Die Schweiz im Allgemeinen

24. April 2022. Den Mythos von der demokratischen, lebenswerten Schweiz will Milo Rau in seinem "Wilhelm Tell" mächtig auf dem Kopf stellen. Seine Inszenierung streift Rassismus, Migration und Rechtsextremismus, Behinderte und Pflegenotstand, die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sowieso und all die Folgen für den Kunstbetrieb drauf zu. Ganz schön viel, findet unsere Kritikerin.

Von Valeria Heintges

Rütlischwur mit Ensemble und den zehn Gästen, die Milo Rau für seinen "Wilhelm Tell" gecastet hat © Philip Frowein

Zürich, 23. April 2022. Welche Diagnose stellt Milo Rau seinem Heimatland aus? Er, der auch noch als Intendant des NT Gent mit seinen Theaterprojekten um die und in die Welt reist, um Themen aufzugreifen, die gerne vergessen und noch lieber verschwiegen werden? Noch vor der Premiere seiner Fassung von Schillers "Wilhelm Tell" hatte er in der Wasserkirche einem eritreischen Sans-Papiers per fiktiver Hochzeit den symbolischen Weg zur Aufenthaltsbewilligung ermöglicht und dann im benachbarten Kunsthaus, das die umstrittene Kunstsammlung des Waffenhändlers Emil Bührle zeigt, eine ehemalige Zwangsarbeiterin mit Gesteinsbrocken vor Manets "Mohnblumenfeld bei Vétheuil" fotografieren und diese Kunstwerke als NFT (non-fungible token) verkaufen lassen. Inhaltlich eher symbolischer Natur, erfüllten die Aktionen als PR-Maßnahme ihren Zweck und ließen den Medienwald mächtig rauschen.

Dann, auf der Bühne des Pfauen, der dritte Teil der Tell-Trilogie. Das Werk wird in der Schweiz häufig aufgeführt, dient es doch als gute Folie, um Tiefenbohrungen in die Eigenheiten des Landes vorzunehmen. Auf der Bühne sind zu sehen: mit Karin Pfammatter und Michael Neuenschwander zwei schweizerische, mit Maja Beckmann und Sebastian Rudolph zwei deutsche Ensemble-Schauspieler:innen und Maya Alban-Zapata als Gast. Sie spielen einige Szenen selbst, in anderen stellen sie live oder im Video eine Inszenierung von 1939 in der Regie des damaligen Intendanten Oskar Wälterlin nach, von der noch einige Tonbandaufnahmen existieren. Ein klassisches Re-enactment: Stimmen von damals und Schauspieler:innen von heute.

Erinnerung an aussteigewillige Rechtsextreme

Dazu lassen die Profis ihre Biographien einfließen, etwa wenn Sebastian Rudolph erzählt, dass er 2001 auf dieser Bühne stand, als Hamlet in einer Schlingensief-Inszenierung mit Ex-Nazis. Die Aufführung sollte verboten werden, fand dann aber doch statt. Rudolph läuft als tyrannischer Gessler in SS-Uniform herum und fragt zurecht: "Wer macht denn heute noch sowas?" Die Antwort: Schlingensief selbst machte das damals.

Wilhelm Tell SHZ Foto c Flavio Karrer 3Viel Vorgeschichte, viele Versatzstücke: Milos Raus "Wilhelm Tell" am Schauspielhaus Zürich © Flavio Karrer

Die Arbeit von Wälterlin mit ihrer Idee der "geistigen Landesverteidigung" war eine direkte Antwort auf den Nationalsozialismus, wenn der Landvogt Gessler die Schweizer Untertanen bedroht. Dieser Verschnitt kulminiert, wenn Rudolph behauptet, er gehe ins Kino, in die nachgebaute Tell-Kapelle auf der Bühne (Ausstattung Anton Lukas) verschwindet und dann im (Video-)Kino brutal erschossen wird – Tarantinos Film "Inglourious Basterds" lässt grüßen.

Aber nicht nur die Schauspieler:innen erzählen aus ihrem Leben, sondern auch zehn "Performer" tun das, die nach einem Casting ausgewählt wurden. Sie antworten auf die Frage "Welche Szene gefällt dir im Tell am besten?" oder auf "Was ist Freiheit?".

Freiheitsbefragung

Irma Frei erzählt von ihrem Martyrium als Verdingkind, das in den 60er-Jahren mit dreijähriger Zwangsarbeit in einer Bührle-Textilfabrik endete. Sarah Brunner, erste Offizierin der Schweizer Armee, berichtet von ihrem Einsatz für die UNO-Blauhelme in Syrien. Cyrill Albisser identifiziert sich mit Wilhelm Tell als Jäger und führt Maya Beckmann in die Kunst der Pirsch ein. Meret Landolt berichtet, dass sie schon im Nachbardorf nur noch "die mit den komischen Händen ist", weil ihre Arme verkürzt und ihre Finger verkrümmt sind. Cem Kirmizitoprak verwandelt das Tourismusetikett von St. Gallen als der "Treppenstadt" im Null-komma-nix in sein Gegenteil: "8000 Stufen? Für einen Behinderten im Rollstuhl ist das die Hölle". Und Hermon Habtemariam, der "frisch Verheiratete" aus der Wasserkirche, lässt nachstellen, wie eine Ausweiskontrolle für ihn auf dem Boden und mit auf dem Rücken fixierten Armen enden kann.

Wilhelm Tell SHZ Foto c Flavio Karrer 4Irma Frei, die als Heimkind in den 60er-Jahren in einer Bührle-Textilfabrik zwangsweise arbeiten musste, am Rednerpult inmitten des Ensembles © Flavio Karrer

Die Stränge werden durch die Szenen aus "Wilhelm Tell" zusammengehalten, der so in Bruchteilen und Andeutungen erzählt wird. An die Stelle der Komplexität, aber auch des Pathos’ des Originals rücken Szenen, die zuweilen berührend, zuweilen kritisch sind, zuweilen aber auch banal. Sie seien auf den Spuren Tells durch die Schweiz gereist, erzählt Maja Beckmann zu Beginn, und hätten sich gegenseitig ihre Geschichten erzählt. "Eine war genauso interessant wie die andere", sagt sie, "in allen steckt die Schweiz."

Nationalhymne als Gospel

Aber die vielen Geschichten reißen zu viele Themen an. Es geht um Rassismus, Migration und Rechtsextremismus, um Behinderte, den Pflegenotstand und die Schweizer Armee, um Klimawandel und Umweltzerstörung. Zudem um die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen und ihre Folgen für den Kunstbetrieb im Besonderen, dazu um Verdingkinder speziell als Zwangsarbeiterinnen. Das ist nun wirklich zu viel des Guten.

Kurz vor Schluss wird das Publikum zum Aufstehen animiert: "Jetzt singen wir die Nationalhymne!" Die Hymne kommt dann – zum Glück – zwar als Gospel daher, aber die freundlich-gezwungene Nötigung ist symptomatisch für den Abend: Hier ist ein Ensemble und ein Inszenierungsteam so begeistert vom eigenen Tun, dass keinem mehr auffällt, dass nach einem vielversprechenden Anfang vieles sehr oberflächlich gerät. Es ist eben doch kein Zufall, dass andere Inszenierungen kleinere Themenfelder beackern: Sie kommen stiller daher, bohren aber tiefer. Merke: Eine politisch hochkorrekte Inszenierung ist gut, macht aber noch lange keinen guten Theaterabend.

Wilhelm Tell
nach Friedrich von Schiller
Inszenierung: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Sound Design: Elia Rediger, Video: Moritz von Dungern, Live-Kamera: Emma Lou Herrmann, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt, Audience Development: Silvan Gisler.
Mit: Maya Alban-Zapata, Maja Beckmann, Michael Neuenschwander, Karin Pfammatter, Sebastian Rudolph, Aleksandar Sascha Dinevski, Cyrill Albisser, Sarah Brunner, Irma Frei, Vanessa Gasser, Oskar Huber, Cem Kirmizitoprak, Meret Landolt, Louisa Maulaz, Hermon Habtemariam.
Premiere am 23. April 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

"Als Milo Raus Clou stellt sich heraus, dass Tell von allen gespielt werden darf", bemerkt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (24.4.2022). Im Laufe der Vorführung werde ohnehin immer deutlicher, "dass Schillers 'Wilhelm Tell'  bloss Rahmenhandlung und Hintergrund hergibt für ein soziokulturelles Integrationsprojekt, das unter dem gleichen Titel läuft": Laien, so der Kritiker, spielten die Hauptrolle, indem sie in unterschiedlichen Sprachen aus ihrem Leben erzählten, und man höre ihnen gern zu. Bisweilen wirkten "ihre Bekundungen, gezähmt wohl durch schriftliche Verdichtung, allerdings künstlich oder gar peinlich", heißt es weiter. "Mit der Zeit fühlt man sich überdies in eine Therapiegruppe versetzt oder in eine ökumenische Jugendgruppe, in der alle lieb sind miteinander." Immerhin leisteten sich Milo Rau und sein Team aber "auch ein paar Provokationen".

"Wenn Milo Rau Welt auf die Bühne hebt, bebt es in den Medien, und das Theater bibbert. Denn so nah wie er geht sonst keiner ran ans Ungemütliche", eröffnet Alexandra Kedves ihre Kritik im Tagesanzeiger (24.4.2022). Diesmal aber erschrecke man eher darüber, "wie witzig" Raus frei nach Schiller inszenierter Abend auf der Zürcher Pfauenbühne daherkomme: "Lässig, smart, souverän!", urteilt die Kritikerin. Der Regisseur habe "mitten hineingegriffen in helvetische Wirklichkeiten", sie "scheinbar willkürlich hineingewirbelt" in den Mythos, und herausgekommen sei "ein flockig-flattriges, aber echtes Theater für die Stadt". Am Ende ihrer Kritik "applaudiert" die Rezensentin und konstatiert in Richtung des Regisseurs: "Läuft bei ihm."

"Neben Schauspielern aus dem Ensemble hat Rau auch Laiendarstellerinnen gecastet, die in die Schuhe des Freiheitskämpfers schlüpfen, um von ihren eigenen Freiheitsvorstellungen zu erzählen. Das ist teilweise menschlich berührend und wirkt dann wieder etwas beliebig", berichtet Dagmar Walser im SRF (25.4.2022). "Der Abend bleibt ein Haufen aus kleinteiligen Mosaiksteinchen und konkreten Geschichten, die sich nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen wollen. Das mag ein realistisches Abbild des Zeitgeistes sein. Ein dichter Theaterabend ergibt sich daraus nicht."

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (24.4.2022) fand sich "in einer menschlich zutiefst anrührenden Aufführung" wieder. "Die Aufführung ist extrem dicht, manchmal banal, oft grandios. Vor allem aber bilden die wahren Geschichten echter Menschen, zu denen ja dann letztlich auch die Schauspieler gehören, genau das ab, worauf das Exil-Ensemble 1939 zielte: umfassende Humanität."

"Angekündigt war ein Revolutionsdrama, das zugleich ein Befreiungsschlag fürs schweizerische Nationalbewusstsein hätte werden sollen. Zu sehen und zu hören bekommt das Publikum eine Jamsession mit Gitarre, Bass und vielen Laieninterpreten an den Saalmikrofonen", berichtet ein merklich enttäuschter Wolfgang Höbel für den Spiegel (24.4.2022) aus Zürich. "Es ist ein kritisches Porträt des Wohlstandslands Schweiz, das Rau hier gelingt, aber leider kein mitreißender Theaterabend."

"Die Dimension der aufgegriffenen Themen steht in keinem Verhältnis zu ihrer Repräsentation“, so Julia Stephan im St. Galler Tagblatt (24.04.2022). Was sei das jetzt alles? "Ein Kommentar auf Schlingensiefs Skandal-Hamlet von 2001? Eine Beschäftigung mit der Rezeption? Ein Porträt der heutigen Schweiz? Alle drei Ebenen sind klug miteinander verknüpft, aber Tiefe findet man kaum. Als gegen Ende alle Beteiligten den Schweizerpsalm in einer Gospelversion singen, ist der Tell als Held unbrauchbar geworden. Zu feige, zu systemkonform, sei er. Und wohl auch etwas überfordert von der Agenda, die Milo Rau verfolgt hat."

"Rau zieht al­le Re­gis­ter sei­ner Kunst", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (28.4.2022. Sein Tell sei nicht nur ein Kom­men­tar zu Schil­lers Klas­si­ker, son­dern auch schon die Kri­tik die­ses Kom­men­tars. "Lau­ter selbst­re­fe­ren­zi­el­le Spä­ße, Me­ta­kunst-Fun­ken, durch­blit­zen den Abend, bis hin zu ei­ner Ver­nei­gung vor dem gro­ßen Re­gie-Vor­gän­ger, dem Mül­hei­mer Irr­licht Chris­toph Schlin­gen­sief, der hier vor 21 Jah­ren den Ham­let in­sze­niert hat." Im Versuch, sau­ber aus sei­ner Exis­tenz als Schwei­zer her­aus­zu­kom­men, of­fen­bare er "ei­nen recht schwei­ze­ri­schen Zug – den Drang nach Rein­lich­keit".

"Auch gefeierte Regisseure greifen mal daneben", schreibt Eva Marburg im Freitag (29.4.2022). Für die Kritikerin "schreitet der Abend von einer Plattitüde zur nächsten. Das alles in einer Art Healing-Gestus – ständig wird gesummt (wirklich!), erklingt die Gitarre und nach ihren Geschichten werden die Erzählenden tröstend umarmt. Die Stimmung sakral, andächtig: Als würde man gemeinsam eine Gruppentherapie machen. Irgendwann fängt man dann aber an, sich richtig zu ärgern, wie einem hier so ganz plakativ die Gegenwartsprobleme erzählt werden – als wäre man irgendwie verblödet und hätte im Leben noch nichts von Polizeigewalt, Rassismus, Benachteiligung von Menschen mit Einschränkungen und kapitalistischer Ausbeutung gehört. Am befremdlichsten ist jedoch die bizarre Art, mit der sich Milo Rau hier zum Nachfolger von Christoph Schlingensief stilisiert, worauf auch im Programmheft mächtig herumgeritten wird."

 

Kommentare  
Wilhelm Tell, Zürich: Harmlos
Milo Rau hat seinen Abend am Schauspielhaus medial gut vorbereitet. Oder auch: Die deutschschweizer Zeitungen haben dem einheimischen Regisseur, der mehr in der Fremde tätig ist als zuhause, im Vorlauf der Aufführung viel Erzählraum gewidmet. So kritisch mit seiner Heimat, wie man es erwartet hatte, geht Rau in Tell nun aber nicht vor. Eher harmlos und für Zürich nichts wirklich Neues bringend ist die Revue der helvetischen Schwächen, die auf der Bühne vorgeführt wird. Wir haben mehr erwartet.
Wilhelm Tell, Zürich: Ziemlich neu
Lieber Rudi! Dem Rest der Welt war das aber ziemlich neu. Schönen Gruß aus der Fremde.
Wilhelm Tell, Zürich: NTGent
NTGent ist nicht das Nationaltheater Gent - sondern das Niederländische Theater Gent (auch Nederlands Toneel Gent, NTGent oder NTG). Heutzutage wird nur NTGent oder NTG benutzt.

(Werter Gast, vielen Dank für den Hinweis, wir haben's korrigiert. MfG, Georg Kasch / Redaktion)
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