Zitterndes Kippbild der flüchtigen Existenz

von Tomo Mirko Pavlovic

Tübingen, 29. November 2008. Der Tod trägt blau. Petrolblau. Ein kühles, ein klinisches Blau wie es im Allgemeinen nur selten vorkommt in unserer Natur und Vorstellung, außer vielleicht am Körper eines vermummten deutschen Oberarztes während er uns operiert. Der Tod trägt Kajal um die Augen und ein aseptisches Dauerlächeln um den Mund. Der Tod ist jung, adrett, weiblich und präsentiert in einem hochgeschlossenen, ebenfalls petrolfarbenen Hosenanzug einen Ausweg aus der demografischen Misere.

"Meine Damen und Herren", sagt die Angestellte von "Dellem" immer wieder und wendet sich mit durchgedrücktem Rückgrat direkt ans Publikum an alle, die noch nicht alt sind und sich für 300.000 Euro ein schönes Leben leisten wollen. Dellem, eine privatwirtschaftliche Sterbeagentur, wirbt auf dieser morbiden Verkaufsparty um neue Mitglieder, die sich gegen Geld pünktlich zum Siebzigsten töten lassen, um den Rest der kinderarmen Gesellschaft vor der Überalterung zu bewahren.

Warum eigentlich nicht?

Die Rechnung ist so perfid wie sauber: weil unsere japsenden, röchelnden, geriatrischen Sozialsysteme jedes herausgezögerte Seniorensterben im Durchschnitt mit 800.000 Euro subventionieren, würde der Staat und wir alle pro Freitod abzüglich der voraus gezahlten Summe eine halbe Million Euro an Pflegekosten sparen. "Meine Damen und Herren", sagt die Frau wieder, dieser schöne perfekte Tod, und man blickt kurz in das leere Bitte-ankreuzen-Kästchen auf dem ausgehändigten Dellem-Flyer und . . . warum eigentlich nicht? Carl-Henning Wijkmarks Negativutopie "Der moderne Tod" ist, so scheint es, ein höchst willkommenes Thesenstück, da es dreißig Jahre nach seiner Entstehung mit seinen ausufernden halbwissenschaftlichen Statistiken, Argumentationsketten, Projektionen und Zahlenkolonnen gut in unsere sterbeunwillige Zeit passt.

Verdächtig gut. Die geschmeidige Synchronität von Innen und Außen, von wirklichem Theater und theatralischer Wirklichkeit, ist geradezu frappierend. Das mag auch an seiner anpassungsfähigen Konsistenz liegen, die sich einer geläufigen Formelsprache der Politik und Medien anverwandelt und auf psychologisch motivierte Figuren weitgehend verzichtet. Während gestern also in einem sinistren, tiefen Gewölbe der Tübinger Altstadt ein fröstelndes Schauspielertrio in einer Premiere des Landestheaters Wijkmarks luzides Euthanasie-Programm mehr sprach als spielte, meldete die Deutsche Presse Agentur, dass die Privaträume des inzwischen allseits bekannten Hamburger Sterbehelfers Roger Kusch von der Polizei durchsucht wurden.

Kopierte Spiegel-online-dpa-Zeit-und-Anne-Will-Realität

Man suche verschreibungspflichtige Medikamente, hieß es. Auf Spiegel online erschien Minuten später der dazu passende Bericht samt informativen Links zu allen relevanten Hintergründen: Welche Arten von Sterbehilfe gibt es? Wie sieht es in den Nachbarländern aus? Dignitas. Sterbetourismus. Patientenverfügung. Der Wille des Einzelnen. Und so fort. Doch obwohl der Name Kusch auch in der Tübinger Textfassung genannt wird und man eigentlich schreien will: Ja, genau, endlich, das Theater von morgen ist dieses Theater unseres Jetzt, wirken diese Textflächen häufig wie ein Stapel kopierter Spiegel-online-dpa-Zeit-und-Anne-Will-Realität, den man leise zur Kenntnis nimmt, wenig überrascht, bisweilen leise nickend.

Der Schweizer Dramatiker Reto Finger ("Kaltes Land") hat aber nicht nur mit Ralf Siebelt "Den modernen Tod" des schwedischen Autors textlich bearbeitet und auf den schnellstmöglichen Puls der Zeit hochgejagt, nein, er hat zudem noch Regie geführt. Auch hier konzentriert er das Geschehen auf den irritierenden Kern des ansonsten handlungs- und spannungsarmen Textes: den Deal mit dem eigenen Tod. Finger weiß natürlich um die sprachliche Schwäche der Vorlage, weswegen er die geheimniskrämerische Ministerialgeschichte in der Urfassung durch drei Verkäufer eines obskuren Vereins ersetzt. "Dellem" könnte mit seiner sanften Verkaufsrhetorik nämlich auch Tupperschüsseln, Reizwäsche oder auch Versicherungen verkaufen.

Voller Seelenruß und schwärzester Komik

Diese inhaltliche wie zeitliche Verdichtung – die Aufführung ist nach einer guten Stunde zu Ende – gefällt, weil Finger den Text wie eine längere Fußnote zur Sterbelage der Nation behandelt, nicht ein Stück sucht und konstruiert, wo keines ist. Die Schauspieler Danny Exnar, Vilmar Bieri und Jessica Higgins werden deshalb zu Sprechern, die ihre Thesen makellos vortragen. Mal stehend, mal sitzend, ein einziges Mal ein wenig tanzend, aber fast durchweg die Gesichter ins Publikum gerichtet. Ein wenig Liedgut wie im politischen Kabarett sorgt für unaufgeregte Rhythmuswechsel.

Auf dem Metallpodest im Pfleghofkeller agieren auch noch die Requisiten, eine Heimorgel, ein Tageslichtprojektor und einige Schaubilder. Und Aluminiumkisten. Leinwände. Oder: Kisten und Leichentücher. Thimo Plath, ein unaufdringlicher Ausstatter, deutet alles nur an und verwandelt die Bühne in ein Provisorium, in ein zitterndes Kippbild der flüchtigen Existenz. Blau und Weiß dominieren, nicht etwa Schwarz. Voller Seelenruß und schwärzester Komik hingegen ist der kurze Lumpensammler-Monolog aus einem Stück von Jean Giraudoux.

Vilmar Bieri, der "Bernd", fällt gegen Ende für einige kostbare Minuten aus seiner Verkaufsrolle hinein ins wundersame Theater alter Schule voller Poesie und Selbstmitleid, mit aufgemalten Clownstränen. Normalerweise geht so etwas gar nicht. Doch Finger und Bieri bringen das vorangegangene Plappern, das mediale Dauerrauschen zum Schweigen, kommentieren den Kommentar. Und der neue, alte Tod ist für einen Moment lang wieder richtig: beängstigend.

 

Der moderne Tod - Vom Ende der Humanität
von Carl-Henning Wijkmark
Aus dem Schwedischen: Hildegard Bergfeld
Tübinger Textfassung: Reto Finger und Ralf Siebelt
Regie: Reto Finger, Ausstattung: Timo Plath. Mit: Vilmar Bieri, Danny Exnar, Jessica Higgins.

www.landestheater-tuebingen.de


Mehr über Reto Finger, den 1972 geborenen Schweizer Dramatiker und Regisseur? Im Mai 2008 inszenierte Erik Altorfer in Bern die Schweizer Erstaufführung von Fingers Kaltes Land, womit Finger 2005 den Kleist-Förderpreis gewonnen hatte. Altorfer kuratierte im März 2008 in Bern unter der Überschrift Das Fremde ist nur in der Fremde fremd auch eine kleine Leistungsschau mit Schweizer Gegenwartsdramatik, wo er auch Reto Fingers Am Anfang war das Feuer präsentierte, das Finger im Herbst 2007 in Bern selbst uraufgeführt hat.

Eine weitere Inszenierung von Der moderne Tod gab es vor fast exakt einem Jahr in Karlsruhe.

 

Kritikenrundschau

Wie Kathrin Kipp in den Reutlinger Nachrichten (1.12.) schreibt, wurden aus  Brandschutzgründen zunächst nur zwei Vorstellungen im Gewölbekeller des Pfleghofs genehmigt: Fluchtwege fehlen, die Treppe ist zu steil, und es gab auch eine anonyme Anzeige. Bei der Premiere übernahm Oberbürgermeister Boris Palmer die Verantwortung und führte anfangs auch eine Brandschutzübung mit dem Publikum durch. Die Inszenierung selbst findet Klipp als "Studie über Manipulation" durchaus gelungen. Dass die von Jessica Higgins gespielte Sterbehilfe-Referentin aber "mehr und mehr in die Terminologie der Nazis" wechsle und schließlich von den Alten völlig auf Behinderte "umschalte", ist ihr "zu dick aufgetragen" und auch zu rückwärtsgewandt. Sie hätte sich die Debatte "ein wenig spitzfindiger und realistischer" gewünscht.

Im Schwäbischen Tagblatt (1.12.) differenziert Wilhelm Triebold, dass Reto Finger das Szenario nicht "auf einer Geheimkonferenz des (fiktiven) schwedischen Sozialministeriums" ansiedle, "sondern auf einer Werbetour, die drei freundliche 'Dellem'-Vertreter nun direkt ins beschauliche Tübingen führt". An Aktualität fehle es dem Thema Sterbehilfe nicht, aber einen Theaterabend lang trage es nur "schwerlich": "Im Pfleghofkeller treten zwei Handlungsreisende in Sachen Mortalitätsmarketing vor und hantieren mit Zahlen, Fakten und Ausdrücken wie 'ökonomische Alterslast' oder 'numane Selektion'."   – "Theater als politisch inkorrekte Provokation (...) zeitbombiger(r) Schwarzhumor, der im LTT-Keller allerdings nicht so recht zünden will."

 

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