Was ist das Leben?

8. Mai 2022. In seinem Roman "Hiob" schildert Joseph Roth das Schicksal Mendele Singers und seiner Familie, eine Geschichte von biblischer Wucht und wundersam gebrochenem Happy End. In Frankfurt inszeniert Johanna Wehner den Roman als kollektive Erinnerungsarbeit.

Von Barbara Luchner

Johanna Wehner inszeniert "Hiob" am Schauspiel Frankfurt © Birgit Hupfeld

8. Mai 2022. Eine Klezmer-Klarinette ruft und das Ensemble kommt freudig winkend auf die Bühne. Christoph Pütthoff eröffnet den Abend: "Sehr geehrte Damen und Herren, was ist das Leben?“ Immer wieder werden die Schauspieler:innen ihre Erzählung mit den immer selben Fragen an das Publikum unterbrechen: "Was ist das Leben? Was wollen Sie vom Leben?" Auch im Verlauf des Lebens ist das die prägende Frage: Wer will was und wie ist die Frage nach dem Leben zu verstehen?

Das Leben rinnt dahin

In einer sehr dichten, gründlichen Textfassung von Joseph Roths 1930 erschienen Roman "Hiob", für die Bühne bearbeitet von Regisseurin Johanna Wehner, erzählt das siebenköpfige Ensemble die Geschichte des frommen jüdischen Lehrers Mendel Singer, seiner Frau Deborah und den gemeinsamen Kindern – den Söhnen Jonas und Schermajah und der Tochter Mirjam. Mendel und Deborah wissen selbst, wie das Leben ist: "Es rinnt dahin." Nach dem Sommer folgen Regen und der Winter, es vergehen zwölf Monate. Es beginnt wieder von vorne.

hiob1 foto hupfeld uNils Kreutinger, dahinter: Caroline Dietrich, Christoph Pütthoff, Agnes Kammerer © Birgit Hupfeld

Unterbrochen wird das Dahinrinnen von der Geburt des vierten Kindes. Menuchim, "der Tröstende", kommt zur Welt. Er wird am Ende der einzige Sohn sein, der den Krieg überlebt. Die Bühne erhellt sich zum ersten Mal vollständig, als sein Name erklingt; die Klarinette setzt erneut ein. Im ansonsten kahlen Bühnenraum steht das Haus der Familie Singer. Eine kleine, graue Holzkonstruktion, nach vorne hin offen, Dach und Rückwand bestehen aus versetzten Holzlatten; es fällt von allen Seiten Licht herein.

"Ich will..."

Im und ums Haus herum erzählt Wehner den Roman als Erinnerungsarbeit: Eine Familie denkt zurück. Ihre Mitglieder werfen sich gegenseitig die Bälle zu, schlüpfen in Rollen, Stimmen. Das ist schön rhythmisch gebaut – und würde auch ohne Bühnenhaus und die leicht historisierenden Kostüme funktionieren.

Nur manchmal schlägt der Abend bewusste Parallelen zur Gegenwart. Als die Pocken in der Stadt ausbrechen, kommt unweigerlich "das Impfthema" auf. "Da müssen wir jetzt kurz durch" verkündet Nils Kreutinger den Zuschauer:innen. Es bleibt zum Glück versprochen kurz, denn die Inszenierung läuft ohnehin Gefahr, ins Didaktische abzudriften, das immer anklingt, wenn das Publikum wieder nach dem Leben gefragt wird oder sich die Figuren in ihrem "Ich will, ich will…" verrennen, weil sie nicht benennen können, was sie wollen. Zwei Antworten scheinen schließlich doch auf: "Freiheit" und "Frieden" – beide rücken das Bühnengeschehen unweigerlich in die Gegenwart.

Die gemeinsame Erzählung kommt nie zum Erliegen

Alle weben sie auf der Bühne an der Geschichte: Es gibt keine fixen Rollenzuweisungen, sondern in ihrer Erinnerungsarbeit schlüpfen die Schauspieler:innen spontan in Figuren, ergänzen einander, erzählen chorisch, dann wieder allein. Der Rhythmus des Abends komponiert sich maßgeblich über die präzise gearbeitete Sprache. Auffallend stark ist dabei die Dreierkonstellation Caroline Dietrich, Heidi Ecks und Agnes Kammerer; ihnen gegenüber steht ein verhältnismäßig langes, aber ebenso intensives Solo von Matthias Redlhammer nach der Pause. Die gemeinsame Erzählung kommt so nie zum Erliegen.

hiob3 hupfeld uFaust der Freiheit: Agnes Kammerer, Stefan Graf, Matthias Redlhammer © Birgit Hupfeld

Im zweiten Teil ergänzt Volker Hintermeier sein zurückhaltendes Bühnenbild um die Faust und Flamme der Freiheitsstatue: Amerika. Die beiden älteren Söhne wurden zum Wehrdienst einberufen; Schermajah lebt nun nach seiner Desertion in Amerika, während Jonas beim Militär ist. Als Mendel beschließt zu Schermajah, der nun Sam heißt, nach Amerika zu emigrieren, lässt er den kranken Menuchim zurück. Dann bricht der Krieg aus.

Vom Wunder der Kunst

Und auch hier ist der kurze Hinweis von der Bühne herab, der Satz "Der Krieg in Europa ist ausgebrochen" sei von Roth vor fast 100 Jahren geschrieben und nun wieder gültig, an gleicher Stelle werde wieder Blut vergossen, ein Aufzeigen zu viel. Wer hier die Aktualität des Romans noch nicht begriffen hat, dem ist auch mit dem Zaunpfahl nicht zu helfen. Es stellt sich durch diesen Kommentar die Frage, welchen Abend wir gesehen hätten, welche Geschichte gehört, wäre es zur geplanten Premiere am 23. April 2021 gekommen, zu einer Zeit ohne Krieg in Europa. Was hätte gesprochen außer dem Text? Was wollten wir vom Leben?

Dabei wird der Abend immer dann stark, wenn er sich auf seine Geschichte konzentriert. "Ich liebe diese stillen Stunden", sagt Mendel wieder und wieder, wenn er an die gemeinsame, vergangene Zeit mit seinem jüngsten Sohn denkt; dieser Satz hallt nach. Am Ende ist "Hiob" ja auch eine Geschichte über das Wunder der Kunst, wenn der tot geglaubte Menuchim in den USA als berühmter Orchesterleiter und Komponist wieder auftaucht – vielleicht als Urheber ebenjener reichen Klezmermusik, die Daniel Kahn und Christian Darwid für diesen Abend geschaffen haben. Ein Wunder, das nicht viel braucht, um zu wirken: eine klare Geschichte, geborgen aus der kollektiven Erinnerung – und Schauspieler:innen, die auf ihr Handwerk vertrauen.

 

Hiob
nach Joseph Roth.
Für die Bühne bearbeitet von Johanna Wehner
Regie: Johanna Wehner; Bühne: Volker Hintermeier; Kostüm: Ellen Hofmann; Musik: Daniel Kahn, Christian Darwid; Licht: Ellen Jaeger; Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Caroline Dietrich, Heidi Ecks, Stefan Graf, Agnes Kammerer, Nils Kreutinger, Christoph Pütthoff, Matthias Redlhammer.
Premiere am 07. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 Kritikenrundschau

"Immer wieder stellen die Schauspieler die eine Frage. Was ist das, das Leben?", schreibt Kevin Hanschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.5.2022). Regisseurin Johanna Wehner fokussiere sich auf drei Themen des Romans – "die Armut der Familie, die Krankheit des Sohnes und die Probleme der Auswanderung". Dabei entwickelten sich allerdings vor allem die Monologszenen "zu Klamauk". Roths "feinsinniger Roman" verwandele sich so mitunter in eine "hoffnungslose Elendssuade". Erst mit der zweiten Hälfte des Abends fände das Ensemble "zu großer Form" und gelängen vor allem Matthias Redlhammer "packende und berührende Momente".

"So sehr der Text unter den Kürzungen leiden muss, so kursorisch etwa das Schicksal der Singer-Kinder erzählt wird, so intensiv und konzentriert ist das doch", freut sich Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (8.5.2022). Die Inszenierung von Johanna Wehner sei eine "schlichte und ergreifende Einladung, sich dem Theater wieder zuzuwenden, wie sich das Theater seinem Publikum zuwenden möchte, indem es das tut, was es am besten kann". "Unaufdringlich" schälten sich an diesem Abend die Figuren heraus. Zu erleben sei ein "gemeinsames Erzählen, Rekonstruieren, Erleben", "virtuos" sei das Spiel.

Kommentare  
Hiob, Frankfurt: Liebe, Leben, Unglaublichkeiten
Ich bin befangen, denn dieser Abend hat mich gefangen. Und da ich an diesem Abend so viel Liebe empfing, möchte ich mich meiner Polemik erwehren, die ein wenig bei dieser und sehr bei der unsäglichen Kritik vom Voluntär der FAZ in mir entstand und sich eigentlich in diese Kommentarspalten herein pressen lassen möchte. Aber nein, ich folge dem Abend, der Leichtigkeit, Genauigkeit, Sanftheit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Wucht den Wahnsinn der Welt zuzulassen, die eben Roth und diese Inszenierung so einzigartig darlegen, aufzeigen, befragen, beschwören. Was ist denn das Leben? Bis auf Frau von Sternburg in der FR, scheint man ja nicht zu wissen, dass der Satz eben aus dem Roman HIOB ist. Aber bevor ich mich mehr echauffiere über die Didaktik Beschwerden der Kritiker (die in der FAZ wie hier auf Nachtkritik übrigens Schauspieler falsch benennen und scheinbar schon wissen, was das Leben ist), bleibe ich bei diesem unglaublichen Abend.
Was für Schauspieler, wie großzügig, leicht, charmant, albern, präzise, offen und uneitel, wie die mal so eben die Grundkatastrophen der menschlichen Existenz und des 20. Jahrhunderts durchexerzieren, mit gedanklicher Präzision und vollster körperlicher Verausgabung, poetisch und offen. Da ja offensichtlich alles Geschmackssache zu sein scheint, ist Argumentation sinnlos. Trotzdem beschwöre ich, wer Heidi Ecks Spiel zu guckt, wie Sie zum Beistpiel ihr krankes Kind allein zurücklassen muss, wer Caroline Dietrich zu hören darf, wie ihre Figur, falls es so etwas gibt, entdeckt, dass worauf man wartet eben GAR NICHTS ist, wer die Stille von Matthias Redelhammer hört und spürt, wenn jemand nur all dieses im ersten Teil anschauen, erleben darf, und dann folgert, die Schauspieler wären hölzern, … dem lasse ich seine Meinung, brülle aber überzeugt dem Rest der Welt zu, dieser Mensch und oder Kritiker irrt sich, und zwar gewaltig. Und verehrte Barbara Luchner, sie schreiben: „Dabei wird der Abend immer dann stark, wenn er sich auf seine Geschichte konzentriert“. Ich stimme Ihnen zu, der Abend ist stark, trotzdem sollte man doch erwähnen, dass der Abend zu 99,9 Prozent konzentriert darauf ist, diese Geschichte zu erzählen. Denn nichts anderes machen die Spieler, und im Zuschauer entstehen auf einmal Menschen, eine Familie, Schrecken, Verluste, Hoffnung und Abwehr ... und sogar ein behindertes Kind, Menuchim, wird plastisch, ohne Theaterfakes und Videoeinspielern, Perücken oder Kunstblut, nicht einmal mit einem Spieler oder Spielerin ist das Sehnsuchtszentrum dieser Welt besetzt, sondern mit den Worten ein großen Erzählers, mit Beschreibungen, ob im Chor oder nicht, ein Wunder des Theaters. Wie schade ist es, dass eine so kluge Entscheidung bis jetzt in keiner Kritik erwähnt wurde. Aber sei es drum – mein Ärger ist egal, meine Dankbarkeit sehr groß, und meine Empfehlung, schaue und höre Frau und Mann sich diese Inszenierung an. Und ich bin immer noch nicht im zweiten Teil – ja, der tut noch mehr weh, im besten, schlimmsten Sinne des Wortes, aber, so ist das mit Gschichten, Anfang, Ende ... , also Pscht, heute heißt es ja Spoileralert.
Kurz – Ich danke den wahnsinnigen Leistungen der Spieler, Caroline Dietrich, Heidi Ecks, Stefan Graf, Agnes Kammerer, Nils Kreutinger, Christoph Pütthoff, Matthias Redlhammer, die sich gegenseitig und die Zuschauer mit ihrer Hingabe und Spielfreude beschenken. Ich danke Joseph Roth für diese Texte und den anderen Beteiligten, sie so hörbar und erfahbar zu machen. Danke
Und wünsche in dieser, naja, in jeder, schwierigen Zeit, zumindest ein wenig Trost.

An diesem Abend hat man eine Chance.
Hiob, Frankfurt: Toll und schön
Was für eine tolle Inszenierung und was für eine schöne Kritik
https://kulturfreak.de/trost-im-strudel-des-lebens-joseph-roths-hiob-am-schauspiel-frankfurt
Hiob, Frankfurt: Starke Inszenierung
https://www.wiesbadener-kurier.de/kultur/kulturnachrichten/ohne-hoffnung-geht-es-nicht-hiob-am-schauspiel-frankfurt_25515828
"So entsteht ein hohes Tempo, das die Schauspieler mit großartigem Timing erzeugen. Und gleichzeitig gelingt auf diese Weise eine verblüffend dichte Figurenzeichnung."... "So konzentriert sich Regisseurin Wehner in ihrer Inszenierung ganz auf das Ensemble. Nur eine nach vorne offene Hütte dient als Kulissenelement, ansonsten bleibt die riesige, bis weit hinten einsehbare Bühne offen, nackt und schwarz. Und genau diese Reduktion auf Darsteller, Sprache und die Vorlage sorgt für die emotionale Kraft, die das Stück entwickelt."

Dank an den Autor Björn Gauges im Wiesbadener Kurier
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