Wie man den Tyrannen tötet

24. April 2022. Mit einem Mord ein überlebtes Fürstentum beenden? Das versucht die Titelfigur in "Lorenzaccio", nur, dass Lorenzaccio selber nicht an die Veränderung glaubt. Regisseurin Nora Schlocker hat Alfred de Mussets selten gespieltes Revolutionsdrama inszeniert und am Ende weiß man auch, warum.

Von Martin Krumbholz

Palastrevolte im transparenten Kubus: mal als Kabinett, Schlafzimmer, Beichtstuhl, gläserner Sarg. "Man kann eine Armee erwürgen, aber nicht ein Volk", heißt es einmal darin © Birgit Hupfeld

Bochum, 23. April 2022. Dieser Lorenzo de‘ Medici, ein Vetter des Florenz regierenden Herzogs Alessandro de‘ Medici, ist eine Figur aus reinstem Theaterblut. George Sand soll sie als Stückfragment ihrem Geliebten Alfred de Musset überlassen haben. Lorenzaccio ist, ein zweiter Hamlet, in den spannendsten Widersprüchen zerrissen: Ein Schwerenöter und Zyniker, für einen Freund des jungen Tyrannen gehalten, dem er Frauen zuführt und den er am Ende umbringen wird, obwohl er an eine Veränderung der Verhältnisse durch diesen Mord selber nicht glaubt. Protagonist und Hofnarr zugleich. Einer, der niemanden ernst nimmt und daher selbst nicht ernst genommen wird. Von einem paradoxen schwermütigen Moralismus getrieben, nicht unähnlich dem des berühmtesten Stücks von Musset, "Man spielt nicht mit der Liebe". Aufgeführt wird dieser Politthriller selten oder besser gesagt nie: zu kompliziert, zu mysteriös, zu viel Personal. Zu sexistisch möglicherweise auch.

Die Bochumer Premiere ereignet sich auf dem Scheitelpunkt politischer Menetekel, am Vorabend der Stichwahl in Frankreich, zwei Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine. Putinfreundin Le Pen rüttelt am Élysée-Palast, während der Autokrat selbst ganze Städte in Grund und Boden stampft.

Hoffnung auf Veränderung

"Man kann eine Armee erwürgen, aber nicht ein Volk", sagt die Marchesa (Elsie de Brauw) bei einem Schäferstündchen zum Herzog, der sich bereits mit ihr langweilt und seinerseits nur ein Statthalter des deutschen Kaisers ist. Man muss nicht ausführen, dass dieser Satz aktuell ist. Allerdings ist Mussets Lektion nicht unbedingt der Mutmacher, nach dem ein Theaterpublikum heute sich vielleicht sehnt. Und auch die Regisseurin Nora Schlocker, die erstmals in Bochum inszeniert und der diese Ausgrabung zu verdanken ist, macht es ihrem Publikum nicht leicht. In gewisser Weise spiegelt sich der Ästhetizismus des Textes im Klima der Aufführung, die kurz (zwei Stunden) währt und dennoch hier und da straffer komponiert sein könnte.

Lorenzaccio 2 c Birgit Hupfeld Gefährlich umarmt: Lorenzaccio (Markus Huth), rechts, und der Despot (Ingo Tomi) © Birgit Hupfeld

Die entschiedenste Einschränkung dieser Kritik liegt in der Anlage der Titelfigur, für die Marius Huth ein Glücksfall ist. Der durchtriebene Schalk des Mannes, sein Wortwitz, sein raffiniertes Doppelspiel, sein Charme, auch seine Schwermut, das alles vereint Huth perfekt. "Deine Trauer zerreißt mir das Herz", sagt Lorenzos Gegenspieler Strozzi (Stefan Hunstein) gleich mehrmals zu ihm; das bessere Wort wäre "Schwermut ".

Feiner Unterschied, aber zur Trauer hat der junge Mann gar keinen Grund. Es geht ihm persönlich ja gut, und er kostet es aus. In der Szene, in der dieser Satz fällt, steht Hunstein auf der Bühne, während Huth durch den beleuchteten Saal tigert. Normalerweise ist es umgekehrt: Strozzi, ein rechtschaffener Republikaner, steht während seiner verzweifelten Tiraden im Saal, als Repräsentant des Volks. Gegenüber, im Hintergrund der Bühne von Raimund Orfeo Voigt, ist der Saal naturgetreu gespiegelt. Im Zentrum steht ein transparenter Kubus, der wahlweise als Kabinett, Schlafzimmer, Beichtstuhl oder als gläserner Sarg dient.

Einmischen oder nicht Einmischen

Auf Strozzis Frage, warum Lorenzo den Tyrannen töten wolle, wenn er sich doch gar nichts davon verspreche, hat der Befragte bezeichnenderweise keine Antwort. Er habe vor einiger Zeit schon den Papst töten wollen, das habe nicht geklappt, erklärt er einmal. Jetzt ist also sein Vetter dran, bei Ingo Tomi ein Hampelmann mit wenig Grips, den es schwer nervt, wenn eine Frau sich in die Politik einmischt. Schließlich mischt er selbst sich nicht ein, er sorgt für die Steuern und lässt im Übrigen den Dingen ihren Lauf. Bei seinen amourösen Abenteuern trägt er gern einen kostbaren roten Purpur (die schönen Kostüme sind von Vanessa Rust).

Lorenzaccio 1 c Birgit Hupfeld Die Marchesa (Elsie de Brauw) wagt, dem Kardinal (Risto Kübar) zu widersprechen © Birgit Hupfeld

Was das übrige Personal betrifft, gibt es Höhen und Tiefen – angesichts der Länge des Textes und der Kürze der Aufführung ein heikles Unterfangen, jeder einzelnen der vielen Figuren ein Profil zu verschaffen. Diese Not verführt womöglich zu Manierismen. Die Figur des korrupten Kardinals Cibo etwa ist einigermaßen missglückt, weil der Schauspieler Risto Kübar sie mit Gewalt interessanter machen will, als sie ohnedies schon ist – so etwas geht meistens schief. Die roten Schuhe des Mannes aber sind kostbar – erinnern sie nicht an einen gewissen echten Papst? Das wird doch keine Absicht sein?

Die von Elsie de Brauw sehr emphatisch gespielte Marchesa hat den Schneid, dem Kardinal, der sie aus Eigennutz zur Mätresse des Herzogs machen will, offen zu widersprechen und sich dabei selbst gefährlich zu entblößen. Um solcher Szenen willen wird Nora Schlocker das wunderbare, widerspenstige Stück des liebenswerten Dandys Alfred de Musset für Bochum ausgesucht haben. 

Lorenzaccio
von Alfred de Musset, aus dem Französischen von Arian Schill, Fassung von Nora Schlocker und Susanne Winnacker
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Simon James Phillips, Dramaturgie: Susanne Winnacker.
Mit: Ingo Tomi, Marius Huth, Risto Kübar, Elsie de Brauw, Lukas von der Lühe, Stefan Hunstein, Mourad Baaiz, Jing Xiang, Mercy Dorcas Otieno, Jele Brückner, Ann Göbel, Christian Walter, Fabian Hemmelmann, Leonhard Reso, Hagen-Goar Bornmann, Merle Bader, Antonia Busse, Theresa Klose, Jiaying Lin.
Premiere am 23. April 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de


Mehr über "Lorenzaccio": Stefan Bachmann hatte das Stück 2009 am Burgtheater Wien inszeniert.

 

Kritikenrundschau

"Wie ein politisches Debakel zugunsten der Stadtbewohner beendet werden könnte, ist eine Frage, die Regisseurin Nora Schlocker und Dramaturgin Susanne Winnacker aufgegriffen haben", so Achim Lettmann vom Westfälischen Anzeiger (25.4.2022). Beide interessiere die Pattsituation, "dass ein System stabil bleibt, ohne dem Gemeinwohl zu dienen". Schlocker lege die Tatbestände nüchtern frei.

Nora Schlocker gelinge eine konzentrierte Aneignung des sprachgewaltigen Historiendramas, das ebenso komplex gebaut wie überraschend aktuell sei, so Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (25.4.2022). "Und ganz nebenbei besitzt die Aufführung eines der famosesten Bühnenbilder seit langer Zeit.“ Und weiter: "Marius Huth läuft in der dankbaren Rolle des zerrissenen Helden zu großer Form auf. Beeindruckend, wie er die Widersprüche, aber auch den Witz und den jugendlichen Leichtsinn seiner Figur zum Leuchten bringt."

Kommentare  
Lorenzaccio, Bochum: Unglaublich
Der Rezensent scheint mal wieder in einem anderen Theater gesessen zu haben.

Mir ist bis zum Schluß nicht klar geworden, was auf der Bühne überhaupt verhandelt wird. Ich habe nur verstanden, daß das Stück wohl irgendwann in Florenz spielt. Das lag nicht zuletzt an den Schauspielern, die entweder nuschelten, oder ihre Texte durch ein Mikroport sprachen, das niemals richtig eingestellt war. Der Ton kam ständig aus den zentral positionierten Lautsprechern, ich mußte also ständig die Figur suchen, die durch Gestik oder Mimik den Eindruck machte, nun das Wort zu ergreifen. Vollends unverständlich waren die Schauspieler, wenn der - warum auch immer - eingesetzte Chor so laut war, daß er die Mimen übertönt hat.

Davon abgesehen: Das sollen Schauspieler sein? Stephan Hunstein und Marius Huth spielten routiniert das, was sie auf der Schauspielschule gelernt haben. Ob sie mit dem Text was anfangen konnten, blieb dunkel. Der Rest wälzte sich auf dem Boden herum, schrie bisweilen den Text - der damit wiederum vollends unverständlich wurde - oder schaute bedeutungsschwer in die Runde. So, wie sie eben glauben, daß es (richtige) Schauspieler tun sollten. Niemandem habe ich auch nur ein Wort geglaubt. (Wenn ich es denn verstanden habe.)

Das Bühnenbild muß Unsummen gekostet haben, ohne auch nur ansatzweise irgendwas zum Verständnis des Stückes beigetragen zu haben.

Schlußendlich hat mir ein ständiges Fingerschnipseln (oder was auch immer) der Schauspieler die Laune verdorben. Dadurch wurde eine permanente Geräuschkulisse erzeugt, die mich die letzten Nerven gekostet hat.

Mein Fazit: Von den vielen Theaterabenden meines Lebens einer der schlechtesten oder vielleicht sogar der schlechteste überhaupt!
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