Vom unaufhebbaren Rest

25. Mai 2022. Thom Luz ist ein Theatermagier der angerissenen Klänge und verschrobenen Typen, ein Meister der Atmosphären und Stimmungen. Für gewöhnlich bringt er das Musiktheater auf die Schauspielbühnen. Jetzt wagt er sich direkt in die Oper, genauer: den Apollosaal der Berliner Staatsoper – und verneigt sich in bewährter Weise vor der Spezies der Klavierstimmer:innen.

Von Janis El-Bira

Thom Luz' "Werckmeister Harmonien" an der Staatsoper Berlin © Gianmarco Bresadola

25. Mai 2022. Am Ende bleibt also immer ein kleiner Scheiß. So jedenfalls, das macht uns der Schauspieler Daniele Pintaudi an diesem herzigen Abend unmissverständlich deutlich, stellen sich die Verhältnisse für einen Klavierstimmer dar. Nicht existenziell ist das gemeint, sondern ganz berufspraktisch: Weil nämlich zwölf reine Quinten mathematisch nur ungefähr sieben Oktaven ergeben, und weil somit ein Rest bleibt, der als berühmtes pythagoreisches Komma die Gelehrten aller Zeiten zu kühnster Zahlenakrobatik angetrieben hat. Ein kleiner Scheiß eben, der dem Klavierstimmer aber heilige Verpflichtung ist. Im Feintuning von Quinten und Terzen soll er diesen Rest und mit ihm die Musik zum Schweben bringen, während er selbst im Schatten bleibt. Der Klavierstimmer sei, heißt es hier auch, nun mal ein bescheidener Gott. Ein trauriger Zauberer.

Ein Stuhl knarzt in Moll

Mit bescheidenen Göttern und traurigen Zauberern ist Regisseur Thom Luz natürlich auch an diesem Abend ganz bei sich und seinem Theater der menschlichen Nachtschattengewächse. Dabei ist "Werckmeister Harmonien" eigentlich ein Auswärtsspiel. In die Berliner Staatsoper sind Luz‘ inselbegabte Herzwesen eingezogen, um zu später Stunde (Beginn 22 Uhr) ein Notturno im opulenten Apollo-, also dem eigentlichen Pausensaal des Hauses zu spielen. Ein gleichzeitig gediegener wie randständiger Ort und damit wie ausgedacht für das Luz-Theater. Gerne bietet es sich schließlich als samtausgeschlagene Schmuckschatulle an, aus der mit leichten Händen die erstaunlichsten Preziosen gezogen werden, bevor sie sich sogleich wieder scheu verschließt.

WERCKMEISTER 1 Gianmarco BresadolaBei der Arbeit an den Halbtönen: Annalisa Derossi, Daniele Pintaudi und Samuel Streiff © Gianmarco Bresadola

An der damit oft einhergehenden Theaterbehaglichkeit wird auch dieses Mal emsig gebastelt. Da weht ein zarter Windhauch über die zwölf plastikumwickelten Klaviere im Saal, wenn vermeintlich die Balkontür zur Straße Unter den Linden geöffnet wird, um den vorbeibrausenden Verkehr zu dirigieren. Glühlampen werden eingedreht, die kleine Seufzer ausstoßen, ein Stuhl knarzt in Moll und ein gewaltiger Lüster fährt im gedimmten Schein seiner Elektrokerzen vom Boden an die Decke. Dazwischen die fünf Klavierstimmer:innen, mithin kopfüber in ihren Arbeitsgeräten feststeckend, wie sie überhaupt mit dem Kopf voran auf diese Welt gefallen zu sein scheinen. Leicht eingedellte Herrscher über 88 schwarz-weiße Tasten, deren Stimmung sich einfach nicht ohne "unaufhebbaren Rest" fügen will.

Wenn die Obertöne recht plötzlich kommen

Über jenes Nichtstimmen, aus dem das Schöne vielleicht erst entsteht, wird viel laut nachgedacht an diesem Abend. Für Luz-Verhältnisse wird hier allgemein viel an die Hand genommen, ausgeführt und erklärt. Zum Beispiel was das alles auf sich hat mit den gleich- und vor allem den nichtgleichstufigen Stimmungen etwa eben eines Andreas Werckmeister, dessen theoretische Traktate im 17. Jahrhundert den logischen Connex zwischen den Gesetzen des Kosmos und jenen der Musik herzustellen suchten.

WERCKMEISTER 3 Gianmarco BresadolaWo ist er denn hin, der Ton? Annalisa Derossi © Gianmarco Bresadola

Dazwischen gibt es allerlei Anekdotisches aus dem Klavierstimmer-Dasein, dessen Leben nicht nur vom bereits an den Saaltüren rüttelnden Konzertpublikum und skrupulösen Kundenwünschen erschwert wird. Selbst ein Seitenhieb auf den Staatsopern-Hausherrn Daniel Barenboim ("mag es, wenn die Obertöne recht plötzlich kommen") ist hier erlaubt. Charmant ist das in seiner ganzen Retro-Possierlichkeit und Witz hat es auch, scheut dabei aber genau jenes Widerständige, das Luz‘ beste Arbeiten in ihrer verschrobenen, mitunter bei allem Theaterzauber spröden Rätselhaftigkeit behaupten.

Im weltabgewandten Dämmerlicht

Am schönsten ist der Abend immer dort, wo tatsächlich Musik in die Sache kommt, wo gesungen und gespielt wird. Ein Kirchenlied-Kanon im Chor, Charles Ives am Klavier, ein bisschen Bach, selbst das "Lohengrin"-Vorspiel leuchtet einmal aus dem Geräuschteppich der fast unablässig manipulierten, gerne auch heftig malträtierten Instrumente auf. Hier sitzt man gerne im weltabgewandten Dämmerlicht bei diesen schön und schief sich verbreitenden Menschlein. Nur zum Ende hin machen sie’s einem doch noch einmal schwer und vor allem machen sie‘s lang. Da nämlich schwingt der Abend sich auf zur großen Existenzmetapher, schickt gar noch Streicher zum Duo auf die Galerie und reißt den Klavierstimmer:innen ruppig die Tastaturen unter den Händen weg. Gattungswechsel ohne Not. Als müsste mit einer Konzertkadenz enden, was als Fingerübung sein Spiel gefunden hatte.

 

Werckmeister Harmonien
von Thom Luz
Konzept, Inszenierung, Bühnenbild: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Kostüme, Lichtkonzept: Tina Bleuler, Licht: Stefan Schlagbauer, Dramaturgie: Christoph Lang.
Mit: Annalisa Derossi, Mara Miribung, Daniele Pintaudi, Samuel Streiff, Mathias Weibel.
Premiere am 24. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsoper-berlin.de

Kritikenrundschau

"Warum es in dieser offenen Form dann allerdings nicht möglich gewesen sein soll, die Hörschule, die das Stimmen verschiedener Temperaturen mit sich bringt, weiter zu vertiefen, leuchtet nicht ein", findet Peter Uehling in der Berliner Zeitung (25.5.2022). Gern gehört hätte der Rezensent auch einmal "die 'Kommas', also die kleinen Verzerrungen, die eine auf reinen Quinten oder Terzen beruhende Stimmung für andere Intervalle bedeutet". Mehr hat der Autor aber an dieser Inszenierung nicht auszusetzen. "Werckmeister Harmonien" sei ein "offener, lustiger, reicher Abend zwischen allen Gattungs-Stühlen".

"Die Texte verschwimmen in sympathischer Form zwischen Skizze, Vorgangsbeschreibung des Stimmungsprozesses und philosophischer Hintertreppe“, schreibt Roland H. Dippel von der Neuen Musikzeitung (29.5.2022). "Es bleibt wenig bei den für einen Freitagnachmittag ungewöhnlich vielen Zuschauern auf der Tribüne hängen. Aber aus der physikalischen Darstellung wird klar, dass es bei der Tongebung und bei Musik auch um die Beziehung von Individuum und Welt, Drinnen und Draußen zu tun ist." Die Arbeit lehre, dass das sinnliche Abenteuer der Klänge aus der Planbarkeit des Unregelmäßigen entstehe. "Solche tiefschürfenden Reisen in das musikalische Bewusstsein bewirken etwas sehr Gutes. Denn danach hört man auch andere Musik genauer, tiefer, schärfer."

Artistisch zwischen Gesang und Klavierspiel, Deklamation und Akrobatik agierten die fünf Darstellenden, so Matthias Nöther in der Berliner Morgenpost (29.5.2022) "Rahmenhandlung ist eigentlich ein Konzert für zwölf Klaviere, das ständig nicht anfangen kann, weil es die gewissenhaften Klavierstimmer vor schier unüberwindliche Herausforderungen stellt." Doch das sei eigentlich gar nicht so wichtig. Es bleibe "ein geist- und humorvoller Abend, der noch lange nach dem Heraustreten auf die Straße die Welt mit anderen Ohren hören lässt".

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