Permanenter Piepschnurzismus

8. Mai 2022. Unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine hat das Theater Dortmund mit "Depeche Mode" den Roman des ukrainischen Kultautors Serhij Zhadan über die wilden postsowjetischen 90er Jahre auf den Spielplan gesetzt, rasant inszeniert von Dennis Duszczak.

Von Karin Yeşilada

"Depeche Mode", inszeniert von Dennis Duszczak in Dortmund © Birgit Hupfeld

8. Mai 2022. Ein halbleeres Haus hatte die Premiere von Jungregisseur Dennis Duszczak nicht verdient, doch das Wetter war wohl zu gut und Dortmunds Theaterpublikum schwänzte. Wer da war, hatte jedoch Spaß an dieser witzigen Adaption des gefeierten Romans "Depeche Mode" (2007) des ukrainischen Autors Serhij Zhadan. Erstmals inszenierte der beim Heidelberger Stückemarkt 2021 für den Nachspielpreis nominierte Regisseur des Dortmunder Theaters im Großen Haus. Der Wechsel gelang ihm auf Anhieb, und das mit einem sehenswerten Stück.

Wenn der Krieg in den Spielplan eingreift

Der aktuelle Angriffskrieg auf die Ukraine bewog das Team um Dramaturgin Sabine Reich dazu, ukrainische Literatur auf den Spielplan zu setzen. Serhij Zhadan bot sich an, zumal für "Depeche Mode" bereits eine Textfassung von Markus Bartl existiert, die Reich bearbeiten konnte. Zwar hätte es auch spätere Romane des Autors über den Krieg von 2014 in der Ukraine gegeben ("Internat" etwa). Doch wollten Reich und Duszczak nicht den aktuellen Krieg von den Bildschirmen auf die Bühne bringen, sondern die ukrainische Lebenswelt in Friedenszeiten zeigen. Gut so.

DepecheMode1 Foto BirgitHupfeld uDesorientiert im Wunderland des ukrainischen Postkommunismus: Mervan Ürkmez, Valentina Schüler, Adi Hrustemović © Birgit Hupfeld

Der Blick geht hier also in die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als alles und nichts möglich war. Zhadans Roadnovel über drei Studenten in Charkiw, die mit dieser neuen Zeit nichts anzufangen wissen und mit Wodka, Kippen und Depeche Mode durchs Leben driften, wurde zum Kultroman einer Generation. Damals haute der Strukturwandel in der ehemaligen Stahlstadt Charkiw übrigens ähnlich rein wie seinerzeit im Ruhrgebiet; abgerockte Fußballstadien oder stillgelegte Fabriken sind gemeinsame Erinnerungsräume. Passt also gut in die hiesige Gegend, der Stoff. Das alte Fahrrad, mit dem ein Typ die Kulisseninsel umkreist, bevor er dann vom Bühnenrand aus ins erste Kapitel des Romans einleitet, kommt einem bekannt vor. Und dann geht das Licht im Saal aus, in der Küche an, und los geht’s.

Saufen, kiffen, Postkommunismus

Ein großer, leuchtender Mond hängt über der Küchen-WG, in der die drei Freunde Serhij, Wasja Kommunist und Dog Pawlow (Valentina Schüler in übler Vokuhila-Perücke) lümmeln (Ausstattung: Thilo Ullrich). Irgendwo dudelt das Radio und die Drei tun minutenlang – nichts. Rauchen, schenken sich Wodka nach, sinnieren. Angenehme Langeweile breitet sich bis in den Zuschauerraum aus, auch wir entspannen. Ein paar gefühlte Kippen später kommt Wasja (Mervan Ürkmez in verzotteltem Langhaar, an dem er immer herumzupft) die Idee, Wodka von Russland über die Grenze zu schmuggeln und zu verticken – die neue Zeit macht den kleinen Grenzverkehr möglich.

Die Drei machen sich also auf, laufen auf der Drehbühne, während hinter ihnen die Kulissen wechseln, machen so rüber und zurück. Der Deal funktioniert, sie trennen sich, und Wasja erlebt anschließend das eigentliche Abenteuer, als er von aserbaidschanischen Schaffnern im Zug Richtung Baku festgesetzt wird und sich nur im letzten Moment durch einen Sprung aus dem fahrenden Zug retten kann. Wie Ürkmez das berichtet, seine Ängste schildert, sich mit irrem Gelächter im Gleisbett, also auf dem Bühnenboden wälzt, hat was, und bereits in dieser kleinen Actionszene ist der Funkensprung zwischen Autor (geb. 1974) und Regisseur (geb. 1991) spürbar.

DepecheMode2 FOto BirgitHupfeld uMit der Büste unterm Arm bei der Kommilitonin: Valentina Schüler, Mervan Ürkmez, Adi Hrustemović, Linus Ebner © Birgit Hupfeld

Duszczak gestaltet diesen Charkiwer Fenstersturz, nur eine der zahlreichen grotesken Absurditäten im Zhadanschen Kosmos, mit seinen gut aufgelegten Schauspieler:innen mit ansteckender Heiterkeit. Solche Momente gibt es im Verlauf des Abends noch einige mehr, und es macht richtig Spaß, dabei zuzusehen.

Postsowjetisches Chaos und Bühnenenergie

Es ist eines von Duszczaks Markenzeichen, mit wenigen Mitteln, aber viel Energie aus erzählten Situationen heraus plötzlichen Theatertumult zu entwickeln. Etwa, als die drei Jungs bei der reichen, georgischen Kommilitonin Marusja auflaufen, um ihr eine Molotow-Büste anzudrehen, die sie zuvor im Stahlwerk geklaut haben. Wie da die verschlafene Tussi (großartig aus der um sich gewickelten Bettdecke heraus: Linus Ebner in einer seiner drei Rollen) aus dem Traum aufschreckt und zur Flinte greift, um Büste samt Überbringer abzuknallen, während der entsetzte Zerhij nur noch "Scheiße, was ist das?!" schreit, ist urkomisch. Hinreißend auch die vorherige Begegnung mit dem lesenden Arbeiter Tschapaj, der den bürgerlichen Studenten erstmal einen Joint anbietet, ihnen dann von seiner kleinen Werkbank aus sämtliche kommunistischen Lektüreklassiker um die Ohren haut und sie mit seiner Theorie von Permanenten Piepschnurzismus an die Wand philosophiert, um sie dann zum Raub des Firmentresors (der doch nur eine Molotow-Büste enthält) anzustiften.

Magische Theatermomente

In diesen Momenten findet der subversive Unsinn der Romanvorlage seine kongeniale Umsetzung auf der Bühne. Da stimmt von der bühnenverregneten Werkstattkulisse bis zum Zusammenspiel der vier Schauspieler*innen, die auf engstem Raum zur Bestform auflaufen, vom Timing der Dialoge bis zum herumgereichten Joint einfach alles, und es gibt zurecht und wieder einmal Szenenapplaus. Duszczak versteht es, mit sparsamer Regie den Raum für das Spiel seiner Darsteller:innen zu öffnen und magische Theatermomente zu schaffen.

Womöglich hätte man einige längliche Monologszenen, die mit dem unterhaltsamen Treiben immer wieder wechseln, mutig einstreichen können. Aber dann hätte das nachdenkliche Ende des Romans nicht mehr funktioniert. Immerhin herrscht draußen Krieg in der Ukraine. Drinnen im großen Haus des Theater Dortmund applaudieren wir zum gelungenen ukrainisch-deutschen Abend.

 

Depeche Mode
von Serhij Zhadan
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr, Bühnenfassung von Markus Bartl, bearbeitet von Sabine Reich
Regie: Dennis Duszczak, Dramaturgie: Sabine Reich, Ausstattung: Thilo Ullrich, Sounddesign: Lutz Spira, Licht: Stefan Gimbel, Ton: Christoph Waßenberg, Gertfried Lammersdorf.
Mit: Adi Hrustemović, Mervan Ürkmez, Valentina Schüler, Linus Ebner.
Premiere am 7. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

"Die Schauspieler drehen zu Beginn auf als spielten sie Shakespeare. Dem Anfang von 'Depeche Mode' tut das nicht gut", schreibt Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (9.5.2022). Schräge Vögel sehe man auf der Bühne, geformt von einer nach der Sowjet-Äre zerfallenden Gesellschaft. "Wie sie Geld klauen wollen und eine Molotow-Büste erbeuten, das ist herrlich schräg, ironisch und komisch." Fazit: "Bis auf den Anfang ein sympathischer, witziger Abend."

"Die Dramatisierung des Romans scheint durch die aktuellen Ereignisse in der Ukraine fast ein Gebot der Stunde", so Jens Dirksen in der WAZ (9.5.2022). "Aber die Eile, mit der sie in Dortmund auf die Bühne gerückt wurde, war zu sehr zu spüren." Die beiden pausenlosen, fast kurzweiligen Stunden seien zu zu wenig, um das Roman-Panorama erahnen zu lassen. Es bleibe beim "Taumeln ins Erwachsenenleben zwischen den Trümmern der Kommunismuspleite und Blüten des Raubtierkapitalismus."

Der Charme von 'Depeche Mode' liege in den Dialogen, "die schnell und in rauem Sound gerne auch mal das Absurde streifen", so Christoph Ohrem vom Deutschlandfunk (8.5.2022). Die Regie arbeite eher den Humor des Textes auf und konzentriere sich weniger auf die Abgründe aus Suff und Gewalt. "Und doch zeichnet auch Duszczak das Bild einer komplett desillusionierten Generation." Das Stück vermittle ein Gefühl, wie es gewesen sein muss, am Ende der Geschichte auf der Seite der Verlierer zu stehen.

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