Es wirkt immer wie ein Stürmen

von Nikolaus Merck

Weimar, November 2006. Der junge, schlaksige Mann mit dem festen Händedruck kommt aus Gera. Er setzt auf Realismus, vertraut auf die eigene Truppe und hat Erfolg.

I.

Von Zeit zu Zeit gefällt es den Theatergöttern, ein wenig Manna vom Himmel zu werfen. Wo die heilige Speise niederfällt, wächst ein Talent. Wenn sich später der Gesegnete zum ersten Mal zeigt, wissen alle, alle, die dabei gewesen: Das ist einer, den haben die Götter sich erkoren.

II.

Tilmann Köhler: schlaksig, fusselige Frisur, Kinn und Händedruck kräftig. Und: jung, 27 wird er kurz vor Weihnachten 2006. Erfolgreich, seit er in der überschaubaren Welt des deutschsprachigen Theaters aufgetaucht ist. Seine Inszenierung der "Choephoren" an der Ernst Busch-Schule, Teil eines Antike-Marathons, bringen ihm und dem Kern seines Ensembles ein Drei-Jahres-Engagement nach Weimar ein. Seine Diplom-Inszenierung, Kleists "Penthesilea", übernimmt Hausvorsteher Stefan Märki ohne viel Federlesens in den Weimarer Spielplan. Schon sieben Monate später wirft der Vertrauenvorschuss Zinsen ab. "Der Drache", Tilmann Köhlers erste Produktion im Großen Haus, gerät zum Triumph. Jewgeni Schwarz’  Politmärchen inszeniert der Jungregisseur als großes Spiel vom Opportunismus. Gerade in Weimar, das, egal welcher Ismus gerade herrschte, "immer billig zu haben war", wie es Köhler ausdrückt, verstand man die kritische Absicht; weil aber die Neuhinzugezogenen am Theater darauf verzichteten, die naseweisen Nachgeborenen raushängen zu lassen und ihre Aufführung stattdessen mit Fragen, "Was sollen wir denn machen? Wisst Ihr es denn? Weiß es einer?", enden ließen, spenden die Premierenbesucher begeisterten Applaus. Die Kritik überschlägt sich, einer schwärmt gar von einem "großen Tag in der langen Weimarer Theatergeschichte", an der immerhin Goethe, Liszt und Richard Strauß mitgeschrieben haben. Mittlerweile findet sich der Name Köhler in den Notizbüchern. Die Reisekritiker erscheinen zu seinen Premieren, Oberintendanten aus Nord und Süd sind hinter ihm her.

Der in Gera aufgewachsene Spielleiter gibt sich entspannt. Große Häuser? Eigentlich habe er gar keine Lust, als freier Regisseur mit dauernd wechselnden Schauspielern zu arbeiten. Er frage sich, ob er künstlerisch überhaupt soweit gekommen wäre ohne seine Truppe? Die Truppe, das sind die Damen Eve Kolb, Ina Piontek und Antje Trautmann, dazu die Herren Thomas Braungardt und Matthias Reichwald. Zusammen ein Kraftwerk, das genügend Energie produziert, um ein Schauspiel-Ensemble nachhaltig zu beleben. Denn das ist vielleicht die hervorstechende Gemeinsamkeit von Köhlers bisherigen Inszenierungen: das einerseits ganz auf Sprache gestellte, andererseits hinreißend lebendige, rasche Spiel, das einem vorkommt, als stießen sich die Schauspieler für jeden Auftritt von einem Sprungbrett ab. Die Stammkräfte des Weimarer Ensembles, so sagen Beobachter vor Ort, lassen sich jedenfalls vom frischen Schwung mitreißen. Selbst das Urgestein Detlef Heintze, seit 1971 am Haus, von dem bekannt ist, dass er gar nicht erst anfängt zu probieren, wenn ihm der Spielwart nicht einleuchtet, warf sich bei Köhler mit sichtlichem Elan in die Rolle des dreiköpfigen Drachentieres.

III.

Als um die Jahreswende 1999/2000 Thomas Ostermeier und die Seinen die Schaubühne bezogen, nagelten sie ein neorealistisches Manifest an die virtuelle Pforte des Theaters. Auf der Bühne Geschichten zu erzählen, so hatten es kurz zuvor am TAT in Frankfurt am Main auch Ostermeiers Generationsgenossen Robert Schuster und Tom Kühnel verkündet, sollte nach dem Bankrott aller Ideologien wieder erlaubt sein. Eine Kampfansage, selbstredend, gegen das zwar marginale, gleichwohl die ästhetischen Debatten bestimmende Regie-Autoren-Theater eines Frank Castorf, René Pollesch oder Armin Petras.

Auch Köhler und die Seinen schwören auf den Realismus. Das Theater, sagt der Regisseur, hat kampflos Terrain an den Film abgegeben. Warum sollten wir uns nicht identifizieren und einfühlen dürfen? Wie kommt das Theater eigentlich dazu, sich ironisch von seinen Figuren und Stoffen zu distanzieren, als wären wir, Spieler wie Zuschauer, klüger als Figuren eines Kleist oder Shakespeare? Zurück also mit Tilmann Köhler in die sechziger Jahre West oder die siebziger Ost?

Natürlich nicht. Und wie steht es mit der gerade wieder viel beschworenen "Werktreue"? Tilmann Köhler muss grinsen. Beim letzten Publikumsgespräch zu "Othello" bedauerte eine Zuschauerin, dass Shakespeare so gar nicht mehr wie Shakespeare gespielt würde. Auf Nachfrage, was sie denn genau… – Ach, sagte die Dame, sie denke so gerne an die großen Shakespeare-Aufführungen von Fritz Bennewitz vor 40 Jahren zurück, ja.

Was also, Tilmann Köhler, folgt nach dem Ende des ironischen Theaters? Zunächst einmal eine Phase der Sichtung und Erprobung grundlegender Theatermittel. Der Wortkulisse auf einer modernen Version der leeren Shakespeare-Bühne im "Othello", von Möglichkeiten anti-illusionistischer Spielweisen auf der großen Guckkastenbühne im "Drachen", die für jeden Anfänger unumgängliche Erprobung des von vier Seiten einsehbaren (tiefer gelegten) Boxrings in "Krankheit der Jugend" und des Experimentierens mit dem ambulanten, die unmittelbare Gegenwart politisch reflektierenden Theater in "Amoklauf mein Kinderspiel". Und natürlich: ohne Überheblichkeit betriebene Fahndungen nach Autorabsichten und Figurenmotiven. Weil, vermutlich, im überlieferten Drama unsere menschlichen Grundbefindlichkeiten gültig aufgehoben sind.

Zusammen traditionssatte Prinzipien, die in der Praxis  bisweilen zu übertriebener Wortgläubigkeit führen. Was im "Drachen" gut funktioniert, wirkt im komplexeren "Othello", den die Weimarer Jungkünstler zudem in der verdunkelnden Übersetzung des Grafen Baudissin darbieten, ermüdend. Die Interpretation – wie einer zum Fremden gemacht wird, wie sich die Menschen selbst zu Fremden werden, wie einer nach dem anderen daran irre wird, dass wir, einer von den zehn Gründen George Steiners, "Warum Denken traurig macht", nicht wirklich wissen können, was im andern vorgeht – verschwindet, je länger je mehr hinter Satzgebirgen.

Wie "Othello" leidet auch "Krankheit der Jugend" im E-Werk an Wortdurchfall. Was die Todessüchtigen in einem Tocotronic-Lied zusammenfassen, sprechen sie gleich noch einmal umständlich aus. In solchen Momenten wünscht man dem thüringischen Großtalent mehr Mut, seine Haltungen zum Text durch kräftige Striche klar herauszuarbeiten. Bestimmend aber für den Eindruck von Tilmann Köhlers Arbeiten ist ihr Theaterzauber. Wenn Trompeten und Posaunen im "Othello" blasen oder die Pauken klöppeln im "Drachen", erwartet man, dass gleich die Spieler als Ross und Reiter herein galoppieren wie einst beim indischen Shakespeare des Theatre du Soleil.

Dabei treten sie im "Othello" bloß aus der ersten Zuschauerreihe auf, der Effekt allerdings ist ein ähnlicher: wenn die Schauspieler auf die Spielstatt stürmen – es wirkt immer wie ein Stürmen, auch wenn sie langsam tun –, öffnet sich ein Bühne und Zuschauerraum einschließendes Kraftfeld. Hier heißt das Hauptwort "Verwandlung". Hoch abstrakt, wenn zwei, einer weit im Bühnenhintergrund, einer ganz vorne, beide dem Publikum zugewandt, ein privates Gespräch aufführen; absolut theatralisch, wenn einmal Aufstampfen einen mörderischen Schlag bedeutet – und natürlich hält Köhler seine magischen Zirkel frei von Alltags-Requisiten. Handy oder Samowar wird man in diesen Spielen so wenig begegnen wie dem medialen Overkill, dem Soundtrack aus dem Off oder etwelchen Videoeinsprengseln.

Was Köhler anstrebt, ist ein Theater essentieller Zeichen. Live-Music, am liebsten von den Spielern selbst vorgetragen, wie die Tocotronic-Songs in "Krankheit der Jugend"; Karoly Risz’  klare, leere Bühnenräume: eine auf die Spitze gestellte Schräge für "Othello", ein schwarzes Tuch für die Venedig-Szenen, rohe Bretter für Zypern, wo am Ende das Tuch eine Art Todes-Braut-Schleppe für Desdemona abgibt. Oder das von den Zuschauertribünen eingefasste, leere Bassin, in dem Ferdinand Bruckners Medizin-Studenten aus "Krankheit der Jugend" in ihrer Selbstmord-Wut einen stählernen Rolltisch gegen die Wände knallen. Und natürlich der gigantische, aufwärts ragende schuppige Schwanz des Drachen, auf dem Schwarz’ Machtspiel abschnurrt.

Dazu legen Ines Nadlers Kostüme unaufdringliche Bedeutungsfährten aus. Kleine Drachen-Draperien auf fließenden Stoffen; Anspielungen auf die Shakespeare-Epoche, eingelassen in Herrenmoden der vergangenen zwei Jahrhunderte für die Männer-Macht-Spiele im "Othello" – alles Bestandteile einer klug durchdachten Ästhetik, die sich nicht zuerst den anderen Bildmedien, sondern vor allem souveräner Verfügung über die Traditionen des Theaters verdankt.

IV.

"Amoklauf mein Kinderspiel" entstand scheibchenweise in enger Zusammenarbeit zwischen Autor Thomas Freyer und Tilmann Köhler. Die jeweils fertigen Szenen wurden ausprobiert und diskutiert, in Schulen, Zentren, hier und da. Das Stück, ausgerechnet "beim Pilzsüppchen im Adlon an Rowohlt verkauft" (Köhler), stößt sich ab von dem Massaker, das der Schüler Robert Steinhäuser im April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium anrichtete. Bei Freyer spricht die "Wendegeneration", genauer gesagt, sie spricht nicht mehr, sie schweigt oder schießt sofort. Die Schüler erheben sich gegen Eltern, Lehrer, gegen eine Wirklichkeit, in der sie nicht mehr vorkommen.

Für diese existenzielle, an Hoffnungslosigkeit grenzende Ernüchterung interessiert sich Tilmann Köhler. Mit diesem Lebensgefühl und seinen möglichen Ursachen setzen sich er und seine Truppe auf der Bühne auseinander: vom Opportunismus der Eltern erzählt "Der Drache", vom Alleingelassenwerden, vom Sich-selbst-(und anderen)-zum-Monstrum-werden "Amoklauf", "Krankheit der Jugend" und "Othello". Auf der Weimarer Bühne sehen Köhlers Arbeiten immer aus, als handelten sie von genuinen Ost-Erfahrungen. In Wirklichkeit vergrößert sein Theater die gängigen Motive des Generationenkampfes zwischen einer radikal moralischen Jugend und ihren resignativ angepassten Eltern ins Allgemeingültige. Kein schlechter Ausweis für Theatertalent, wenn einer von sich erzählt und die Gesellschaft sich darin wieder erkennt.

zuerst erschienen in Theater der Zeit 12/ 2006

 

mehr porträt & reportage