Auf Repeat

4. Juni 2022. Philip Glass gilt als Pionier der Minimal Music. Zehn neue Stücke des Komponisten sind in "Tao of Glass" bei den Ruhrfestspielen zu hören. Sein Weggefährte Phelim McDermott inszeniert, spielt und widmet sich ihnen gemeinsam mit Puppenspieler:innen, Musiker:innen und dem Geist der eigenen musikalischen Erweckung.

Von Max Florian Kühlem

"Tao of Glass" von Philip Glass und Phelim McDermott bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

3. Juni 2022. Eigentlich war das eine gute Nachricht: In einer Deutschlandpremiere bei den Ruhrfestspielen sollten zehn neue Stücke von Philip Glass zu hören sein. Von Philip Glass, dem Pionier der Minimal Music, die ihren Siegeszug bis heute fortsetzt und so zum Beispiel Pianisten-Popstar Víkingur Ólafsson millionenfach Streams mit Glass-Neueinspielungen generiert.

Weggetragen von der Musik

Das Problem der besagten Deutschlandpremiere, die "Tao of Glass" heißt, ist nun allerdings, dass in die neuen, zarten, kammermusikalischen Kleinode auf der Bühne permanent hinein geredet wird. Entstanden ist das Stück offenbar als Zusammenarbeit zweier alter Freunde – wobei der eine Teil dieses Paars mindestens genauso Fan wie Freund des anderen ist: Der englische Schauspieler, Regisseur und Dirigent Phelim McDermott ist schon seit der Kindheit ein Liebhaber von Glass' Musik. Auf der Bühne erzählt er mit Hilfe dreier Puppenspieler:innen und vierer Musiker:innen von seiner ersten Begegnung mit dieser Musik – wie er mit der Platte "Glassworks" nach Hause kam, sie auflegte, sich selbst auf den Boden legte, von ihr wegtragen ließ. Und seine Eltern in die Verzweiflung trieb mit Philip Glass auf Repeat.

Die Bühne rotiert wie ein Plattenspieler

Wenn später tatsächlich einmal die Musik, das berühmte Stück Opening, mit dem typischen Schallplatten-Knistern ganz allein erklingt und am Schluss einer dieser raffinierten, selbstspielenden Steinway-Flügel in die ungewohnte Stille eine der Neukompositionen spielt und sich auch noch Violine und Klarinette dazu gesellen und Schicht um Schicht den Zauber der Klang-Patterns entfachen, dann ist das ganz wunderbar. Die Drehbühne (Ausstattung: Fly Davis) rotiert wie ein Plattenteller und das Publikum im großen Saal des Ruhrfestspielhauses lauscht fasziniert und atemlos. Aber leider dreht sich "Tao of Glass" im Wesentlichen nicht um die Musik, sondern um Phelim McDermotts Geschichte mit ihr.

Tao of Glass 2 TristramKenton uDie beglückende Begegnung mit der Musik © Tristram Kenton

Viel hängt deshalb an diesem Abend davon ab, ob einem dieser Typ sympathisch ist oder nicht. Und es gibt Gründe, die dagegen sprechen. Der 58-Jährige agiert zum Beispiel die meiste Zeit wie es manchmal vorkommt bei Bühnendarstellern aus dem englischen Sprachraum: Er überspielt jede Bewegung, ein einfacher Gang von A nach B kann da schon wie eine Slapstick-Andeutung wirken, und in seinem Mimik-Repertoire scheint immer ein bisschen Louis de Funès durch. Dabei möchte er wahrscheinlich nur, dass auch Besucher:innen in der letzten Reihe sofort verstehen: Ah, jetzt ist er überrascht! Und jetzt traurig!

Phelim McDermott hat quasi das Text-Monopol des Abends – und der Text ist ein ausgiebiger und verästelter autobiographischer Monolog. Es geht wie schon erwähnt um die erste Begegnung mit Philip Glass' Musik. Es geht um den gemeinsamen Versuch, das Buch "In der Nachtküche" des Autors Maurice Sendak ("Wo die wilden Kerle wohnen"), zu inszenieren, der letztlich scheitert. Es geht um das Dirigieren einer Oper, die Philip Glass über Ghandi geschrieben hat. Es geht um die Ausübung der Kunst des Töpferns in Japan, bei der eine Vase zu Bruch geht. Und um das Ausräumen einer Garage, bei der ein Glastisch zu Bruch geht. Und ja, man nimmt den Willen, all den Erzählungsteilen einen neuen Kitt zu geben und sie am Ende durch ihn irgendwie zusammenzuhalten, durchaus zur Kenntnis.

Zwischen Traumland und Essenz

Den Kitt bilden die fernöstliche Philosophie des Taoismus und ein Konzept des amerikanischen Psychoanalytikers Arnold Mindell, der mit den Begriffen "Konsens-Realität", "Traumland" und "Essenz" verschiedene Stufen des menschlichen Bewusstseins beschrieben hat. Davon abgesehen, dass der Schauspieler bei der Erklärung dieser Themen etwas missionarisch beziehungsweise belehrend wirkt, erscheinen sie auch etwas hoch gegriffen für die kleinen, autobiographischen Anekdoten, denen sie tieferen Sinn verleihen sollen. Vor allem verleiht es dem Abend noch lange nicht den versprochenen Charakter einer "Bühnenmeditation", wenn ausführlich über meditative Techniken gesprochen wird. Insgesamt ist er leider zu geschwätzig – und wenn McDermott am Ende noch mit der eigentlich interessanten Frage nach dem Bewusstseinszustand von Koma-Patient:innen um die Ecke kommt, ist auch die Aufnahmefähigkeit einiger Zuschauer:innen am Ende.

Tao of Glass 1 TristramKenton uSinnsuche zwischen den Noten @ Tristram Kenton

Was bleibt und im nicht ausverkauften Saal (#publikumsschwund) und auch große Anerkennung findet, ist die traumschöne, repetitive und wunderbar vorgetragene Musik von Philip Glass (von der allerdings wegen des ähnlichen und ineinander fließenden Charakters etwas unklar bliebt, ob nun wirklich zehn oder doch fünf oder fünfzehn neue Stücke zu hören waren). Und die fantasievollen Bilder, die die drei anderen Spieler:innen mit Mitteln des Figuren-, Schatten- und Objekttheaters kreieren, und denen man sich gern mit mehr Ruhe und Fokus gewidmet hätte. 

Ein besseres Beispiel dafür, wie man Musik eines Philip-Glass-Weggefährten mit Figurentheater kombinieren kann, hat vor einigen Jahren die am Premierenabend anwesende Leiterin des internationalen Figurentheater-Festivals "Fidena", Annette Dabs, gegeben: 2016 eröffnete sie die Fidena am Schauspielhaus Bochum mit ihrer Eigenkreation "Moondog" und ließ dessen Kompositionen glänzen ohne sie zu verstellen.

 

Tao of Glass
von Philip Glass und Phelim McDermott
Komposition: Philip Glass, Text: Phelim McDermott, Co-Regie: Phelim McDermott und Kirsty Housley, Ausstattung: Fly Davis, Licht: Colin Grenfell, Sound Design: Giles Thomas, Mitarbeit: Ragnar Freidank, Musikalische Leitung: Chris Vatalaro, Stellvertretender Regisseur: Peter Relton, Puppen-Design und -Herstellung: Lyndie Wright, Sarah Wright.
Mit: Sean Garratt, Rachel Leonard, Avye Leventis, Phelim McDermott, Jack McNeill, Rakhi Singh, Katherine Tinker, Chris Vatalaro.
Koproduziert von: Manchester International Festival; Improbable; Perth Festival; Ruhrfestspiele Recklinghausen; Carolina Performing Arts – University of North Carolina at Chapel Hill und Hong Kong New Vision Arts Festival zusammen mit Naomi Milgrom AC. Produziert vom Manchester International Festival und Improbable.
Premiere: 3. Juni 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de/

Kritikenrundschau

McDermotts Solo, dem sieben Musiker und Puppenspieler "so dezent wie souverän den Rahmen schenken", sei "autobiografisches Stationendrama und vom großen Atem der Sinnsuche getriebene Performance in einem", analysiert Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (4.6.2022, €). Es sei ein Abend, der "eben auch nah an einem Abgrund" wandele, der die Zuschauer:innen auf die Probe stelle. Die Produktion sei vom Intendanten der Festspiele, Olaf Kröck, sehr gepriesen worden. "Vielleicht ein wenig zu sehr", leitet der Kritiker zu seinem Resümee über: "Es ist ein guter Abend, ein sehr gekonntes, recht altmodisch aufgefächertes Kammerspiel, das im großen Festspielhaus vielleicht nicht ideal zu der Intimität fand, die es verdient", urteilt von der Gönna.

Die Szene, in der Glass' "Steinway"-Flügel programmiert spielt und Phelim McDermott einen Komapatienten darstellt, mit dem der Komponist über die Musik kommuniziert, ist eine, die Rezensent Stefan Keim "sein Leben lang nicht vergessen wird", erzählt er begeistert auf Deutschlandfunk Kultur (4.6.2022). Machmal sei das "So-tun" im Theater die höhere Form der Wahrheit, meint Keim, der die Szene "großartig" fand. Es gebe an diesem Abend auch "herrlich komödiantische" Elemente. "Völlig begeistert und fasziniert" hat der Kritiker im Publikum gesessen und über manche Effekte gestaunt. In Hollywood werden "Millionen für Spezialeffekte ausgegeben" – hier erschaffe man Beeindruckendes mit "ein paar Papierbahnen". Eine "ganz hohe Kunst" und eine "ganz, ganz hohe Form von Theater" sei dieser Abend, resümiert Keim.

 

 

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