Üppig liebgehabt

12. Juni 2022. Einverständnis beim Sex ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Jetzt hat Choreograf Michiel Vandevelde mit "Joy 2022" bei den Wiener Festwochen einen ganzen Abend darüber gemacht mit Schauspieler:innen der Münchner Kammerspiele und Protagonist:innen der Sexpositivity-Szene. Fehlt nur noch ein Konflikt.

Von Martin Thomas Pesl

"Joy 2022" © Judith Buss

12. Juni 2022. Um eingangs das Positive zu sagen: Als Fortsetzung der Vienna Pride mit anderen Mitteln ist dieser Abend als Erfolg zu verbuchen. Einige der 250.000 Teilnehmer:innen führte die Regenbogenparade in Partylaune augenscheinlich direkt ins Volkstheater zur Uraufführung von "Joy 2022" im Rahmen der Wiener Festwochen. Sie konnten gar nicht aufhören zu jubeln.

"Ich ficke das Patriarchat"

Der Abend des bestens beleumundeten belgischen Choreografen Michiel Vandevelde ist eine Produktion der Münchner Kammerspiele. Vandevelde, das ist sympathisch, stürzt sich dabei selbst auch ins Getümmel. Zunächst, beim Einlass des Publikums, sitzt er noch neben seinen Performer:innen an der Rampe und moderiert die Vorstellungsrunde. Von der Bühne aus strahlen einen Ensemblemitglieder der Kammerspiele und Akteur:innen der Sexpositivity-Szene an: eine männlich gelesene Frau, ein älterer Herr, ein Abiturient und so weiter. Nacheinander lassen sie ihre Namen, ihre bevorzugten Pronomen und zwei Sätze über ihre Haltung zu Sex hören, dann lädt Vandevelde das Publikum ein, Nämliches zu tun. Alle Aussagen ernten heftigen Applaus, entweder, weil sie als so mutig empfunden werden, oder aus Begeisterung darüber, dass man sie heute einfach so tätigen darf.

Joy1 JudithBuss uAuf der Matratze: Lucy Wilke und Lotta Ökmen in "Joy 2022" © Judith Buss

Als Carolee Schleemann 1964 ihre Choreografie "Meat Joy" präsentierte, war das gewiss nicht so einfach. Der erotisch explizite Klassiker aus der Frühzeit der sexuellen Revolution dient Vandevelde als Inspiration, neben einer Reihe anderer Titel, die nach Hochgehen des Vorhangs auf der Rückwand eingeblendet werden. Das freilich lässt das ganze Unterfangen verkopfter aussehen, als es ist. Unter den "Literaturhinweisen" ist auch das soeben gehörte Zitat der mitwirkenden Sexarbeiterin Maia Ceres: "Ich ficke das Patriarchat, aber nicht gratis."

Vom Tod geküsst

Es folgen neun "Akte" von – wenig überraschend – himmelschreiender Harmlosigkeit. Wenn – einvernehmlicher – Sex etwas Positives ist (und da sind sich auf der Bühne, sehr wahrscheinlich aber auch im überwiegenden Großteil des Publikums alle einig), gibt es auch keinen Konflikt. In den meisten Szenen wird sich vor musikalischer Untermalung üppig liebgehabt, bemalt, gestreichelt, befummelt, Orgiastik behauptend auf der Drehbühne geaalt. Vorsichtige Einsprüche scheinen von zwei Schauspielprofis aus dem Ensemble zu kommen: Edith Saldanha spricht einen Text darüber, "vom Tod geküsst zu werden", und Jelena Kuljić performt die Audiospur eines Liebesakts mit der Haltung einer klassischen Sängerin. Cute. Harry und Sally lassen grüßen ("I'll have what she's having"). Ironisch, dass gerade diese beiden auch im durchaus sexkritischen Abend Like Lovers Do (Memoiren der Medusa) mitwirken.

Joy2 JudithBuss uAlles so schön bunt hier: "Joy 2022" © Judith Buss

Statt den Performer:innen dabei zuzusehen, wie sie tun, als hätten sie Sex, hätte man sie gerne als Expert:innen eines sexpositiven Alltags angehört: Wie sieht dieser aus? Was treibt sie an? Welche Steine werden ihnen in der heutigen Zeit noch in den Weg gelegt? Dem Anschein nach: keine. Erfreulich, wenn das so ist. Aber für einen Theaterabend nicht besonders interessant. So gesehen musste Vandeveldes Plan ins Leere laufen, unser Verständnis von Intimität im Vergleich zu den Sechzigerjahren zu erkunden. Damals saßen noch die Gegner der sexuellen Befreiung im Publikum. Heute sind es die Teilnehmer:innen der Pride.

Joy 2022
von Michiel Vandevelde
Uraufführung
Konzept, Choreografie, Bühne: Michiel Vandevelde, Kostüme: LILA & JOHN, Licht: Stephan Mariani, Sounddesign: Senjan Jansen/senstudio, Michiel Vandevelde, Dramaturgie: Mehdi Moradpour, Beratung Awareness: Carolin Stöckl.
Mit: Theresa „BiMän" Bittermann, Maia Ceres, Konstantin Kloppe, Jelena Kuljić, Klaus Lengefeld, Kamill Lippa, Lotta Ökmen, Edith Saldanha, Michiel Vandevelde, Lucy Wilke.
Premiere am 11. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at
www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

In seinen Arbeiten gelinge es Vandevelde "immer wieder, eine luzide Verbindung zwischen historischen, gesellschaftspolitischen und ästhetischen Fragen und neuen, meist überaus sinnlichen, persönlichen choreografischen Zugängen zu schaffen", schreibt Angela Heide in der Wiener Zeitung (13.6.2022). Diesmal allerdings fehle ein wirklich multiperspektivischer Zugang. "So bleibt 'Joy 2022' ein liebevoller Aufruf, dem es jedoch an der Schärfe und Dringlichkeit des versprochenen Manifests gegen das 'Erstarken rechtspopulistischer und reaktionärer Haltungen' fehlt."

Almuth Spiegler von der Presse (13.6.2022) ist fassungslos. Alles, was in der Performancekunst einmal radikal und mutig erkämpft worden sei, werde hier zu Tode gestreichelt. "Zur zeigefingerwoken Konvention in ästhetisch belanglosem Flatterkleid."

"Als utopischer Entwurf eines sexpositiven Zusammenseins funktionierte der Abend wunderbar, in den Kammerspielen entsteht ein einnehmendes Gruppengefühl, über die Bühne hinaus", schreibt Michael Stadler nach der Münchner Premiere in der Abendzeitung (12.12.2022). "Obwohl es hier um Intimität und Begehren geht, fühlt man sich beim Zuschauen nicht als Voyeur, sondern ist Teil einer Gemeinschaft, die dazu eingeladen wird, in vorurteilsfreier Atmosphäre den Blick sowohl auf die anderen als auch auf sich selbst zu richten."

"Der Abend versprüht die unschuldige Freude eines Kinderspiels und verläuft in ähnlichen Spannungsbögen", schreibt Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (12.12.2022). "Vandevelde setzt auf bildstarke, bunte Szenen, nicht auf künstlerische Überhöhung. Die Inszenierung funktioniert wie ein fröhlicher Weihnachtssong mit ein bisschen (Körper-)Liebe für alle."

"Natürlich erzählt 'Joy 2022' von einer großen Utopie, ist also letztlich ein völlig harmonisch-harmloser Abend. Doch wo, wenn nicht im Theater ist denn noch Platz für Utopien?", schreibt Michael Schleicher im Merkur (12.12.2022).

Kommentare  
Joy 2022, Wien: Simulierter Bühnensex
"Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt"
7.11.1979
Joseph Beuys
Joy 2022, Wien: Beschreiben statt Urteil
Ich hätte gern viel mehr gelesen und dargestellt bekommen, was genau in welchen Teilen passiert, als einen pseudo-dialektischen Griff zu sehen: „Das Positive am Anfang und jetzt kommt das schwere Schwert der Kritik“.
Ich muss wohl heute selbst reingehen

(Nur der letzte Ansatz gibt mir etwas, alles andere klingt nach: ‚Ich hatte einfach keinen guten Abend gestern‘. Nur: Das hilft der (Kritik)Kunst kaum)
Joy 2022, Wien: Falscher Film
Das kommt oft vor, der Kritiker hat keine Lust genau zu beschreiben, was er sieht und was das sein könnte, oder sich einfach gut vorzubereiten (wahrscheinlich weil der Job schlecht bezahlt ist), sondern versteht Kritik als Platform seine Meinung, seine Gefühle und sein Theaterverständnis mit voller Kraft kundzutun.
Wiener Festwochen, Joy: Aufregend
Aufregend aufregend! Was für wunderschöne Menschen, was für tolle Fantasien und Geschichten.
Joy 2022, Wien: Kritiken
@2, @3, @4: Na dann her mit der besseren Kritik. Wir wollen es wissen.
Joy 2022, Wien: Totalausfall
Ich finde, die Kritik beschreibt sehr schön, was man sieht. Nicht viel. Relativ harmloses Herumgehüpfe, Farbspielereien — wieder mal — und einen dramaturgischen, inhaltlichen und ästhetischen Totalausfall. Nicht mal unsympathisch, aber warum sowas über eine noch dazu grosse Bühne geht, bleibt mir ein Rätsel. In einer Stadt, in der etwa Mette Ingvartsens Red Pieces zu sehen waren, auch zum Thema Sexualität, ist das etwas peinlich…
Joy 2022: Sexualität 2022
Verehrte muenchner-kammerspiele.de,
sehr geehrter Deutscher Bühnenvereinspräsident Brosda,
werte Theaterliebhaber,

da haben wir nun den Salat. Sexualität-unser aller schönstes Hobby-wird in 2022 auf den Bühnen uns erläutert. Was tun?

Bitte nehmen Sie die von Harald Schmidt in der Berliner Zeitung vom 12. Juni 2022 gestellte Diagnose zum "Zeitgenössischen Deutschen Theater" einmal wahr:

https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/harald-schmidt-wenn-ich-in-berlin-zu-tun-habe-uebernachte-ich-in-hannover-li.233687
Joy, Wien: Gewalt der Norm
Norm und normatives Denken wollen mit Gewalt den Bereich des Menschlichen, der Kunst und des Anerkennbaren festlegen oder die uneingeschränkte Macht darüber besitzen, diese ständig neu zu bewerten, neu zu definieren. Sie sind Grenzregime und fühlen sich meist sicher. Außer: Sie begegnen Abweichungen
Joy, Wien: Andere Bilder und Perspektiven
Ich fürchte, es gibt Theaterstücke, die nichts für Menschen sind, die sich wenig für andere menschliche Perspektiven und andere theatrale Bilder interessieren (siehe Ton und Wortwahl im Text und in manchen Kommentaren).
Und das müssen sie auch nicht immer.

Dieses Stück ist wahrscheinlich also nichts für Menschen, die
(manchmal berechtigterweise) von
- "Goethe Schiller Büchner"
- "Theater ist: Anfang Mitte Ende"
- "In dieser (meiner) Stadt oder in den 80ern gab es schon mal tollere Performances"
- "Gib mir Deine Konflikte" oder
- "Lass mich in Ruhe mit Sexualität. Ich weiß, wie das geht. Und das hat sowieso auf der Bühne nichts zu suchen"
ausgehen und träumen.
Und das ist auch manchmal echt gut so.

Am Sonntag gab es den leidenschaftlichsten Applaus, den ich in den letzten zwei Jahren gesehen habe. Aber das ist wohl nur ein Teil der Wahrheit.
Joy, Wien: Vorsintflutlich
Ja, das ist nur ein Teil der Wahrheit. Ich war im Volkstheater, weil ich — zusätzlich zum Sprechtheater — gerade neue Formen im Tanz, der Performance suche, und deshalb auch immer wieder Tanzquartier, ImPulsTanz besuche. Weil ich finde, gerade Performance ist geeignet, Fragen nach Sexualität und Körperlichkeit zu stellen. Darum auch der Hinweis auf Ingvartsen, die — nicht in den 80ern, sondern in den letzten Jahren — hier Grosses auf den Bühnen — auch im Volkstheater — geleistet hat. Die einfache Antwort ist immer: Wer die Aufführung nicht gelungen findet, ist zu altmodisch, zu konventionell, zu prüde. Das Gegenteil ist wahr. Die Aufführung war mir nicht einmal unsympathisch, aber sie war dramaturgisch vorsintflutlich und eintönig und über den choreografischen Aspekt will ich lieber schweigen. Sie war so brav, dass man sie nicht einmal ablehnen konnte. Sie war lieb, und es ist okay, wenn man für lieb in Tanz und Performance geht. Mir war das zu wenig.
Joy 2022, Wien: Die Worte des Wieners
@Wiener
Die Worte des Wieners:

"harmloses Herumgehüpfe"
"Totalausfall"
"grosse Bühne" (Rätsel)
"peinlich"
"vorsintflutlich"
"eintönig"
"brav"
"schweigen"
"lieb"

Ich wiederhole: Normatives (und abwertendes) Denken (und Schreiben) will mit Gewalt den Bereich des Menschlichen, der Kunst und des Anerkennbaren festlegen oder die uneingeschränkte Macht darüber besitzen, diese ständig neu zu bewerten, neu zu definieren.
Joy 2022, Wien: Die Worte des Wieners 2
Diese Denkform produziert damit gleichzeitig auch den Bereich des Verworfenen, Abfälligen und scheinbar Harmlosen mit.
Sie beschäftigt sich nicht gerne mit ihren eigenen Sehgewohnheiten und Beschreibungsgrenzen sowie ihrem eigenen Glossar. Im besten Falle verdrängt oder verteidigt sie sie.
Joy 2022, Wien: Theater zeigt, Publikum reagiert
Xenia, nein, man kann es natürlich versuchen, die Kunst als solche zu erhalten nämlich, sich aller Verantwortung aber zu erledigen. Nicht ein irgendwie geartetes normatives Denken und oder Schreiben legt hier etwas fest oder strebt nach einer „Uneingeschränkten Macht“. Es ist viel einfacher: eine Aufführung legt ihre Parameter fest und existiert mal - und dann trifft sie auf Publikum und reagiert. Und manchmal wird dieses Publikum halt für dumm gehalten, dann reagiert es besonders. Das ist einer Zuseher:innenkunst wie Theater nun mal eingeschrieben. Wer den - ja, wertenden, bewertenden - Blick nicht aushält, sollte sich nicht auf eine Bühne begeben. Das ist, wie bei Ihnen, viel Geschwurbel um einen einfachen Fakt: Theater zeigt, Publikum reagiert.
Joy 2022, Wien / München: Sehr schöne Tableaus
Komme gerade von der Münchner Premiere - 9.12.2022. Außer was in der Anfangsszene ist, sind alle anderen Tableaus bezaubernd. Und so eine schöne Stimmung im Saal. Danke!!
(Ich verstehe diesen seltsamen Kritiker null)
Joy 2022, Wien / München: Neue Fassung
@Paolo: In München soll der Abend anders sein, munkelt man ;)
Joy 2022, München: Kulturhistorische Fundgrube
Für kulturhistorische Seminararbeiten ist dieser lose aneinandergereihte Bilderbogen von Performances und Choreographien, die in früheren Jahrzehnten für Skandale sorgten, eine Fundgrube. Aber im Jahr 2022, als diese Koproduktion von Wiener Festwochen und Münchner Kammerspielen Premiere hatte, ist keine dieser Szenen mehr ein Aufreger. Szene für Szene plätschert der 80 Minuten kurze Abend vor sich hin.

Interessant wird es, als sich zum Schluss alle Akteur*innen an der Rampe kurz vorstellen und ihre Sicht auf die Themen Sexualität und Lust skizzieren. Doch es bleibt bei kurzen Statements. Statt einer weiteren Vertiefung folgt schon der Schlussapplaus. Dieser „Joy 2022“-Abend bricht nach dem Vorspiel ab.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/05/joy-2022-performance-munchner-kammerspiele-kritik/
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