Was nützt die Liebe in Gedanken?

6. Mai 2022. Christopher Rüping eröffnete gestern mit "Das neue Leben. Where do we go from here" das Berliner Theatertreffen. Für die Reihe "Das Theatertreffen 2022 von außen betrachtet" bitten wir Expert:innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs, das Festival zu begutachten.

Den Anfang macht Popkulturexpertin Annett Scheffel

"Das neue Leben" am Schauspielhaus Bochum © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

6. Mai 2022. Wie erzählen wir uns von der Liebe? Vom Gefühl der Verliebtheit, das hin und wieder, manchmal in ganz alltäglichen, geradezu banal wirkenden Momenten, über das menschliche Bewusstsein schwappt wie eine Welle in der Brandung, ohne dass wir es kontrollieren könnten? Im besten Fall schafft man es, halbwegs elegant hinein zu hopsen; im schlechtesten brennen die Augen vom Salzwasser und man hat Sand in der Badehose. Trocken bleibt keiner. Es lässt sich schwer kontrollieren – die Welle und das Gefühl – weswegen wir es wenigstens in Gedanken und Geschichten und tausend klugen, poetischen Worten zu fassen bekommen wollen. Abgeschlossene Formen für die Undurchdringlichkeit der individuellen emotionalen Erfahrungen.

Eine Liebe, ewig unausgesprochen

Der Mensch erzählt sich selbst vom Leben und von der Liebe. Vom Hadern und vom Scheitern. Und von all den Momenten, die sich nicht zurückholen lassen. Das haben Dante und Britney Spears gemeinsam. Um diesen kleinen, großen Kern dreht sich Christopher Rüpings Stück "Das neue Leben. Where do we go from here". Frei nach Dante Alighieris spätmittelalterlichen Minnedichtung und Popsongs aus den letzten dreißig Jahren entwickelt er die Geschichte einer großen Liebe in all ihren Stimmungslagen und psychologischen Nebeneffekten. Groß ist diese Liebe aber nur in Gedanken. Rüping und seine vier Schaupieler:innen nähern sich auf der Theaterbühne Dantes Jugendwerk "Vita Nova", das von der idealisierten und unerfüllten Liebe Dantes zu Beatrice erzählt. Dante hat seine Gefühle seiner frühverstorbenen Geliebten nie gestanden. Die Liebe, sie blieb bis in alle Ewigkeit unausgesprochen.

Das neue Leben1 1200 Jorg Bruggemann Ostkreuz 10 Das Kreisen um den kleinen, großen Kern der Sehnsucht: Damian Rebgetz, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, William Cooper © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz und Anne Rietmeijer probieren Dantes Zeilen nun an wie Kleider. Wie fühlen sie sich an? Passen die Fragen und Problem des flammend verliebten Dantes zu uns und in unser (post-)pandemische Hier und Jetzt? Wie vertragen sie sich mit all den smarten Gadgets und der nüchternen Vernunft unserer hochtechnisierten Zeit? Was ist das Wesentliche an der menschlichen Sehnsucht nach Begegnung? Was machen wir – jede:r Einzelne von uns und wir als Gemeinschaft – mit diesem riesigen emotionalen Berg, aufgeschüttet in Jahrhunderten. Kurzum: "Where do we go from here", wie Rüping sein Stück im Untertitel benannt hat.

Der Theatersaal als kollektives Gehirn

Die Bühne ist relativ karg bestückt und ganz in Schwarz. Ein paar Scheinwerfer links und rechts, auf dem Boden neun konzentrische weiße Kreise, die – man ahnt es gleich – in der zweiten Hälfte wichtig werden, wenn der Abend in Hölle, Fegefeuer und Paradies der "Göttlichen Komödie" hinüberkippt. Dazu später mehr.

Erst einmal graben sich die vier Schauspieler:innen aber durch diverse Gefühlsschichten der Liebe. Sie alle sind abwechselnd Dante. Oder besser: verschiedene Teile eines von Sehnsüchten und Ängsten hin und her geworfenen menschlichen Bewusstseins. Und weil das Saallicht über weite Teile des Stücks hinweg nie ganz heruntergedimmt wird und die Übergänge zwischen Bühne und Zuschauerraum unscharf macht, fühlt man sich im Publikum automatisch mit inbegriffen. Der Theatersaal wird zu einem kollektiven Gehirn, in dem Gedanken, Geschichten und Erinnerungen herumspuken. Und bekannte Popmelodien.

Ein Emotionen-Striptease

Neben Dantes Dichtung gibt es nämlich immer wieder auch Popsongs. Schonungslos sentimental vorgetragen, ohne Rücksicht auf Schamgefühl und begleitet von einem vorprogrammierten selbstspielenden Klavier. In diesen Momenten wird die Bühne zu einer Art Karaoke-Bar – der perfekte Ort für einen emotionalen Striptease. Da ist Meat Loafs Schmacht- und Powerpop-Ballade I Would Do Anything for Love (But I Won't Do That) oder Natasha Bedingfields These Words. Und gleich zu Beginn Whitney Houstons I Will Always Love You, für das die Schauspieler:innen im Chor in fragile Tonhöhen segeln. Das große wuchtige Abschiedslied, das Houston einst für ihren Filmpartner Kevin Costner in "Bodyguard" sang, ist eine interessante Wahl mit vielen Doppeldeutigkeiten.

Das neue Leben2 1200 Jorg Bruggemann Ostkreuz uDie Sehnsucht am Mikrofon: Damian Rebgetz, William Cooper © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Die größte ist vielleicht, dass es in dem Song eigentlich gar nicht unbedingt um die romantische Liebe geht. Geschrieben wurde das Original nämlich schon 18 Jahre vor "Bodyguard" 1974 von der Country-Musikerin Dolly Parton, die in Interviews immer betont hat, das Stück behandle die berufliche Trennung vom musikalischen Partner Porter Wagoner. Bei Rüping wird es zu einem Fake-Abschiedssongs: Seine vier Dantes singen ihn für eine andere Edelfrau. Eine vorgetäuschte Liebe, um die wahre Geliebte zu verheimlichen. Was in sich in diesem Übereinanderlegen der Bedeutungsschichten noch einmal besonders schön zeigt: Ein guter Popsong schmiegt sich an alle Umstände und kann Soundtrack für Millionen verschiedener Lebensrealitäten sein. Wir hören, was wir hören wollen. Wir hören, was wir hören, weil wir sind, wer wir sind.

Britney darf nicht fehlen

Deswegen darf in Christopher Rüpings multidimensionalem Klang- und Bedeutungsraum natürlich auch Britney Spears nicht fehlen. Selten ist ein Popstar als Projektionsfläche für jedwede Publikumsfantasien so perlweiß gewesen: Um die Jahrtausendwende dafür, was die Gesellschaft von jungen Frauen erwartet wurde; in den letzten Jahren – im Zuge der "Free Britney"-Bewegung – dafür, wie hochproblematisch und sexistisch der Umgang mit Frauen in der Musikindustrie war und immer noch ist. Auf der Theaterbühne singen die Schauspieler:innen ihren Mega-Hit Baby One More Time, der auf einem kleinen, aber nicht unwesentlichen Übersetzungsfehler basiert, den Rüping in sein Stück einbaut und von Anna Drexler kurz anreißen lässt: Gemeint hatte der schwedische Erfolgs-Songwriter Max Martin eigentlich: "Hit me up, one more time" – die Bitte also, noch einmal anzurufen. Weil das „up“ sich aber aber nicht mit der Melodie vertrug, entstand der Augenbrauen anhebende Refrain: Hit me baby one more time. "Hit" heißt bekanntlich schlagen. Die Doppeldeutigkeiten, in denen wir über uns von der Liebe erzählen, sie sind manchmal eben auch furchtbar gruselig. 

Um seine Dantes und das Publikum von der Qual der unerfüllten Liebe zu befreien, reist Rüpings Inszenierung schließlich mit uns durch alle neun Kreise von Inferno und Purgatorium. Plötzlich ist der Saal dunkel und die Schauspieler:innen bewegen sich zu lauter, intensiver Elektro-Musik wie Irrgestalten um ein gigantisches Lichtpendel. Am Ende treffen sie auf Viviane De Muynck als eine stark gealterte Beatrice, die ein paar recht unsentimentale, aber irgendwie tröstende Lebensweisheiten bereithält. Ist das das Paradies? Keine Ahnung. Wichtig ist vielleicht erstmal nur: Irgendwann sind wir nicht mehr hier. Und vieles wird nie gewesen sein. Aber … noch haben wir ein klein wenig Zeit.

 



annettscheffel 735 72dpi Credit Thomas NeukumAnnett Scheffel ist freie Autorin, Redakteurin und Moderatorin. Für die Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online, Musikexpress, Dummy Magazin, Fluter, Deutschlandfunk u.a. macht sie sich Gedanken über Popmusik, Film, Feminismus und Gegenwartskultur – am liebsten an den herrlich unübersichtlichen Schnittstellen zu Politik und Gesellschaft. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

 

In der Reihe Das Theatertreffen 2020 von außen betrachtet hat nachtkritik.de Expert:innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs gebeten, die Berliner Festivalgastspiele zu begutachten. Aus frei gewähltem Blickwinkel, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben. Zu allen Einladungen finden sich auch Nachtkritiken, die bereits zur Premiere der Produktionen entstanden. 

Die Nachtkritik zur Premiere von Das neue Leben. Where do we go from here am Schauspielhaus Bochum gibt es hier.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2022 geht es hier entlang.

 

 

 

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