Glühwürmchen from Outer Space

1. Juli 2022. Mit dem Über-Klassiker der Minimal Music "Einstein on the Beach" (von Philipp Glass und Robert Wilson aus dem Jahr 1976) treten Susanne Kennedy und Kompagnon Markus Selg die Reise in den Cyberbarock an – Aktuell ist die Arbeit im Haus der Berliner Festspiele zu sehen. Hier wurde die Wiener Premiere besprochen.

Von Andrea Heinz

"Einstein on the Beach" in der Regie von Susanne Kennedy und Markus Selg bei den Wiener Festwochen © Ingo Höhn

11. Juni 2022. Wo soll man anfangen? Ornament ist alles in Susanne Kennedys und Markus Selgs Inszenierung von Philip Glass‘ und Robert Wilsons Oper "Einstein on the Beach". Und das ist schon mal ein Statement, gilt der Avantgarde-Klassiker aus den 1970ern doch – Musiktheater-Banausen aufgepasst – als Meilenstein der Minimal Music. Minimal ist in dieser Inszenierung, die gerade erst am Theater Basel Premiere hatte und nun an zwei Abenden bei den Wiener Festwochen zu sehen ist, aber eher gar nichts.

Die Bühne ist bis in den Orchestergraben hinein überzogen mit Teppichstoff, auf dem sich wilde Ornamente schlängeln, die wiederum auch die hautengen Anzüge der sechs Darsteller:innen (Suzan Boogaerdt, Tommy Cattin, Ixchel Mendoza Hernández, Tarren Johnson, Dominic Santia, Frank Willens) schmücken. Sie, ebenso wie die Sängerinnen (Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Emily Dilewski (Solo-Sopran), Sonja Koppelhuber, Nadia Catania (Solo-Alt)) sowie der Chor, die Basler Madrigalisten, kann man sich phänotypisch in etwa so vorstellen, wie einen archaisch-futuristischen Star Trek-Tribe, der sich zuerst in einen Aerobic-Kurs, und dann in ein Musikvideo von David Bowie in seiner Major Tom-Phase verirrt hat.

Star Trek mit echter Ziege

Die extrem charismatischen Darsteller:innen tragen freche Leselampen auf der Stirn, als würden sie im Fasching als Glühwürmchen gehen wollen und sprechen lippensynchron zu Stimmen aus Lautsprechern, die sie am Körper tragen – ein Verfremdungs-Mittel, das man von Kennedy schon kennt.

Einstein3 Ingo Hoehn uSuzan Boogaerdt reist mit Ziege durch Einsteins Raumzeit © Ingo Höhn

Wenn es in der handlungsarmen bis handlungslosen 4-aktigen Oper schon nicht wirklich um Einstein geht, so scheinen hier alle Bezüge gekappt – nicht einmal die Soloviolinistin, die beeindruckende Diamanda Dramm, tritt hier noch wie ursprünglich gedacht als wuschelköpfiger Physiker auf. Auch was den Beach betrifft: Fehlanzeige. Am ehesten findet man eine Verbindung zu Einstein noch in der Physik, den Naturgesetzen, oder vielleicht auch ihrer Verkehrung: In der Mitte der Drehbühne erhebt sich, durch eine Treppe erreichbar, ein leicht angeknackstes Portal.

Durch dieses Wurmloch ist die Truppe womöglich, wahlweise aus Zukunft oder Vergangenheit (oder: beides. Major Tom!) kommend, in einer Art ornamentalen Teppich-Pappmaché-Wüste gelandet, um hier als Cyber-Nomaden ihren Ritualen nachzugehen und kryptisch-dadaistische Dialoge aufzuführen. Der Raum, in dem sie sich bewegen, ist gegliedert von künstlichen Höhlen, sie sammeln sich am (ebenfalls künstlichen) Lagerfeuer oder im Tempel mit Totempfahl-artigen Säulen, um dort einen Tiergott anzubeten. Sogar eine echte Ziege (leider kein Scherz) mümmelt ihr Strohbündel. Man kann sich das alles ganz genau anschauen, denn das Publikum darf sich auf der Bühne (relativ) frei bewegen. Dazu später mehr.

Cyber-Nomaden unter Techno-Bäumen

Man weiß jedenfalls nicht so ganz genau, was das alles zu bedeuten hat, und das ist vermutlich auch Sinn der Sache. Die Cyber-Nomaden leben in einer undefinierbaren Zukunft, sei sie dys- oder utopisch. Sie kennen den Werkstoff Plastik und haben jede Menge riesiger Bildschirme, was in Zeiten grassierender Energiearmut schon fast ein wenig obszön wirkt. Hier spielen sich Projektionen ab, die Kennedy "Computerbarock" nennt, man sieht Bäume unendlich gestaltwandeln, amorphe Formen, Fraktale.

Einstein2 Ingo Hoehn uReich an Symbolen und Ritualen: das Spiel im Bühnenbild von Markus Selg mit Kostümen von Teresa Vergho © Ingo Höhn

So zahlreich sind die Symbole, Bezüge, Verweise und Bilder, dass es an Beliebigkeit grenzt. Mit Entschlüsselung kommt man hier sowieso nicht weiter. Und auch in den Zuschauerreihen wird man nur bedingt froh. Nicht etwa wegen Dirigent André de Ridder und dem Ensemble Phoenix Basel, die zusammen mit den Solist:innen einen hypnotischen Sog erzeugen, dem man sich zu gerne hingeben würde. Aber die Halle E des Museumsquartiers scheint nur bedingt geeignet für diese Art der Inszenierung. Wie schon erwähnt ist das Publikum eingeladen, auf die Bühne zu kommen, sich dort niederzulassen, Teil der Inszenierung zu werden – was zu einer enorm unkonzentrierten Atmosphäre führt. Viele fühlen sich von der neuen Theater-Freiheit animiert, permanent zu tuscheln, Fotos und Videos zu machen.

Im 9-Euro-Express nach Sylt

Die Tribüne, von der aus man hinunter blickt, erbebt während der dreieinhalb Stunden quasi ununterbrochen von den Schritten jener, die auch einmal aus der Nähe schauen wollen (und dabei nicht selten zu Duane Hanson-Skulpturen erstarren), und die Bühne selbst ist bisweilen so voll, dass man eher das Gefühl hat, im 9-Euro-Express nach Sylt zu sitzen, als im Theater.

Man kann den Raum während der Aufführung auch kurz verlassen und nach einer Pause wiederkommen, aber die Lösung ist eine andere: Auf die Bühne! Während das Bühnengeschehen aus der Ferne fast untergeht in der Menschenmenge, vermittelt sich aus der Nähe die Energie des Abends, wirkt der Sog. Die vielen Menschen, die einander über die Füße stolpern, muss man ausblenden – aber das kennt man ja als geübte Bahnfahrerin.

 

Einstein on the Beach
von Philipp Glass und Robert Wilson
Konzept: Susanne Kennedy, Markus Selg, Musikalische Leitung: André de Ridder, Bühne: Markus Selg, Kostüme: Teresa Vergho, Sound: Richard Janssen, Video: Rodrik Biersteker, Markus Selg, Licht: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Meret Kündig.
Mit: Suzan Boogaerdt, Tommy Cattin, Ixchel Mendoza Hernández , Tarren Johnson, Dominic Santia, Frank Willens; Diamanda Dramm (Solovioline), Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Emily Dilewski (Solo-Sopran), Sonja Koppelhuber, Nadia Catania (Solo-Alt), Chor: Basler Madrigalisten, Orchester: Ensemble Phoenix Basel.
Eine Produktion des Theater Basel in Kooperation mit den Wiener Festwochen und den Berliner Festspielen.
Premiere am 4. Juni 2022 im Theater Basel
Dauer: 3 Stunden 35 Minuten, individuelle Pausen

www.festwochen.at
www.berlinerfestspiele.de
www.theater-basel.ch

 

Susanne Kennedy sprach jüngst in unserer Video-Reihe Neue Dramatik in 12 Positionen über ihre Arbeit.

Der Klassiker Einstein on the Beach von Philipp Glass und Robert Wilson kam 2014 in einer Rekonstruktion der Uraufführungsinszenierung bei den Berliner Festspielen zur Aufführung.

Kritikenrundschau

"Man merkt zunehmend, man kommt in einen Rausch hinein", stellt Jörn Florian Fuchs auf Deutschlandfunk Kultur (4.6.2022) nach der Premiere in Basel fest – und könne den noch durch Bier oder Wein verstärken (den man mit ihn den Saal nehmen dürfe). Dennoch erlebe man "in dem ganzen Durcheinander" fast so etwas wie einen stringenten Abend. Die üblichen Kennedy-Themen – eine neue Gesellschaft, eine neue Religion – kämen auch hier durch, allerdings hintergründig: "Es ist keine missionarische Angelegenheit." Kurz: "ein außergewöhnliches Erlebnis".

Für die Süddeutsche Zeitung (7.6.2022) war Egbert Tholl bereits bei der Premiere in Basel: Wie immer bei Kennedy/Selg sei die Aufführung ein "technisches Wunderwerk, hier randvoll mit sich permanent neu ereignenden Bildern von Natur und deren Zerstörung. Man muss sich den Ort denken wie ein archaisches Bild nach einer Apokalypse. Ein Neuanfang. Und man sollte eines tun: Jedes Verstehenwollen unterbinden, sonst könnte man belästigt werden von seltsamen esoterischen Anwandlungen. Am besten setzt man sich auf die Drehbühne, einmal rundherum dauert acht Minuten, und versinkt im Klangbildrausch. Dann ist es wundervoll, ein gemeinschaftliches Glück."

Man verliere sich im Rausch der stänndigen Wiederholungen, sagt Martin Traxl im ORF (11.6.2022). Letztendlich seien dreieinhalb Stunden Klangmalerei in denen szenisch relativ wenig passiere aber auch eine große Herausforderung. Nur ein Teil des Publikums hätte mit ihm zusammen bis zum Schluss "durchgehalten".

Moritz Roniger von der Wiener Zeitung (14.6.2022) bekennt zwar, nach der Vorstellung nicht klüger als vor ihr gewesen zu sein, langweilig sei ihm jedoch zu keiner Zeit gewesen. Philipp Glass’ Minimalismus werde zudem "musikalisch toll umgesetzt".

Reinhard Kager von der FAZ (14.6.2022) bescheinigt Susanne Kennedy "plakative Esoterik". "Bis auf die Videos verändert sich nichts außer der Musik, die das Ensemble Phönix unter André de Ridder präzise, manchmal jedoch etwas zu bedächtig spielt, zudem übertönt von überlaut mikrophonierten Sprecheinlagen. Anstatt den bedrohlich aufkeimenden Irrationalismen unserer Gegenwart kritisch entgegenzutreten, befördern die Wiener Festwochen diese auch noch."

 

 

 

Kommentare  
Einstein on the Beach, Wien: Für weniger Menschen konzipiert
Der Kritik an der Bestuhlung und der Menge an Menschen kann ich zustimmen. Ich weiß nicht, warum man - wenn der Abend schon in Basel zu sehen war - nicht darauf eingeht, dass das offenbar für weniger Menschen konzipiert ist. Den Abend selber fand ich aber extrem faszinierend, auf der Bühne entfaltet der einen unfassbaren Sog - Hut ab auch vor allen Beteiligten. Das Erlebnis werde ich lange nicht vergessen.
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