenierung von Borgmann, eigentlich muss man diesen Abend stark finden. DANKE!
Phaidras Liebe, Berlin: Virtuos aber beliebig
Reinsperger verausgabt sich, keucht, wälzt sich: die Solistin zieht alle Register, aber das zentrale Problem dieser postdramatischen Fingerübung von Robert Borgmann ist, dass sein Konzept nicht aufgeht. Zu oft bleibt unklar, wer gerade aus Reinsperger spricht: Hippolytos oder Phaidra? So bleibt der zwiespältige Eindruck eines Abends, an dem Reinsperger zwar zeigen darf, dass sie alle Register von Wut, Hass und Schmerz ziehen kann, bei dem aber hinter den Textbrocken, die sie herausschleudert, selten lebendige Figuren sichtbar werden, sondern alles zu einem Parforce-Solo verschwimmt.

Robert Borgmann ließ sich eigens für seine Musik-Performance-Version von „Phaidras Liebe“ von den Rechteinhabern eine Neufassung genehmigen, zu der ihn ein im Programmheft abgedrucktes Interview der Autorin von 1998 inspirierte: Phaidra und Hippolytos sind für Kane „zwei Facetten ein und derselben Person“, ihr Dialog wird zum Selbstgespräch. Wie Gollum im „Herrn der Ringe“ oder von Schizophrenie zerrissen muss Reinsperger ständig zwischen den beiden Stimmen hin und her switchen.

„Hätte es doch nur mehr Momente wie diesen gegeben“, sagt Reinsperger alias Hippolytos zum Schluss mit breitem Grinsen und im weißen Marilyn Monroe-Kleid ins Publikum – und trifft damit genau den Punkt: Bei aller Virtuosität der begabten Solistin blieb der Abend zu beliebig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/24/phaidras-liebe-stefanie-reinsperger-theater-kritik/
Phaidras Liebe, Berlin: Zurückgenommene Regie
Die Regie hat sich angenehm zurückgenommen um so das bekanntermaßen brilliante Spiel von Stefanie Reinsperger den ihm nötigen Raum zu geben.

Auch wenn das Ablesen/die Vermittlung der Handlung über Textprojektionen nicht besonders kreativ ist.

Auf jeden Fall löste der Abend wirklich einmal unterschiedliche Reaktionen im Publikum aus. Bei meiner Vorstellung wurde sich sowohl in verlegen-hysterisches Kichern seitens einiger Zuschauer*innen geflüchtet wie aber auch eine Zuschauerin in Tränen aufgelöst mitten im Stück den Saal verließ.

Natürlich durfte auch das übliche "Ich muss mal wieder/ Ich muss anfangen/ Ich muss mehr Sarah Kane lesen" nicht fehlen.
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