Kolumne: Straßentheater - Über Theater und Publikumsschwund
Kratzer im Ego
10. Mai 2022. Der Regisseur Christopher Rüping twitterte es kürzlich, schon länger zeichnet es sich ab: Die Theater, vor allem jenseits der Metropolen, spielen derzeit für deutlich weniger Menschen als vor Ausbruch der Pandemie. Unser Kolumnist Janis El-Bira über Bedeutungsverschiebungen, denen man Rechnung tragen sollte.
Von Janis El-Bira
10. Mai 2022. Ein Spuk geht um an den Theatern und wie einst der Gilb aus der Waschmittelwerbung legt er gerade einen Grauschleier über die frischaufgeblühte Freude an der postpandemischen Theater-Normalität. Seitdem der Regisseur und begnadete Kommunikator Christopher Rüping kürzlich per Tweet auf viele leere Sitzreihen beim Vorverkauf für seine Hamburger Premiere hinwies, ist der Hashtag #publikumsschwund etabliert. Selbst anlässlich der wie zu besten Zeiten rummeligen Berliner Theatertreffen-Eröffnung am vergangenen Freitag fand der Schrecken über das anhaltende Fernbleiben des Publikums Einzug in die Festreden.
Im Tiefschlaf
Tatsächlich: Wer aktuell auch abseits der Metropolen Theater besucht, findet sich häufig schon in der dritten oder vierten Vorstellung einer Neuproduktion in nicht einmal halbvollen Sälen wieder. Gute Kritiken, überregionale Aufmerksamkeit, mutige Themensetzungen – das Interesse des Publikums scheint wie im Tiefschlaf. Die Theater stehen geschockt vor dieser Entwicklung, während die Interpret:innen der Publikumskrise die üblichen Rezepte auf den Plan rufen. Theater müsse welthaltiger und gegenwartsbewusster werden, sagen die einen. Im Gegenteil, rufen die anderen, Theater soll gerade das Andere zur Wirklichkeit, soll eigengesetzlich und kunstsinnig sein. Doch die abwesende Masse reagiert auf beiderlei wie mit einem unsichtbaren Schulterzucken – und bleibt zu Hause.
Dabei bewahrheitet sich jetzt nur, was auf den Höhepunkten der Pandemie oft vorhergesagt wurde. Der Neustart, hieß es da stets, werde kein Selbstläufer sein. Es werde Mühen kosten, das entwöhnte und wenigstens in Teilen noch immer vorsichtige Publikum zurückzugewinnen. Sowieso könne "nach" der Pandemie ja nicht einfach weitergemacht werden, als sei nichts gewesen.
Doch genau das ist passiert. Das Selbstbewusstsein der Theater, dass man durch smarte Themen, einigermaßen populäre Stoffe oder ein paar bekannte Namen die Bude schon vollkriegen würde, scheint auch durch zwei Jahre Pandemieerfahrung nicht wesentlich erschüttert worden zu sein. Vielleicht wären sie damit sogar durchgekommen – hätte nicht der Krieg die ganze Dimension der Publikumskrise massiv verschärft.
Jenseits der Aufmerksamkeitsökonomie
Auch für die Theater hat dieser Krieg eine spürbare Diskursverkürzung bedeutet. Themen, die gerade noch von den Häusern als die drängenden der Gegenwart identifiziert worden waren, finden sich nun in bestenfalls zweiter Reihe hinter dem Zeitenwendeereignis in Osteuropa. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass nun nur noch vom Krieg erzählt werden sollte. Es geht nicht allein um Aufmerksamkeitsökonomie. Mehr noch als die Pandemie rührt der Krieg zusätzlich an die existenziellen Ängste der Menschen. Wer nicht mehr sicher weiß, ob er oder sie sich im kommenden Jahr noch Heizung und Strom wird leisten können, der oder die wird sich zweimal überlegen, für ein Theaterticket 30, 40 oder mehr Euro auszugeben. Der Krieg reduziert komplexe Entscheidungen schnell auf Fragen des Notwendigen und weniger Notwendigen.
So unattraktiv es erscheinen mag – die Theater werden nicht anders können, als dieser auch ökonomischen Bedeutungsverschiebung Rechnung zu tragen. Mit guten Themensetzungen und noch so starken Inszenierungen allein wird das nicht gelingen. Stattdessen braucht es Konzepte, den Theaterbesuch so unkompliziert und risikoarm anzubieten, wie es nur geht. An manchen Theatern gibt es bereits die Möglichkeit, einmal gekaufte Eintrittskarten noch bis kurz vor der jeweiligen Vorstellung doch wieder zu stornieren. Diese und ähnliche Flexibilitätsangebote mögen unter Finanzplanungsaspekten heikel sein, eine durchsubventionierte Theaterlandschaft sollte sie sich aber leisten können. Für die Häuser bedeuten sie fraglos einen Kratzer am Ego. Theater als eine Freizeitaktivität unter vielen im Buhlen um die Aufmerksamkeit des Publikums? Unerhört – aber bis auf weiteres wahrscheinlich notwendig. Andernfalls droht die bittere Erkenntnis, dass das Theater ausgerechnet in der Krise zum Zeitvertreib der Wenigen geworden ist.
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
> In seiner letzten Kolumne schrieb Janis El Bira über Bildsprachen in Zeiten des Krieges
> Hier finden Sie alle Kolumnen von Janis El-Bira.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr Kolumnen
meldungen >
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
neueste kommentare >
-
Neumarkt Zürich Klage Unpassend
-
Kultursender 3sat bedroht Augen öffnend
-
Kultursender 3sat bedroht Link zu Stellungnahme
-
Kultursender 3sat bedroht Beste Informationen
-
Neumarkt Zürich Klage Kommunikation von Besetzung
-
Onkel Werner, Magdeburg Mein Eindruck
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Großer Bogen, aber banal
-
Penthesilea, Berlin Mythos im Nebel
-
Neumark Zürich Klage Take it or leave it
-
Neumark Zürich Klage Schutz?
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
stimmt schon, was Sie schreiben. Dennoch würde ich dem Theater mehr Gelassenheit wünschen. Nichts ist sicher im Zeitalter der Krisen. Bisweilen kommt man deswegen nicht in den Musentempel, weil das Wetter schön ist und das gemeinsame Liegen auf der Wiese mit einem Bier attraktiver erscheint als ein Theaterbesuch (sehr verständlich).
Natürlich ist die Theraterkunst flüchtig und gefährdet. Sie ist leicht aus dem Takt zu bringen. Da geht es ihr nicht anders als dem Leben. Aber: warten wir doch erstmal ab!
Herzliche Grüße aus dem grünen und sonnigen und nur bis max. 60 Prozent gefüllten Theater-Tübingen
1. Ist überhaupt, saisonal bereinigt, weniger Publikum da? Wo, wieviel?
2. Wenn ja, welchen Anteil daran haben vielleicht auch Ursachen, die gar nichts mit der Pandemie oder dem Krieg zu tun haben? Gibt es Trends?
Ich weiß nicht, ob das irgendwer derzeit seriös beantworten kann. Und solange das nicht passiert, können alle - auch der Kolumnist - nur spekulieren. Und ebenfalls nur weitere Thesen anbieten, was besser gemacht werden sollte.
Wenn diese Thesen dann irgendwer umsetzt, wird man leider wieder nicht wissen, ob es was gebracht hat, weil "it's complicated (und das mit der Statistik ist mir jetzt echt zu anstrengend)".
Mal anfangen nicht mehr über "Theaterinternes" zu reden,zu diskutieren und das als etwas Vorrangiges zu sehen.....der Zuschauer ist jetzt wichtig....sollte er eigentlich immer gewesen sein!
Ersteinmal: Tatsächlich haben viele Theatergäste die ungemütliche Prozedur der diversen Corona Kontrollen über sich ergehen lassen, konnten schlecht atmen unter ihrer FFP2 Maske im Saal und kaum einen netten Plausch mit Wein im Foyer oder der Kantine halten, da die Gastronomie oft eingeschränkt wurde. Abonnements wurden wegen Schachbrettmuster und Abstandsplätze auf Eis gelegt und viele Einführungsveranstaltungen oder Podiumsdiskussionen fanden nicht statt. Insgesamt ist ein Dialog mit dem Publikum verloren gegangen über Stücke und politische Kontroversen. Jetzt gibt es in der Großstadt in der ich ins Theater gehe unzählige Vorstellungsausfälle wegen Krankheit im Ensemble. Anreisen wegen eines Theaterstücks woanders hin ist zu kostspielig, wenn es dann wieder abgesagt wird. Zum Spielzeitende sind die Publikumszahlen immer schon abgeflacht, aber wenn die Vorstellung zum vierten mal abgesagt wird nehme ich mir etwas anderes vor. Und: Ja, eine Theaterkarte ist genau dann teuer, wenn man kein Student und zum Glück noch kein ALG 2 Empfänger ist, aber eben auch keine Freude an einem Platz mit Sichteinschränkung hat. Da muss man sich gut überlegen in welches Stück man geht und nach dem dritten Reinfall verzichte ich leider gerade auf Experimente. Schade, aber so ist jedenfalls bei mir.
Zugegeben, ich staune jedes Mal, wenn ich - Dank einer beruflich bedingten Steuerkarte und der netten Dame oder des netten Herrn an der Kasse, die mich in der 5. oder ähnlich komfortablen Reihe platzieren - sehe, dass es tatsächlich Menschen gibt, die, sitzend in meiner Nachbarschaft, 50 Euro und mehr für diesen einen Platz, diesenTheaterbesuch ausgeben!
Nicht immer sind wir restlos begeistert über das, was wir da sehen.
Die 12 Euro für die Steuerkarte tun nicht weh, aber die 50 für eine Aufführung, die mich nicht von den Sitzen reißt, mir nicht das ultimative Theatererlebnis präsentiert...
Und irgendwie, tatsächlich, noch ist mir 'nach Corona', so eine Aufführung bislang in dieser großen Stadt mit zwei renomierten, angesagten Theatern nicht untergekommen. Irgendwie haut das momentan nicht mehr so hin mit der Theaterbegeisterung.
Dann doch vielleicht lieber Kino?
Bitte gestatten Sie mir einige Fragen.
Wann und wo hat Sie denn das letzte Mal eine Theater-Aufführung "vom Sitz gerissen"? Wann und wo waren Sie "restlos begeistert"? Und was war es an der Aufführung, was Sie zu solchen Eindrücken verführt hat?
Das lässt sich doch beschreiben. Und da sie Steuerkarten bekommen, scheint Ihnen doch auch ein Fachverständnis nicht fremd zu sein.
Aus der Beschreibung der Wirkungen und ihrer Ursachen ließe sich darauf schließen, was die Theater wieder tun müssten, um attraktiv zu werden und Zulauf zu haben.
Ich räume ein, dass mir solche Erlebnisse in den letzten Jahren in den Schauspielhäusern ermangeln; aber ich wüsste eine ziemliche Liste von Aufführungen aufzustellen, die allerdings länger oder lange zurück liegen.
In den letzten Monaten gab es solche Erlebnisse überraschend (für mich) in den
Berliner Opernhäusern.
Oder: Welche Filme schlagen Sie vor, wo man die Hoffnung haben könnte, vom Sitz gerissen zu werden. Und warum geschieht das dort?
Ich denke, dem Theater wäre geholfen, wenn es sich darauf besinnt, wofür es einmal "erfunden" worden ist: Geschichten erzählen über Menschen und ihre Arten des Zusammenlebens.
Ich behaupte, das interessiert den Zuschauer von heute noch immer, so wie es auch die Zuschauer vergangener Zeiten interessiert hat.
Einige Erfolgsserien an Berliner Schauspielbühnen können als Beweise angeführt werden.
Eine Bedingung müsste dazu freilich erfüllt werden:
Die Regisseure müssten aufhören, ihre "Einfälle" über den Dramentext zu schütten und damit die Situationen und Figuren bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen.
Mit freundlichen Grüßen
aus Berlin-Pankow
Peter Ibrik
Mehr Freude im Theater! Mehr Lust! Mehr Leichtigkeit!
Theater ist Freizeit! (Jedenfalls für uns Zuschauer:innen)
Ich stimme Ihnen zu: Die Theater-Zuschauer gehen in ihrer Freizeit ins Theater.
Aber warum darf eine Freizeit-Veranstaltung (eine unter vielen!) keine Diskursveranstaltung sein? Jeder Mensch kann sich aussuchen, wo er hingehen will.
Ich wünsche ausdrücklich, dass ich mich am Theater durch Mitdenken beteiligen soll. Veranstaltungen, bei denen ich sozusagen den Kopf an der Garderobe abgeben kann (das ist eine Formulierung aus einem sehr alten französischen Film), gibt es die Menge - so will mir scheinen.
Der Herr Brecht - der doch viel vom Theater verstand -, war der Meinung, das Denken sei die vorzüglichste Vergnügung des Menschen. Mir scheint manchmal, diese Vergnügung ist in Gefahr, vergessen zu werden. Um so mehr könnte doch der "Auftrag" des Theaters sein, das zu verhindern.
Schon das erste überlieferte Drama "Die Perser" war eine Warnung des Dichters Aischylos an die Bürger von Athen: Sie sollten sich hüten, wie die Perser einen Krieg zu beginnen, denn das könne ein böses Ende nehmen - und er tarnte diese Botschaft, indem er die Handlung nach Persien verlegte.
Ich wünsche Ihnen viele schöne Freizeit-Erlebnisse nach Ihrem Geschmack.
Ich wünsche Ihnen, sie mögen - gelegentlich - auch ein Vergnügen am Denken und damit "Freude im Theater! Mehr Lust! Mehr Leichtigkeit!" haben.
Mit freundlichen Grüßen
aus Berlin-Pankow
Peter Ibrik