Jenseits der Nasenspitze

von Petra Hallmayer

München, 30. November 2008. Eigentlich ist es ja schön, wenn junge Autoren nicht nur um den Bauchnabel ihrer Generation kreisen. Der 1981 geborene Dramatiker John Birke, der mit Party- und Beziehungsdramen wie "Open End" und "pas de deux" bekannt wurde, wagt sich in seinem neuen Stück, das nun im Werkraum der Kammerspiele uraufgeführt wurde, an ein riesiges Themenfeld. Auf einer Spielfläche aus Kleiderspendenballen zeigt sich gleich zu Beginn eine Frau zu einer radikalen Tat entschlossen: Zur Verteidigung christlicher Werte will sie sich in einer Moschee in die Luft sprengen.

Anhand von drei exemplarischen Figuren – einer Suizid-Attentäterin, einer Ehefrau, die ihren verkrüppelten Mann pflegt, und der Leiterin einer Agentur für "Mietopfer" – führt Birkes Stück "Armes Ding", das in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Felicitas Brucker entstand, Formen weiblicher Selbstaufopferung vor. Was ließe sich da nicht alles erzählen und reflektieren. Schließlich ist die Geschichte des Christentums reich an dem Opfertod Christi nacheifernden Märtyrerinnen und weiblicher Blutmystik. Unzählige Bücher befassen sich mit der selbstgewählten Opferrolle von Frauen und den damit verknüpften gesellschaftlichen Narrationsmustern. Auf nichts davon jedoch geht Birke wirklich ein.

Geschnipselter Papiertiger

Vielmehr erinnert sein Text an das Montageprinzip von TV-Magazinen, in denen gern unter ein aus den Nachrichten geschnipseltes thematisches Stichwort ein Politstückchen, ein Beziehungsdrama oder eine originelle Geschäftsidee gepackt werden. Birkes Selbstmordattentäterin, die die Phrasen der Moscheebau-Gegner nachbetet, ist ein theoretisches Konstrukt, ein flacher Papiertiger. Da hilft es wenig, dass Sylvana Krappatsch, die alle drei Frauen herb und stark verkörpert, die Verstörungen eindringlich aufscheinen lässt. So lässig nebenbei ist der religiöse Fanatismus von Islamisten oder amerikanischen christlichen Fundamentalisten nicht in die deutsche Gegenwart zu übertragen.

Der interessanteste Teil der Trilogie ist inspiriert vom Fall Tyler Ziegel, der im Irak verstümmelt und dessen kurze Ehe zum Zeitungsmärchen wurde. Wenn Krappatsch als hingebungsvolle Gattin das Gesicht ihres Mannes (Edmund Telgenkämper), der bei einem Bombenanschlag ein Kind rettete, mit Klebestreifen monströs verzerrt, wenn sie ihn – mit Hilfe einer Journalistin, die dem Paar ihr Love-Story-Skript aufzwingt (Lena Lauzemis) – vom Heldenpodest verdrängt und selbst zum Medienstar aufsteigt, gewinnt der Abend an Intensität. Dann wird deutlich, was sonst nur blass aufblitzt: Jedes freiwillige Opfer erringt letztlich Macht über andere, übt auch Gewalt aus.

Psychologisierung ist unschick

Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet ein Paardrama die restlichen Szenarien überschattet. Nichts bietet sich besser als Projektionsfläche für bauchnabelnahe Erfahrungen an. Da dürfen die beiden sich denn ihre sexuelle Frustration und unterdrückte Wut um die Ohren hauen und durch eine lustige Filmmelodram-Parodie turnen, derweil der Polithintergrund in weite Ferne rückt. Als Garnitur gibt es einen kräftigen Schuss Medienkritik, die allerdings in einer Inszenierung, die selbst nicht unter die Oberflächen taucht und auf einem Sammelsurium von Zeitungszitaten basiert, eher drollig wirkt.

Felicitas Brucker konzentriert sich auf die äußerliche Markierung von Gewalt an Körpern, die mit Klebeband umwickelt, wie Gliederpuppen herumgeschubst werden. Ins Innere der Figuren dringen wir nie vor. Das erstaunt heute, da Psychologisierung als unschick gilt, nicht weiter und muss keineswegs stören. Allein Birkes Text ist so substanzarm, dass jede physische Übersetzung zur puren Spielerei gerät.

Opferbereitschaft als gewitzter Einfall

Natürlich sind für uns, die wir im Glauben an die Autonomie des Individuums, unter dem Postulat der Selbstverwirklichung aufwuchsen, alle Arten der Ich-Aufgabe und Selbstentgrenzung exotisch. Doch wenn man nicht über die eigene Nasenspitze hinausdenkt, spart man die Irritationen und Verunsicherungen aus, die das Thema birgt.

Wie das christliche Attentat bleibt auch die "Mietopfer-Agentur", deren Leiterin sich auf die Rhetorik der Prostituiertenbewegung, den angeblich kathartischen Effekt käuflicher Aggressionsentladung beruft, bloß ein gewitzter Einfall, ein spannender Ansatz, der nicht weiter verfolgt wird. Vielleicht sollte man sich ja freuen, wenn jüngeren Menschen hierzulande religiöser Gluteifer, Gewalterfahrungen und radikale Opferbereitschaft so fremd sind, dass sie unfähig sind, etwas tatsächlich Relevantes darüber auszusagen. Nur sollten sie dann eben auch kein Drama daraus machen.

 

Armes Ding (UA)
von John Birke
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Dorothee Curio, Kostüme: Sara Schwartz.Mit: Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Edmund Telgenkämper.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Als Gleichnisse für versteckten Egoismus" habe Felicitas Brucker die Uraufführung inszeniert, so Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (3.12.). Schnell würden sich über die Taten der Frauen Urteile aufdrängen: "Die erste ist fraglos böse - unschuldige Menschen werden in den Tod gerissen. Die zweite ist in mitmenschlicher Hinsicht natürlich gut - eine Frau hält ihrem verkrüppelten Mann die Treue. Die dritte, nun ja, ist Geschmacksache und kann angeblich potenzielle Täter von Verbrechen abhalten." Die Erkenntnis des Abends sei, dass jeder Opferbereitschaft eine Gewaltfantasie innewohnt. Im dritten Teil erlange das "Mietopfer" mit seiner "Geschäftsidee moralische Macht über seine Kunden". "Hier läuft Lena Lauzemis als Peinigerin zu großer Form auf, neben der in ihrer Radikalität stets rührenden Krappatsch und dem sanftmütig spielenden Telgenkämper." Fazit: "Eine exemplarische Studie über das Missionarische im Menschen, das die anderen zum Ding macht."

"Adorno", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (2.12.), "hätte seine Freude an dem jungen Autor gehabt, der seine Stücke wohl kaum als Werke begreift, sondern vielleicht eher als durchlässige Sprachkatalysatoren." Womit gemeint ist, dass das Geschriebene konzeptionell nur Material für die Inszenierung ist. In Felicitas Bruckers Uraufführung von "Armes Ding" fehle nun leider der "zynische Furor" der Textfassung, womit der Autor aber offensichtlich einverstanden war. Dafür habe Brucker "einiges von Birkes weit im Hintergrund liegender Inspirationsquelle" in die Aufführung geholt: Hebbels "Judith" nämlich, "die Holofernes ermordete, um das Volk Israel zu retten und die aus Liebe und Selbstmythologisierung ihren patriotischen Dienst zum göttlichen Auftrag erklärte". In den besten Momenten erinnere der Abend an Lars von Triers "Breaking the Waves" und bekomme "eine Wucht, die beklommen macht". Der jeweils nächste Witz allerdings komme bestimmt.

Teresa Grenzmann bezeichnet "Armes Ding" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.12.) als Komposition dreier "Variationen auf die Selbstaufopferung. Im zur Absurdität neigenden Crescendo. Hart, aber melodisch, leichthin, aber wichtig, dokumentarisch rekonstruierend, aber gleichnishaft konstruiert." Indes, auch nach der Uraufführung dieses "Auftragswerks", das sich "von der biblischen Judith-Geschichte ableitet", sei die Arbeit noch unvollendet. Denn das Abgründige des Stückes, dessen "gesellschaftsallegorisches Potential", hätte nicht wirklich transportiert werden können. "Mit dem unterhaltsamen, die Klischees bisweilen sogar forcierenden Spiel von Lena Lauzemis, Edmund Telgenkämper und vor allem Sylvana Krappatsch allerdings reduziert die Inszenierung das Stück trotz aller tiefsitzender Tragik und trauriger Aktualität auf bloße Textschaufenster."

Im Deutschlandradio (1.12.) sprach Sven Ricklefs sehr angetan von einer "ebenso beiläufigen wie in ihrer szenischen Präzision beeindruckenden Uraufführung" eines Stückes, das "nach gesellschaftlichem Engagement und Aufopferung" fragt und "dabei zugleich die Gefahren zwischen Geltungsbedürfnis, Fanatismus und jenen Vermarktungsmöglichkeiten eines Heldentums" diskutiert, "die heutzutage die Medien ermöglichen". (Auf der Seite kann man sich die Kritik als MP3 oder Flash auch anhören, inklusive eines O-Tons von John Birke und zwei Tonproben aus der Inszenierung.)

 

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