Die Kunst der Wunde - Schauspiel Leipzig
Text-Turner in der Gummizelle
1. Mai 2022. Als Gebilde aus Worten und Herrschaftspraktiken stellt Katja Brunners neues, an Judith Butler geschultes Stück "Die Kunst der Wunde" den Staat vor. Uraufführungsregisseurin Katrin Plötner bittet die Bürger in die Hüpfburg.
Von Theresa Schütz
1. Mai 2022. "Schau wie sie gucken, guck wie sie schauen!" Es ist die Macht von Blicken, wie man sie in alltäglichen Situationen, zum Beispiel bei einer Fahrt in der Straßenbahn kennt. Wertend, urteilend, verletzend. "Schau wie sie gucken, guck wie sie schauen, die wissen es, die haben es verstanden, länger schon gewusst, dass mit dir, dass mit dir etwas nicht stimmt." In der ersten Szene des Abends sind wir es, die adressiert werden als Zu-Schauende. Wir schauen auf fünf verschiedene Körper in einer weißen Gummizelle, die auch etwas von einer Hüpfburg hat. Die fünf geben vor, diese zufällige Bahngemeinschaft zu sein, aus der diejenige Stimme hervorragt, die sich den Blicken und Zuschreibungen der anderen ausgeliefert fühlt.
Nach zweimaliger pandemiebedingter Verschiebung kommt mit mehr als einem Jahr Verspätung, finally, Katja Brunners neues Stück "Die Kunst der Wunde", ein Auftragswerk des Schauspiels Leipzig in der Regie von Katrin Plötner, in der Diskothek zur Uraufführung. Und es ist dieses raumgreifende Bild der Weichzelle, das die Inszenierung von Beginn an dominiert: Ein Raum, der vor (Selbst-)Verletzung schützen soll, wird hier zur Institution, die Wunden überhaupt erst zufügt. Und er bleibt zugleich ein Kunst-Raum für Brunners Textflächen, die sich viel vorgenommen haben. Zu viel vielleicht. Nichts Geringeres nämlich als die Befragung des "Staats" und all jener sozialen Körper, die ihn formieren und ihrerseits von ihm in existentieller Weise geprägt werden.
Eingeliefert ins Krankenhaus
Die fünf Schauspieler*innen verkörpern hier keine Figuren, sondern Sprechinstanzen. Plötner organisiert sie mal als hüpfende Gymnastikgruppe, getrieben vom Motto "Es geht vorwärts, immer vorwärts!", mal als mit Kinder-Masken versehene, buchstäblich sich kopfüber in das "System" Hineinwerfende, mal als pantomimisch rauchende Autoritäten, die auf der oberen Zellenschwelle thronend erklären, woraus der Staat gemacht ist. Dass sich das szenische Spektrum rasch erschöpft, liegt zwar auch daran, dass sich viele Textflächen einer Bebilderung entziehen. Vor allem liegt es aber an der Dominanz dieser pathologisierenden Staat-als-Gummizellen-Analogie, die mit Blick auf die Stückfassung eine Komplexitätsreduzierung darstellt.
Denn der Stücktext sieht eine Konstellation vor, in der "sieben der Sphäre des Krankenhauses zuzuordnenden" Sprechinstanzen auf einem Felsbrocken stehen, der den Anschein macht, lebendig zu sein und zu atmen. Im Stück ist so eine interessante Auseinandersetzung mit der Rolle und der Diskursmacht von Ärzt*innen in der Pandemie angelegt, die in der Inszenierung jedoch nicht lesbar wird. Schließlich verknüpft der Bühnenraum die Körper zuvorderst mit der Position der Eingelieferten bzw. der das System Reproduzierenden.
Gestus der Bescheidwisser
Der Text vollzieht gewissermaßen die These, dass nicht zuletzt auch der Staat aus Worten gemacht ist. Aus machtvoller Sprache in Form von Regeln, Normen und Gesetzen, mit denen ethische Anerkennungsprozesse verbunden sind, die – im Sinne der als widmende Vorrede zitierten Judith Butler – die Verletzbarkeit mancher Körper über die anderer stellt. Und so wohnt Brunners Text angesichts einer Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen des Politischen sicher nicht ohne Grund dieser spezielle Gestus einer Bescheid wissenden Sprache inne, die vornehmlich aufzählt, definiert, appelliert, posiert oder normiert und damit das Potential birgt, Wunden zuzufügen.
Hilflose Staatssäuglinge
Gefangen in der dominanten Bühnen-Bild-Idee schafft es die Uraufführung nicht, den sperrigen Textflächen eine sinnliche Erfahrungsebene zu verleihen, die wirklich angeht, berührt oder zu tieferem Nachdenken der existenziellen Verletzlichkeit-Thematik inspiriert. So wirkt im Verlauf jedes weitere Herumhüpfen, Kopf-in-den-Boden-Stecken oder Wiegen imaginierter "Staatssäuglinge" auch immer hilfloser. Weshalb es eine recht wirkungslose Sprech-Stunde bleibt.
Die Kunst der Wunde
von Katja Brunner
Regie: Katrin Plötner, Bühne: Anna Brandstätter, Kostüme: Johanna Hlawica, Musik: Constantin John, Dramaturgie: Benjamin Große.
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Denis Grafe, Eidin Jalali, Dirk Lange, Katharina Schmidt.
Uraufführung am 30. April 2022
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Kritikenrundschau
Katja Brunner hat aus Sicht von Thilo Sauer von der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (2.5.2022) einen starken Text, ja ein "Sprachkunstwerk" geschrieben, "der mit Sprachmacht und Witz die Bandbreite eines eher philosophischen Gedankens vermittelt." Katrin Plöttner schafft es aus Sicht des Kritikers zwar, "die verschiedenen Ebenen herauszuarbeiten und verständlich zu machen." Doch insgessamt bleibt die Inszenierung für ihn zu statisch.
Dimo Rieß lobt in der LVZ (2.5.22) Anna Brandstätters Bühne, "auf der man mit kindlicher Freude am liebsten mitturnen will", sowie das Ensemble für konzentriertes Spiel, das "zumindest punktuell" Figuren aus der "Textmasse" herausarbeite." Mit viel Gefühl für den Sprachrhythmus und manchmal fast clownesken Choreografien" würden schöne Theatermomente gelingen. Dennoch vermisse man Fokus in "diesem inhaltlich entgrenzten Unterfangen" und dem "aufzählenden, abgehackten Gedankenfluss".
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