Ein Vater seiner Klasse

8. Mai 2022. Für die Reihe "Das Theatertreffen von außen betrachtet" bitten wir Expert:innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs, Stücke der Zehnerauswahl zu begutachten. Lukas Holzhausens Bühnenadaption von Christian Barons Roman über eine Jugend im Schatten klassenbedingter Unterprivilegiertheit hat sich ein Sozialwissenschaftler angeschaut.

Von Houssam Hamade

8. Mai 2022. Als Arbeiterkind wächst er in einem sozialen Brennpunkt von Kaiserslautern auf. Zu viert wohnt die Familie in einer engen Wohnung. Sein Vater schuftet als Möbelpacker. Heute würde man diesen als "working poor" bezeichnen. Jemand, der arbeitet und arbeitet und trotzdem kein Geld hat. Der Vater trinkt zu viel und ist gewalttätig. Die Mutter ist krank und depressiv und schafft es nicht, sich vom Vater zu trennen. So lässt sich in etwa die Geschichte der Theateraufführung von "Ein Mann seiner Klasse" nach dem autobiografischen Roman von Christian Baron beschreiben.

Es ist nicht leicht, Klassenverhältnisse in einem Theaterstück darzustellen, wie es das Stück von Lukas Holzhausen versucht. Die Aufführung riskiert, in eine Ausstellung von Menschentypen abzudriften. Hier der trinkende und prügelnde Vater, dort die hilflose Mutter, die an Depressionen leidet.

Das Programm der Klassenherkunft

In einem Interview mit der Dramaturgin Annika Henrich erklärt Baron selbst, dass der Grat zwischen Aufklärung und Sozialporno bei diesem Thema besonders schmal sei. Die Frage sei, ob es einen Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft leiste, oder wird nur ein Menschenzoo dargestellt?

Der Unterschied zwischen stereotyper und realistischer Darstellung ist der, dass echte Menschen handeln und eigene Entscheidungen treffen. Sie sind nicht nur Roboter, die das Programm ihrer Klassenherkunft abspulen. Aber auch. Der Mensch ist ein Dreiviertelautomat, wie der Soziologe Pierre Bourdieau erklärte. Heißt: Unsere Klassenherkunft hat einen enormen Einfluss auf uns, aber es gibt auch Fenster des freien Handelns.

Genau in diese Stelle springt die Aufführung hinein. Die erste gesprochene Szene zeigt den jungen Christian Baron als Ich-Erzähler, gespielt von Nikolai Gemel. Er erklärt, dass er dem Vater die Wunden verzeihe, die er ihm zugefügt habe. In anderen Worten: Er entscheidet sich damit, den Klassenverhältnissen die Schuld zu geben und nicht dem Vater.

Erschreckende Gewaltszenen

Dass das nicht so einfach ist, zeigen die Darstellenden das ganze Stück über. Der Vater selbst taucht in einer Doppelrolle auf: Als Arbeiter mit wettergegerbtem Arbeitergesicht mit sauberen, weißen Turnschuhen und weißem T-Shirt, der das ganze Stück über einen Raum auf der Bühne aufbaut, bestehend aus vier Holzwänden. Er schraubt und hängt ein und tapeziert und unterbricht seine Arbeit immer wieder für ein Päuschen. Der Laiendarsteller Michael "Minna" Sebastian spricht als Vater dabei kein Wort, ist aber immer anwesend mit seiner starken und ruhigen Präsenz. Über die Lausprecher ist aus dem Off immer wieder auch der Vater zu hören, mit der Stimme von Jan Thümer, wie er kommentiert, schimpft, meckert, witzelt und am Ende auch weint.

ein mann seiner klasse 2 C KatrinRibbe Wilde Loyalität: Das Kind und die rettende Tante © Katrin Ribbe

Das Stück beschreibt das ambivalente Verhältnis Barons zu seinem Vater. Er leidet unter dessen krassen Wutausbrüchen und dessen Sauferei. Erschreckende Gewaltszenen sind über die Lautsprecher zu hören, aber nicht direkt zu sehen. Gleichzeitig fühlt sich Christian auch beschützt von dessen starken und tätowierten Armen, von denen er immer wieder spricht. Der Vater zeigt sich auch liebevoll und stärkend, als er dem Sohn einmal erklärt, dass es ihm egal sei, ob der eine Frau sei oder schwul, wichtig wäre, dass er seinen Stolz nicht verliere. Allein darauf komme es an.

In einer Doppelrolle spielt Stella Hilb die Mutter, die früh an Krebs stirbt, sowie ihre Schwester, Tante Juli, die später die Kinder bei sich aufnimmt. Zum Teil ist es zwar etwas schwierig, Mutter und Schwester zu unterscheiden, dennoch sind beide eindrucksvolle Figuren. Gerade Tante Juli beeindruckt mit ihrer wilden Loyalität und der Kraft ihrer Stimme, mit der sie unter anderem ihre Schwester vor dem übergriffigen Großvater schützt und dabei selbst in Gefahr kommt. Rührend ist auch die Szene, in der sie bei der örtlichen Zeitung anruft und mit lauter Stimme und pfälzischem Dialekt den Redakteur dazu auffordert, ihrem Neffen doch einen Artikel schreiben zu lassen. Der sei nämlich "sehr talentiert".

Freispruch nicht möglich

Hier zeigt sich auch, dass die Klassenherkunft unser Verhalten nicht vollständig bestimmt. Die Tante ist schließlich auch keine prügelnde Trinkerin. Das Verhalten des Vaters wird dennoch im Laufe des Stücks nachvollziehbar. Dessen starke Männlichkeit, die so toxisch sein konnte, ist auch ein Anpassungsmechanismus an seine Klassensituation. Am Ende eröffnet der Ich-Erzähler den Zuschauenden noch, dass es gar nicht er war, der dem Vater verziehen hat, sondern Benny, der Bruder.

Das ist stimmig und zeigt, dass das Stück und Christian Baron das anfangs angesprochene Problem ernst nehmen: Ein vollständiger Freispruch des Vaters ist nicht möglich, auch wenn er sich den wünscht. Aber zu großen Teilen ist der Vater eben genau das, was der Titel sagt: Ein Mann seiner Klasse.

 

HoussamHamade privatHoussam Hamade war unter anderem Kickboxer, Heilerziehungspfleger, Partyorganisator und Türsteher. Nun schreibt er viel und unterrichtet außerdem angehende Erziehende zu Rassismus und sozialer Ungleichheit. Als Autor und Sozialwissenschaftler arbeitet er hier und da als solcher. Houssam Hamade schreibt außerdem Bücher über menschliche Grenzfragen wie: Warum prügeln sich Leute oder warum tun gute Menschen schechte Dinge? Und er schreibt politische Texte für verschiedene Zeitungen.

 

In der Reihe Das Theatertreffen 2020 von außen betrachtet hat nachtkritik.de Expert:innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs gebeten, die Berliner Festivalgastspiele aus einem frei gewähltem Blickwinkel zu begutachten.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2022 geht es hier entlang.

Kommentare  
Ein Mann seiner Klasse, Theatertreffen Berlin: Sehenswert aber nicht bemerkenswert
2003, als Baron gerade Abitur machte, erste Artikel über die Basketball-Oberliga in der Rheinpfalz veröffentlichte und sich bei den Jusos engagierte, wurde das Leben der Prekariatsschicht, aus der er stammt, durch die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung noch härter. Die Inszenierung positioniert sich in einem eingespielten Monolog kurz vor Schluss klar gegen die Einführung von Hartz IV, der strengen Sanktionen, des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit: Themen, bei denen auch die beiden Zeitungen Neues Deutschland und Freitag, für die Baron schreibt, immer sehr klar Position bezogen.

Lukas Holzhausen, der 2019 vom Volkstheater Wien ins Ensemble des Schauspiels Hannover wechselte und seit Jahren auch immer wieder Regie führt, gelang mit „Ein Mann seiner Klasse“ eine schlüssige Inszenierung, die relevante Themen bearbeitet und an der es handwerklich und dramaturgisch nichts auszusetzen gibt. Die Romanadaption ist eine überzeugende Arbeit für das Repertoire des Schauspiels Hannover, läuft an diesem mittelgroßen Haus aber nur auf der kleinsten Bühne im Ballhof Zwei.

Die Einladung zum Theatertreffen war die größte Überraschung in der 10er-Auswahl für den Mai 2022. In sich ist die Arbeit rund, was nach der schwachen Theatertreffen-Eröffnung mit „Das neue Leben“ tatsächlich ein Grund zum Aufatmen ist, und durchaus sehenswert, aber erfüllt sie auch das zentrale Kriterium, besonders „bemerkenswert“ zu sein? Ästhetisch ist „Ein Mann seiner Klasse“ über weite Strecken eine frontal ins Publikum erzählte Roman-Adaption, die nichts falsch macht, aber auch keine neuen Wege ausprobiert oder auf andere Art herausragt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/12/ein-mann-seiner-klasse-schauspiel-hannover-kritik/
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