Alice und all die anderen Als-Obs

von Esther Slevogt

Berlin, 29. Mai 2007. Seit es das Internet gibt, gibt es immer wieder Versuche, die virtuellen Welten des www auch theatralisch zu erkunden. Sei es, dass das älteste aller Medien in seinem Guckkasten von Beklemmungen gepackt wird. Und Ängsten, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Sei es, dass die unterschiedlichen virtuellen Spielwiesen, Chats, Foren und Online-Rollenspiele eigentlich nach dem Vorbild des Theaters strukturiert sind und schon deswegen nach Kommunikation und Auseinandersetzung mit ihrem Vorbild schreien.

Nun präsentiert die Berliner Schaubühne (in Zusammenarbeit mit der Berliner Universität der Künste) einen Versuch, mit Hilfe von Motiven aus Lewis Carolls Geschichte "Alice im Wunderland" das virtuelle Paralleluniversum Second Life zu entern. Am 8. Juni wird es in der Reihe Nachtcafé eine Performance geben, in der eine reale Schauspielerin (Ina Tempel) mit dem ihr nachempfundenen Avatar und anderen Figuren aus Alices Wonderland kommunizieren soll, die ausschliesslich im Second Life existieren.

Ein Avatar ist einer, der herabgestiegen ist
Second Life ist eine virtuelle 3D-Welt im Internet, in der sich Menschen mit vom System zur Verfügung gestelltem Werkzeug einen grafischen Stellvertreter, einen sogenannten Avatar herstellen können. In dessen virtueller Haut können sie mit anderen Avataren kommunizieren, Handel treiben oder sonstwie interagieren – kurz, ein zweites, virtuelles Leben führen. (Der Begriff Avatar stammt übrigens aus dem Sanskrit (Avatara = Abstieg) und beschreibt die Inkarnation einer Gottheit in einen irdischen Körper.) Es gibt virtuelles Geld (das in echte US-Dollar konvertierbar ist). Selbst echte Firmen haben inzwischen im Second Life virtuelle Filialen eröffnet.

So kann man seinen Avatar in der Second-Life-Filiale von Adidas virtuell ausstatten. Oder in der SL-Filiale der Post virtuelle Postkarten abgeben, die die Echtpost dann als reale Grusskarten tatsächlich verschickt. Manchen gilt Second Life daher als Testlabor für die virtuelle Dienstleistungsgesellschaft von morgen. Nur Theaterspielen ist bisher nicht vorgesehen. Insofern wäre hier echtes Neuland zu betreten, schon was die Untersuchung des Sachverhalts betrifft, was es eigentlich bedeutet, wenn ein Avatar lediglich einer Kunstfigur nachgebildet wird – denn das Modell der Avatarin Alice ist ja nicht die Schauspielerin Ina Tempel, sondern die Figur die sie spielt.

Romantische Sehnsucht nach falscher Authentizität
Doch das gute alte Theater stellt sich stur, bleibt in seinen alten Als-Ob-Verabredungen stecken und mogelt sich um die wirklichen Fragen herum. Schon die Pressekonferenz, auf der das Projekt vorgestellt wurde, war ganz bewusst nur im ersten, also wirklichen Leben einberufen worden. Denn in der virtuellen Welt wollte man lieber unentdeckt bleiben. Zu groß schien die Gefahr für die Veranstaltung, von vorbei kommenden, mit Theaterverabredungen unvertrauten Avataren gestört oder gar aufgemischt zu werden. Besser, es wird nichts darüber bekannt. Auch will man sich im Second Life gar nicht als Theaterprojekt zu erkennen geben, sondern sozusagen mit inoffiziellen Mitarbeiter-Avataren in der virtuellen Welt undercover agieren. Also den Anschein erwecken, die Wonderland-Figuren Alice, Hase oder Wurm würden von Echtmenschen gesteuert und nicht von einem Theaterregisseur.

Er habe die Sehnsucht gehabt, sagt der Regisseur Johannes von Matuschka, mit diesem Projekt einmal theatralische Fragen an die virtuelle Welt zu stellen. Und der Medienwissenschaftler Daniel Michelis habe passend dazu davon geträumt, die vierte Wand der Virtualität in Richtung Theater zu durchbrechen. Das klingt natürlich sehr romantisch und gern hätte man aus dieser Sehnsucht auch eine echte Neugier wachsen sehen. Aber statt sie zu untersuchen, wird hier der Versuch unternommen, die virtuelle Welt für das Projekt einfach auszutricksen.

Mit den Methoden totalitärer Geheimdienste
So wurde man dann während der Pressekonferenz höchstens ins virtuelle Labor der Programmiererin Dörte Küttler eingelassen, also einen komplett kontrollierbaren Raum. Da sah man eine futuristische Dame an den Figuren für das Projekt basteln, deren Steckbriefe und Fotos auch schon auf der Plattform "Flickr" zu sehen sind. Das sah gut aus, war im seinem Erkenntnisgewinn aber unklar. Ein Filmausschnitt zeigte zuvor, wie auf einer Probe die Theaterfigur Alice ihren Avatar erstellt. Hier regierte das Fasziniertsein vom digitalen Schöpfungsvorgang das Geschehen, nicht so sehr seine Reflexion.

Die wilde, weite und unkontrollierbare Webwelt blieb unberührt und tauchte nur als Konserve auf. Und plötzlich musste man an die feudalistischen Wurzeln europäischer Theaterformen denken, denen das multiperspektivische Internet wie die Hölle erscheinen muss. Weshalb man sich im vorliegenden Fall mit den Methoden eines totalitären Geheimdienstes sozusagen von hinten heran schleichen muss. Aber die Geschichte lehrt uns: so was ist noch nie gut gegegangen.

 

Alice im Wunderland
nach Lewis Caroll
Konzept: Johannes von Matuschka und Daniel Michelis, Regie: Johannes von Matuschka, Programmierung: Dörte Küttler.
Mit: Ina Tempel.

www.schaubuehne.de

 

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