Heimkehr ohne Heilung

12. Juni 2022. Sieben Jahre ist es her, dass Lindsey Ferrentinos Kriegsheimkehrerinnen-Drama in den USA uraufgeführt wurde. Bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Augsburg bekommt das Hybrid-Stück jetzt plötzlich wieder eine beunruhigende Aktualität.

Von Willibald Spatz

"Ugly Lies the Bone – Das ganze Spiel" in der Regie von Alice Asper auf der Brechtbühne im Gaswerk des Staatstheaters Augsburg © Jan-Pieter Fuhr

12. Juni 2022. Vor zwei Jahren schon hatte man am Staatstheater Augsburg die Idee, dass Theater nicht immer im Theater spielen muss. Man konnte sich damals eine VR-Brille nach Hause bestellen und daheim eine aufgezeichnete Vorstellung ansehen; so war man mittendrin und manchmal auch näher dran als in einem Theaterraum. Nun gibt es die Brillen immer noch: Sie werden im richtigen Theater zur Erweiterung des Spielraums eingesetzt.

Willkommen in der Minecraft-Welt

Lindsey Ferrentinos Hybrid-Stück "Ugly Lies the Bone", das Alice Asper als deutschsprachige Erstaufführung auf die Augsburger Brechtbühne im Gaswerk gebracht hat, schreit tatsächlich regelrecht nach einer virtuellen Ergänzung. Jess, eine Heimkehrerin aus einem Afghanistan-Einsatz, soll mittels einer "VR-Therapie" lernen, mit den dort erlebten traumatischen Ereignissen umzugehen. Sie besucht also einen als "Operator" bezeichneten Therapeuten, setzt dort eine Brille auf und bewältigt Aufgaben in einer künstlich erschaffenen Welt.

Damit wir uns das nicht nur vorstellen müssen, sind auch wir als Publikum dreimal im Lauf der Vorstellung eingeladen, die Brille aufzusetzen und uns in eine Art Minecraft-Welt zu begeben, wo dann der Jess-Avatar zum Beispiel einen Turm hochklettert, während die Spielsteine durch die Luft schweben. Viel zu ihrer Heilung kann die Spielerei in der Parallelwelt allerdings nicht beitragen. Die Rückkehr in die Realität lässt die Werte auf der Schmerzskala zuverlässig immer weiter nach oben sausen.

ugly2 fuhr uEinander nah und doch so fern: das Augsburger Ensemble auf Denise Leisentritts Bühne © Jan-Pieter Fuhr

Im Stück geht es tatsächlich kaum um die Ereignisse im Krieg. Es ist eigentlich ein Heimkehrer-Drama. Die Welt zu Hause ist Jess nämlich furchtbar fremd geworden. Christina Jung, die Jess spielt, steht gekrümmt neben dem eigenartigen Operator (Florian Gerteis) in seinem futuristischen Silberhemd, hat die Hände in die Ärmel ihres blauen Kapuzenpullovers geschoben, weiß nicht, was sie hier erwartet, will eigentlich nur möglichst schnell mit der Sache durch sein. Auf die Frage "Wann bin ich fertig?" kann ihr der Operator immer nur die eine unbefriedigende Antwort geben: "Du bist fertig … wenn du es willst".

Mit dem Pizzakarton aus dem Haus geprügelt 

Die Party ist schon gelaufen. Über den Köpfen schwebt der Schriftzug "Welcome Home", Katja Sieder als Jess' Schwester Kacie lässt die Luftballons vom Fest platzen. Auf Denise Leisentritts Bühne befinden sich die beiden Schwestern in zwei an Glashäuser erinnernden Konstruktionen. Sie sind im Spiel im selben Raum, aber einander doch unerreichbar fern. Auch wir Zuschauer sind durch Gazewände dem Geschehen entrückt. Für alle fühlt sich das immer noch extrem unwirklich an.

Die Stadt Titusville in Florida hat während Jess' Abwesenheit einen immensen Niedergang durchgemacht. Einst sind hier alle bemannten Raumflüge der USA gestartet, jetzt kann Jess froh sein, wenn sie einen Job als Thekenkraft in einem Pizzaladen bekommt. Den jedenfalls könnte ihr Kelvin besorgen, Kacies Mann. Sebastian Müller-Stahl spielt ihn als großartige Null beziehungsweise früh verrenteten Klempner, für den nun "Vater Staat" sorgt. Ihn prügelt Jess für das Stellenangebot mit einem leeren Pizzakarton aus dem Haus der Mutter. Dort wohnen die Schwestern jetzt, weil die Mutter dement und in einem Pflegeheim ist.

ugly3 fuhr u"Welcome Home": Dem Schriftzug zum Trotz ist die Party längst vorbei für Jess (Christina Jung, rechts) und Stevie (Julius Kuhn) © Jan-Pieter Fuhr

Überhaupt, die Männer: Die brauchen nicht einmal in den Krieg zu ziehen, um ihr Leben an die Wand zu fahren. Jess hatte einst einen Verlobten: Stevie. Den trifft sie als Hot Dog wieder, als sie an einer Tankstelle ein Rubbellos einlösen will. Stevie hatte einen Job bei der NASA, jetzt arbeitet er als Snack verkleidet an einer Kasse. Außerdem ist er verheiratet, was ihn aber nicht daran hindert, gleich wieder mit Jess anzubandeln und mit ihr ein Date am Freitag zu vereinbaren, weil da seine Frau arbeitet. Julius Kuhn macht aus ihm ein furchtbares, allerdings nicht unsympathisches Windei. Jedenfalls gelingt es Jess in seiner Gegenwart, etwas von ihrer Last abzulegen und zu lächeln. Allerdings nur kurz. Mit dem Schmerz wird sie eben nicht fertig, nur weil sie es will.

Konzentriertes und effektives Spiel

Als "Ugly Lies the Bone" 2015 in den USA uraufgeführt wurde, kämpften amerikanische Soldaten in Afghanistan, und die traumatisierten Heimkehrer:innen waren ein unübersehbarer Teil der US-Gesellschaft. Lindsey Ferrentino legte mit ihrem Text den Finger in eine offene Wunde. Die Exposition-Therapie verpufft in einer toxischen Umgebung. Sieben Jahre später hat das Stück bei seiner deutschsprachigen Erstaufführung in Europa plötzlich wieder eine unangenehme Aktualität bekommen.

Je mehr es uns die Inszenierung erlaubt, nah an die Schauspieler:innen und ihr sparsames, konzentriertes und effektives Spiel zu kommen, desto stärker wirkt sie auch. Der technische Firlefanz drum herum ist für Jess' Heilung und Heimkehr nutzlos. Vom Umherschmeißen einiger Pixel-Klötze wird niemand gesund werden.

 

Ugly Lies the Bone – Das ganze Spiel
von Lindsey Ferrentino
Aus dem Amerikanischen von Michael Raab
Idee, Konzept, VR- und Videoregie: Alice Asper, Szenische Umsetzung: David Ortmann, Nicole Schneiderbauer, Bühne und Kostüm: Denise Leisentritt, 3D-Artist: Benjamin Seuffert, Musik: Stefan Leibold, VR-Musik: Klaus Lehr, Licht: Kurt Fettinger, Dramaturgie: Sabeth Braun.
Mit: Christina Jung, Florian Gerteis, Julius Kuhn, Katja Sieder, Sebastian Müller-Stahl, Ilona Kramer (nur Video), Ute Fiedler (Stimme).
Premiere am 11. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

Die Idee mit den VR-Brillen für das Publikum tauge "nix", schreibt Egbert Tholl in der SZ (12.6.2022). Viel interessanter sei die echte Umsetzung auf der Bühne durch David Ortmann und Nicole Schneiderbauer. "Sie brauchen die Andeutung eines Zuhause, ein bisschen effektvolle Videoprojektion und allein die Darsteller, um mit dem Text in einer herrlich schroffen Übersetzung und mit präzis gesteuerten Assoziationen einen aufregenden Abend zu erschaffen."

Gerade die Doppelung durch die VR-Brillen wären interessant, meint dagegen Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (13.6.2022). Bühne und Regie unterstreichten außerdem, wie unmöglich Nähe geworden sei. Dank der Schauspielerin Christina Jung versinke man als Zuschauer:in nicht in reine Depression, sondern lasse sich von ihrer großen inneren Stärke mitreißen.

Kommentare  
Bone, Augsburg: Bravo!
Es ist erstaunlich, dass es 7 Jahre dauerte, damit dieses Stück erstmals im deutschsprachigen Raum gezeigt wird. Bravo Augsburg! Wo waren denn Berlin, Hamburg, München? Wenn ich daran denke, wie viele Produktionen es in diesen Jahren gab, darunter leider viele mühsame, undramatische und schlicht langweilige "Stücke" Marke Eigenbau durch Regie oder Dramaturgie. Das bestätigt mein Vorurteil, dass ein Teil des sich zeitgemäß wähnenden deutschen Theaters nur selten an packenden Stücken mit interessanten Plots und guten Rollen interessiert ist (siehe dazu auch den kürzlichen Beitrag zur miesen Entlohnung für deutsche Dramatiker) und lieber eine Art Ausgangsmaterial gefragt ist, aus dem dann während des Probenprozesses irgendetwas gezimmert werden soll. Daher noch einmal: Bravo Augsburg, dieses auch thematisch spannende Stück endlich in den deutschsprachigen Raum geholt zu haben.
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