Die einzige Frage

3. Mai 2022. In der vergangenen Woche erschein ein Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, unterzeichnet von Alice Schwarzer, Edgar Selge, Franziska Walser, Lars Eidinger und anderen, der forderte, keine schweren Waffen in die Ukraine zu senden. Die Reaktion: Spott und Gegenwehr – hinter denen eine beunruhigende Selbstbeschränkung des Denkens steckt.

Von Michael Wolf

3. Mai 2022. Am Freitag erschien auf der Website des Magazins Emma ein Offener Brief, der – mit Verspätung, denn er hatte da bereits seine Politik geändert – Bundeskanzler Scholz in seiner Zurückhaltung in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine bestärkte. Zu den Erstunterzeichnern zählen Initiatorin Alice Schwarzer, Franziska Walser, Lars Eidinger und Edgar Selge. Letzter konkretisierte den Brief in einem Interview mit dem Tagesspiegel: "Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für diesen Offenen Brief, weil es im Moment eine Eskalation in der Rhetorik gibt in der öffentlichen Diskussion, die beendet werden muss. Wir fokussieren uns hier unausgesetzt auf Waffenlieferungen statt auf Waffenstillstand.“ Kurz zuvor hatte sich schon Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung irritiert gezeigt von der "Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten“.

Ein Mut, der sich aus moralischer Überlegenheit speist

Sollte es den beiden um eine Versachlichung der Debatte gegangen sein, so ist ihr Vorhaben gescheitert. Vor allem der Offene Brief erntete viel Spott und Gegenwehr. Der polnische Autor Szczepan Twardoch forderte, die Unterzeichner mögen sich ein Leben lang für ihre Unterschrift schämen. "Die Welt wird ihnen und ihresgleichen nicht vergessen, dass sie im Augenblick der Bewährung für den Stärkeren Partei ergriffen haben – für den Bösen – und gegen diejenigen aufgetreten sind, die ihre Heimat vor Kriegsverbrechern zu verteidigen suchten.“

Es ist wohl diese Rhetorik, die Selge und Habermas meinen: ein Mut, der sich aus der moralischen Überlegenheit der Ukraine und des Westens speist und der keine Skepsis mehr zulässt. Noch zu Beginn des Krieges schien es zumindest noch nicht inopportun, Szenarien zu skizzieren, den Krieg militärisch rasch enden zu lassen, um ihn auf wirtschaftlicher und politischer Ebene fortzuführen. Inzwischen werden solche Vorstöße in die Nähe eines Verrats gerückt, während alte und ganz neue Geostrategen zu immer schwereren Geschützen greifen.

"Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur"

Ruprecht Polenz (CDU) warf den Unterzeichnern zunächst Naivität, dann Zynismus vor, und präsentierte sogleich eine altbekannte Lösung für das Problem: "Wir müssen stattdessen wieder auf glaubwürdige Abschreckung setzen wie im Kalten Krieg: Die Drohung mit gegenseitiger Vernichtung – 'wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter' – hat Armageddon verhindert.“

Und der Musiker Wolfgang Müller schrieb in einem Kommentar, der beim Spiegel erschien:
"Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr." Als perfide kritisierte er eine zentrale Passage des Offenen Briefs, in dem auch den möglichen Zielen einer atomaren Aggression Verantwortung für diese auferlegt wird. "Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur", empört sich Müller, womit er Recht haben mag, aber die Stoßrichtung des Satzes doch verkennt.

Wir brauchen verschiedene Lösungen

Dem Schreiben von Alice Schwarzer et al. ging es ja gerade um eine Infragestellung der so klaren Moral, um eine Erschütterung der Einteilung in Gut und Böse, über die Müller und viele andere so vehement wachen. Der Offene Brief deutete auf den Widerspruch hin, dass auch die reinste Absicht Schuld auf sich laden kann, dass es nach einem Atomkrieg gleichgültig wäre, wer mit der Gewalt begonnen hat.

Noch ein Zitat aus Müllers Text: "Wenn das Deutsche »Nie wieder« in Bezug auf Faschismus nicht weiterhin eine reine wohlfühlige Nostalgie-Posse sein soll, ist es alternativlos, Haltung zu zeigen. Und ja, ich habe große Angst, wie vermutlich jeder. Aber die Frage, die einzige Frage, die man sich immer wieder stellen muss, ist: Wer will ich sein und wie will ich leben?" Es ist diese Selbstbeschränkung des Denkens, die mich beunruhigt, diese Fokussierung auf einzige Fragen, dieses Festhalten an der einzigen Reaktion. In Krisensituationen sollten freie Gesellschaften ihre Energie besser darauf verwenden, verschiedene Lösungen zu entwickeln und sie gegeneinander abzuwägen. Gerade diese Fähigkeit haben wir doch autoritären Regimen voraus.

 

Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Literarisches Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Gegen die Verengung
Danke, die letzten Sätze beschreiben, was mich auch sehr bestürzt: diese Verengung der Debatte. Wann, wenn nicht jetzt, sollten alle Kräfte aufgewendet werden, um vielfältige Lösungsansätze zu entwickeln, um diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden. Stattdessen ausschließlich militärische Rhetorik und Beißreflexe gegen alle, die Bedenken äußern.
Kolumne Wolf: Wenig Gehalt
Es tut mir leid, aber ich verstehe den Impetus des Textes nicht und sehe keinen echten Gehalt. Argumentativ ist das alles ziemlich dünnes Eis.
Sie wollen keine klare Moralisierung in einem Täter-Opfer-Verhältnis. Das Opfer soll sich doch mit dem brutalen Täter an einen Tisch setzen und endlich mal reden statt sich zu verteidigen.
Ernsthaft?
Was soll denn im Moment die Pseudo-Sachlichkeit bringen? Dass während Verhandlungen, an der Russland nicht wirklich interessiert ist, weiter gemordet, vergewaltigt, zerstört wird? Ich empfinde solche Argumentation als Zeichen einer arroganten Wohlstandsverwahrlosung, die zwar softer klingt als die andere Seite, aber genauso moralisch tut.
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