Ihren Zorn vergaß sie nicht

24. April 2022. Wie fern ist das Jahr 415 vor Christus (als Euripides' Troerinnen mutmaßlich das erste Mal ihr Schicksal beklagten) von unseren Tagen? Die australische Regisseurin Adena Jacobs zeigt im Burgtheater die immer gleiche Logik des Kriegs und das (Über-)Leben darin – aus weiblicher Perspektive.

Von Reinhard Kriechbaum

Die Troerinnen © Susanne Hassler-Smith

24. April 2022. "Troja … nicht mehr … Königin" stammelt Hekabe. Zwanzig Kinder hat sie verloren im Krieg um die nun zerstörte Stadt. Wie alle Troerinnen sieht auch sie einem leider allzu gewissen Schicksal entgegen: Die Frauen werden als Sklavinnen unter den Kriegsgewinnern verlost. Adena Jacobs lässt sie nackt dastehen, mit kahlgeschorenen Köpfen. Für die Sieger sind sie vermutlich nichts als potentielle Gebär-Maschinen, die eine neue Generation von Macht-Ausübern hervorbringen werden.

Archetypen des Kriegs

Man kann nun nicht sagen, der Krieg in der Ukraine habe diese Inszenierung eingeholt: Was Euripides vor zweieinhalb Jahrtausenden beschrieben hat, ist die Logik des Kriegs per se. Es geht um das Archetypische seiner Täter und Opfer. Die ersten Leidtragenden sind die Frauen aller Länder und Völker, die je in Kriege verwickelt waren. Aber selbstverständlich: Die Millionen von Frauen, die in den vergangenen Wochen aus der Ukraine geflohen sind, machen die "Troerinnen" des Euripides gerade jetzt zum Theaterstück der Stunde. Das Blut kann einem in den Adern gefrieren an diesem Theaterabend ohne jede direkte Anspielung auf den gerade so nahen Krieg.

Adena Jacobs fokussiert das Geschehen ausschließlich auf die Frauen. Die Männerrollen sind samt und sonders rausredigiert. Beim Text des Griechen ließ sie es nicht bewenden, die Regisseurin griff auf ein Textkonglomerat zurück. Euripides eher minimiert, dafür sind Gedanken von Ovid und Seneca hinein montiert. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil der wie bruchstückhaft aufgebreiteten Psychogramme stammt von der australischen Dramatikerin Jane M. Griffith, mit der Adena Jacobs schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Gerhild Steinbuch hat den zugleich hoch expressiven wie verknappten, zwischen Ohnmacht, Wut, Trauer, Aufbegehren und Verzweiflung mäandernden, in Ellipsen taumelnden Text übersetzt.

Die Troerinnennach EuripidesPremiere am 23. April 2022 im Burgtheater"Es gibt tausend Helenas" © Susanne Hassler-Smith

Wort-Blutrausch

Der Kriegslärm ist noch nicht verklungen, wenn Hekabe als erste ausholt. "Kein Unterschied mehr zwischen Zorn und Trauer" beschreibt die Chorführerin (das steht so bei Ovid) deren Seelenlage, aber das gilt auch für die anderen drei, für Andromache, Kassandra und Helena. Auf jede ist jeweils eine ausufernde Solo-Episode zugeschnitten in diesen dichten, von eindringlichen Ritualen bestimmten 135 Spielminuten. Sylvie Rohrer ist die Königin Hekabe. Wie die drei anderen hat sie alles und vor allem sich selbst verloren hat und steigert sich nun hinein in einen Wort-Blutrausch, in dem sich doch die Hilflosigkeit des Augenblicks überdeutlich spiegelt. Sie verzehrt sich in Selbstbeschuldigungen, Paris hervorgebracht zu haben: "Ein tollwütiger Hund / Nagt an meiner Brust, ein / Knäuel Schlangen birst / Aus mir heraus / Räkelt sich / Auf meinem Bauch … Er war das Feuer / War die Fackel / Ich habe die Fackel geboren."

Sabine Haupt ist Andromache, die vor einem Brutkasten steht und das Frauenlos direkt anspricht: "Für uns gibt es immer etwas zu fürchten." Und, wie eine stete Drohung: "Sie sagen, du gewöhnst dich an alles." In einem grausigen Zeremoniell wird sie ihr Kind, ein Klumpen Fleisch nur mehr, selbst zerstückeln. Lilith Häßle, die Kassandra, wird von Vergewaltigung berichten. "'Nein' sag ich / Sage 'nein' / 'Bitte' sag ich / Und er spuckt mir in den Mund meine Eingeweide bersten ..." Und Helena (Patrycia Ziolkowska), die in den Augen der anderen vermeintlich Schuldige am Krieg? "Es gibt tausend Helenas, wenn man die Augen offen hält", rechtfertigt sie sich. Ihr rotgold funkelndes Kleid wird sie bald ablegen, auch sie wird nackt dastehen.

Ein stiller Chor

Adena Jacobs Theater ist auch eines der starken, der überwältigenden Bildwirkung, die sie gemeinsam mit Euynee Teh (Bühne, Kostüme, Video) und der Choreografin Melanie Lane und einem eingeschworenen Team entwickelt. Frauen verschiedener Hautfarbe, verschiedenen Alters, auch Kinder bilden den (Bewegungs-)Chor. Hilflos und ausgeliefert wie die Protagonistinnen ist auch dieses Kollektiv, individuell und uniform zugleich anmutend in den fleischfarbenen engen Trikots. Dieser Chor redet nicht, wimmert höchstens. Er bildet mit seinen Körpern am Boden Formationen, die von oben gefilmt und ins Bühnen-Schwarz projiziert werden wie Hirngespinste oder Albträume.

Die Troerinnennach EuripidesPremiere am 23. April 2022 im BurgtheaterEin Chor zwischen Ohnmacht, Wut und Aufbegehren © Susanne Hassler-Smith

Da können Körper wie magisch nach oben fliegen. Oder die Hauptdarstellerinnen lösen sich aus den durchscheinenden Figuren heraus. Das perfektionistische Neben- und Übereinander von Live-Spiel und Projektionen, verbunden mit den insistierend-langen, doch immer lebendigen, sich weiterentwickelnden elektronischen Klängen – das ergibt ein optisch und akustisch einprägsames Gesamtkunstwerk mit starker Sogwirkung. Aus gutem Grund hat das Premierenpublikum gerade auch das Szeniker-Team mit besonderen  anhaltenden Bravi bedacht.

"Sie vergaß ihr Alter, ihren Zorn vergaß sie nicht", erfahren wir über Hekabe, aber das gilt für all diese Frauen, die in ihrer sagenhaften Verzweiflung bereit sind, "jeden Säugling zu erwürgen mit den Eingeweiden seiner Mutter".

 

Die Troerinnen
nach Euripides
mit Texten von Euripides, Ovid, Seneca und Jane M. Griffiths. Deutsch von Gerhild Steinbuch
Regie: Adena Jacobs, Bühne & Kostüme: Eugyeene Teh, Komposition: Max Lyandvert, Choreographie: Melanie Lane, Videodesign: Tobias Jonas , Eugyeene Teh, Licht: Michael Hofer, Dramaturgie: Alexander Kerlin, Dramaturgiemitarbeit: Aaron Orzech
Mit: Sylvie Rohrer, Patrycia Ziolkowska, Sabine Haupt, Lilith Häßle, Safira Robens.
Premiere am 23. April 2022

Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

 Kritikenrundschau

Jacobs Inszenierung biete "wirkmächtige, barocke Bilder und Videos, intensive Protagonistinnen, einen zumeist stummen Chor", schreibt Norbert Meyer in der Presse (25.4.2022). "So geisterhaft erscheint er zuweilen, als sei er einem Zombie-Film entliehen. Die Grundstimmung in diesen zwei Stunden dichter Aufführung: manichäisch. Finsternis hat gerade das Licht besiegt." Dem Sog, der viele Sinne anspricht, könne man sich kaum entziehen. "Befreiend wirkt er nicht."

Dass der Abend alles andere als staubig wirke, liege einerseits an der heutig-klaren Übersetzungen Gerhild Steinbuchs, so Michael Wurmitzer im Standard (25.4.2022). Andererseits dringe Jacobs durch Textverknappung auch psychologisch tiefer: "Alles ist Gefühl, direkt und konkret, nicht kalter Diskurs oder akademisch hochtrabende Theorie." Diese "Troerinnen" erschütterten "durch Bilder und Perspektivierungen" und "erntete den verdienten Jubel".

"Trotz all der tragischen Geschicke fehlt es diesen „Troerinnen“ an Überzeugungskraft", schreibt Martzin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.2022). Sein Fazit: Ein "mutiger Versuch, das ganze Elend der männergemachten Brutalität den Frauen gegenüber aufzuzeigen, scheitert. Wenn auch auf hohem Niveau."

Für Martin Thomas Pesl in der Welt (27.4.2022) liegt die "Stärke dieser Inszenierung in ihrer Optik". Im Umgang mit dem Originalstoff wählt Adena Jacobs "den Weg der Verfremdung, der visuellen Verstörung, mit einer klar queerfeministischen Agenda". Abseits von Optik, technischer Raffinesse und eindrücklich "wummernden" Hintergrundsounds überzeugt der Abend aber nicht: "Überall, wo Text gesprochen wird, stellt sich das Gefühl ein, dass selbst der frischeste feministische Ansatz die Drögheit nicht verdecken kann, die den frühen Formen des Sprechtheaters nun einmal anhaftet, seit Theater mehr zu bieten hat als nur Monologe und Chöre"

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