Dorian - Schauspielhaus Düsseldorf
Des Magiers Hand
10. Juni 2022. Das Grundmotiv kennt fast jeder: Ein schöner junger Mann delegiert das Altwerden an sein Porträt. Der große Robert Wilson ist auch mit 80 Lebensjahren des Inszenierens nicht müde und nimmt Oscar Wildes Roman als Ausgangspunkt für einen Abend über Autofiktion und Camouflage. Eine Ein-Mann-Show für den grandiosen Schauspieler Christian Friedel.
Von Martin Krumbholz
10. Juni 2022. Jemand, der am Eingang zum Schauspielhaus das Plakat "Karten gesucht" hochhält, wie bei einem der vielen Festivals – das hat es hier in Düsseldorf wohl lange nicht mehr gegeben. Kein Zweifel, dieser "Dorian" ist ein Event. Dass Reich des Todes von Rainald Goetz in der Regie von Stefan Bachmann – soeben bei den Berliner Autorentheatertagen gefeiert – nicht zum Theatertreffen gebeten wurde, diese narzisstische Kränkung hat man mit rheinischer Gelassenheit zu ertragen gewusst. Den großen Robert Wilson jedoch, den kann Düsseldorf fast keiner mehr nehmen. "Dorian" ist in ein paar Jahren seine dritte Arbeit hier, nach "Sandmann" und "Dschungelbuch".
Vernichtende männliche Definitionsmacht
Oscar Wildes Erzählung "Das Bildnis des Dorian Gray" ist berühmt durch ihre Grundidee: Ein schöner junger Mann der besseren Gesellschaft delegiert das Altwerden an sein Porträt, während er selbst (äußerlich) der bleibt, der er ist. Eine zur Realität gewordene narzisstische Wunschvorstellung. Beim Wiederlesen erfährt man einen nicht geringen Schrecken: ob der unverhohlen misogynen Untertöne dieses ikonischen Textes. Seine siebzehnjährige Freundin Sibyl Vane nennt der Protagonist "eine drittklassige Schauspielerin mit einem hübschen Gesicht", woraufhin diese sich prompt umbringt. Vernichtende männliche Definitionsmacht über das weibliche Geschlecht – eigentlich unerträglich. Hat man dergleichen damals in der Schule schlicht übersehen?
Wilsons Scriptwriter Darryl Pinckney indes ist klug genug, den Sibyl-Vane-Strang zu ignorieren. Ohnedies kümmert sich der recht kryptische Text nicht um die Fabel; er konglomeriert vielmehr Motive aus ihr mit Zitaten aus dem Briefwechsel Wildes mit seinem Geliebten Alfred Douglas sowie mit Anspielungen auf die Biografie des Malers Francis Bacon. Überaus eklektizistisch ist dieses Verfahren: Beispielsweise zitiert Pinckney in einer Wiederholungsschleife den Originalsatz "Kein Tag verging, ohne dass der Fall in den Zeitungen erwähnt wurde", um welchen Fall es sich dabei handelt (nämlich um den Fall Vane), verrät er jedoch nicht. Redundanzen sind überhaupt ein Grundprinzip des Textes, der in Bezug auf Rhythmus und Hermetik den Mitteln des Meisters Wilson ziemlich präzise entspricht.
Der Alleskönner
Letztlich, das muss einem klar sein, werden in "Dorian" keine ethischen Fragen verhandelt. Es handelt sich um eine Ein-Mann-Show für den famosen Schauspieler und Alleskönner Christian Friedel, und die ist perfekt. Der einzige nicht perfekte Moment an diesem Abend ist der, da Requisiteure und Technikerinnen kurz tanzen müssen, was sie nun wirklich nicht gelernt haben: Und hierin liegt eine liebenswerte Geste der Solidarität. "Nur Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren", konstatiert Wilde, und das muss man Robert Wilson nicht zweimal sagen. Auf der Bühne ist zunächst nur eine karge Lichtquelle zu erkennen, die sich später als Radio entpuppt. Dann wird ein überinstrumentiertes Maleratelier sichtbar, mit drei phallischen Riesenpinseln in der Mitte, tapeziert mit Bildern, die mehr von Jackson Pollock haben als von Francis Bacon oder gar einem Realisten der vorletzten Jahrhundertwende.
Wie ein düsterer Magier erscheint Friedel zunächst, schwarz gewandet, mit einem einzigen weißen Handschuh, der am Schluss des Bildes angeleuchtet wird. Er singt (und er singt fabelhaft) von einem Straßenkater, "an alley cat", der leitmotivisch wiederkehrt. Ob es das Problem eines Straßenkaters ist, sich "nicht zwischen richtig und falsch entscheiden zu können", sei dahingestellt, was jedoch funktioniert, ist das Prinzip: der Loop. Nach dem knappen Bericht vom Mord am Maler Basil Hallward, der Dorian porträtiert hat (und dessen Verliebtheit und Moralismus dem jungen Mann auf die Nerven gehen), steigert sich die Musik zum Crescendo, Sirenen ertönen – und Friedel spielt und singt selbst in den Umbaupausen weiter, selbst dann, scheint es, wenn er im Dunkeln festgebunden und zum Schnürboden hochgezogen wird. Da ist ein Künstler unangreifbar in seiner Energie, seiner Spiellust, seiner unbändigen Freude am Entertainment. Und es ist schon eine große Lust, dem zuzusehen.
Ovationen für den Unverwüstlichen
Die Bilder wechseln, am Schluss gibt es sogar noch einen Stepptanz, doch zumindest eine Frage bleibt offen: Was hat es mit dem Verhältnis zwischen Basil und Dorian auf sich? Woher der Hass des einen auf den anderen? Er habe zu viel von sich selbst in das Porträt hineingelegt, bekennt der Maler, zu viel "Romantik". Gilt das auch für Wilde, den großartigen Dichter, dem später seine Affäre mit Douglas zum Verhängnis wird? Autofiktion und Camouflage, könnte man diesen Komplex überschreiben. Wilson und Pinckney halten sich auch hier diskret zurück. Nur Hohlköpfe fragen nach dem "Inneren". Nach dem Ende der Show explodiert der Saal. Stehende Ovationen für Friedel, Pinckney und natürlich für ihn, den achtzigjährigen unverwüstlichen Großmeister Bob Wilson.
Dorian
Text von Darryl Pinckney nach Motiven von Oscar Wilde
Aus dem Englischen von Konrad Kuhn
Konzept, Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson, Kostüm: Jacques Reynaud, Originalkomposition: Woods of Birnam, Dramaturgie: Konrad Kuhn.
Mit Christian Friedel und Jeremia Franken.
Uraufführung am 10. Juni 2022 in Düsseldorf
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause
Koproduktion mit dem Nationaltheater Kaunas und dem Staatsschauspiel Dresden
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
Alexander Menden von der Süddeutschen Zeitung (online 10.6.2022) schreibt, Christian Friedel liefere ein "Meisterstück, brillanter, fokussierter Schauspielkunst" ab. "Der Wechsel zwischen Hektik und Langsamkeit, die Gestik aus abgewinkelten Armen und starr gespreizten Händen, das Puppenartige - wer das als Schauspieler begreift und verinnerlicht, wer also das Wilson-Vokabular so fließend beherrscht und spielerisch umsetzen kann, wie Christian Friedel es an diesem Abend tut, der straft en passant auch alle Lügen, die behaupten, Bob Wilsons Theaterwelt sei ausschließlich Form, nicht Inhalt." Der Abend eröffne "gerade durch den Manierismus, durch das Artifizielle, gleichsam als Destillat der Abstraktion, so tiefe Einblicke ins defizitäre Menschsein, dass sich einem die Haare am Unterarm aufstellen".
"Robert Wilsons Regie wirkt oft eher zurückhaltend und mitunter auch ein wenig kraftlos"; und auch Darryl Pinckneys "Zitatcollage" vermag Hubert Spiegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.6.2022) nicht ganz zu überzeugen. Wohl aber Christian Friedels "Brillanz". Friedel ist "ein Entertainer, der keinen Effekt auslässt, bei dem jeder Hüftschwung, jede Geste, jeder Tanzschritt sitzt, der hinreißend singt, mit der Zunge schnalzt, verschwörerisch ein Auge zukneift und im Rhythmus des Klickens der imaginären Kameras die Posen wechselt. Den Szenenapplaus, der ihm mehrfach im Laufe dieses Abends gespendet wird, scheint er mit beiden Händen ans Herz zu drücken, als wollte er sagen: Her damit, ich hab’s verdient! Hat er auch."
"Es geht an diesem Abend um den Dandy an sich, um die absolute Hingabe an die Kunst und die Ästhetik – und deren Schattenseiten", berichtet Stefan Keim im Deutschlandfunk (10.6.2022). Keim fühlt sich an Wilsons Kultmusical "The Black Rider" erinnert: "Artifizielles Entertainment in absoluter Perfektion". Friedel schaffe es dabei, hinter "all den stilisierten Gesten“ einen "Menschen mit Seele" zu entwickeln und weise damit auch über das "Dandytum im Kulturwesen" hinaus auf "alle Menschen, die sich Idealen von Perfektion und Normierungen unterordnen". Fazit: "Ein filigraner Text, eine kraftvolle Inszenierung, doch vor allem überragt Christian Friedel."
Oft habe man "mehr Kunst als Spiel vor Augen, bewegte Bildnisse gewissermaßen, Szenen, die um des Lichts wegen in der Welt sind, die es gibt, weil sie schön oder hässlich sind, und die uns auf die Pelle rücken, weil in ihnen die Angst vor Tod und Verlust und die Verzweiflung einer Sache nach Sinn oder wenigstens eine Existenzwahrheit hindurchscheinen", so Lothar Schröder in der Rheinischen Post (11.6.2022). Friedel, den Schröder in den höchsten Tönen preist, sei eine Kunstfigur überwiegend in Schwarz und Weiß, "tanzend, gegen Stürme anlaufend, singend, am Himmel schwebend". Alles an Friedel-Dorian sei "eine unerhörte Geste, eine Pose und Behauptung, aber auch ein Leiden, eine Frechheit, eine Zumutung. In ihm tobt ein zutiefst antibürgerlicher Geist."
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