Bitte gehen Sie von mir runter!

14. Juni 2022. Schauspieler:innen suchen die Vereinigung mit dem Publikum, reißen die vierte Wand ein und starten eine Charmeoffensive im Parkett. Dabei wären sie besser auf der Bühne geblieben. Ein Plädoyer für mehr Distanz.

Von Michael Wolf

14. Juni 2022. Ein Merkmal, an dem sich die Veränderung theatraler Ästhetiken beobachten lässt, ist das Näheverhältnis zum Publikum. Eines der bekanntesten Mittel für dessen Regulierung ist das Geschlossenhalten oder Öffnen der vierten Wand. Ist diese erste gefallen, können einzelne Zuschauer direkt angespielt werden, können die Performer das Parkett entern oder das Publikum sogar auf die Bühne bitten.

Vor einigen Jahren war viel vom installativen Theater die Rede. Die Aufregung rührte wohl gerade daher, dass die so bezeichneten Arbeiten die vierte Wand unerwartet streng geschlossen hielten. Es war eine Kunst, die Abstand hielt, die Vorgänge zu sehen, aber sich selbst nicht hingab, die den Kontakt zum Publikum mied und gerade durch diese Distanzierung ihren Reiz ausübte. Inzwischen ist von diesem Theater nicht mehr viel übrig, wie ohnehin starke ästhetische Setzungen im Schwinden begriffen sind.

Die Bühne im Zuschauerraum

Natürlich gibt es noch Abende, die Rätsel sein wollen, die mit Überforderung arbeiten und die Konfrontation mit dem Fremden provozieren. Doch zumindest an jenen Bühnen, die entscheidende Akzente für die ganze Theaterlandschaft setzen, ist ein genau gegenläufiger Trend zu beobachten. Sie nähern sich immer weiter dem Publikum an: Authentizität, Zugänglichkeit und Kommunikation lauten die neuen Stichworte. Kein Spiel im herkömmlichen Sinne des Wortes ist mehr zu erwarten, sondern ein unmittelbares Performen, das oftmals auch keine literarische Vorlage mehr benötigt. Die Darsteller finden ihr Material in sich selbst, erzählen aus ihren eigenen Leben, als wäre jeder Abstand zu sich selbst bereits zu viel.

Äußerst konsequent wird dieses Programm zum Beispiel am Maxim Gorki Theater in der Intendanz von Shermin Langhoff verfolgt. Hier entwickelte man sehr erfolgreich einen ganz offenen Vortragsstil, eine Art neues Volkstheater, das in erster Linie den Graben zwischen Bühne und Publikum zu überbrücken sucht. Auch partizipative Formate sind längst an den Stadttheatern angekommen. Dass ausgerechnet ein so konventionell schreibender Autor wie Ferdinand von Schirach das Mitbestimmungstheater zu ganz neuer Blüte treiben konnte, deutet darauf ihn, wie weit die Bühne mittlerweile in den Zuschauerraum gerückt ist.

Flucht nach vorn

Es geht vielerorts nicht mehr darum, die geeignete Distanz für eine spezifische Ästhetik zu finden. Stattdessen avanciert die größtmögliche Nähe selbst zur künstlerischen Agenda. Eine Erklärung für diese Entwicklung könnte darin liegen, dass Theater auf keinen Fall elitär wirken will. Ein modernes Haus möchte sein Publikum einladen, es legt oft mehr Wert auf seine soziale oder politische, denn auf seine ästhetische Funktion. Doch darf man dem Publikum wirklich so wenig zumuten? Gerade im Entzug der Darstellung liegt doch ein Reiz des Zuschauens. Erst wenn etwas nicht gleich erfassbar ist, gewinnt es doch seine Attraktivität.

Ein weiterer Grund dürfte darin bestehen, dass sich das Theater stets von den technischen Medien verfolgt sieht – von Kino, Fernsehen, inzwischen von Netflix – und sein Heil in der Feier des Hier und Jetzt sucht, im Wuchern mit der Gleichzeitigkeit von Kunstproduktion und -rezeption. Doch diese Flucht nach vorn führt eben auch dazu, dass Schauspiel oft gar nicht mehr von anderen Veranstaltungen zu unterscheiden ist, die auf Bühnen stattfinden – Kabarett, Show, Vorträge, Diskussionen, Workshops – und sich sogar alltäglichen Situationen aus dem Arbeits- und Privatleben annähert.

Das andere Erlebnis

So geht das Theater als öffentlicher Raum verloren, an dem man als Zuschauer – was für ein vornehmes Wort in seiner ganz auf Wahrnehmung und Kontemplation ausgerichteten Bedeutung! – etwas ganz anderes erfahren kann denn als Arbeitnehmer, Kunde, Patient, Freund oder Partner jenseits des Gebäudes. So verschwindet ein Ort, an dem man sich – emotional und intellektuell – auf unbekannte Weise entdecken darf. Denn wie soll man sich selbst noch erkennen, wenn einem immer schon ein Performer auf dem Schoß sitzt?

Ein anderes Theater, ein Theater des Anderen – ein solches, das den Zuschauer nicht einlädt und umarmt, sondern ihn stattdessen ernst nimmt – erfordert nicht zwangsläufig eine große Distanz. Nähe, auch extreme Nähe ist natürlich möglich, steht hier allerdings in Diensten eines künstlerischen Programms. Sie sollte kein Selbstzweck sein. Denn wer den Graben zwischen Bühne und Publikum einebnet, riskiert Verflachung. 

 

Kolumne: Als ob!

Michael Wolf

Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Literarisches Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an. 

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Verflachung
Solange diese Verflachung nur riskiert wird: na schön - Aber wo sie als spezifische Risikobereitschaft hofiert und finanziell gefördert wird - ist allgemeine Verflachung des Theaters eben gewollt. Und wo das Theater das nicht selbst bemerkt, hat es auch verdient, dass es sein Publikum verliert.

Herr Wolf spricht mir (wieder einmal) aus dem verbitterten Theater-Herzen. Und das über eine sonst gewaltige Distanz hinweg!
Kolumne Wolf: Das Theater abschaffen
Ich glaube, dass Theater Geschichten erzählen muss. Durch Figuren, Szenen, Dialoge. Egal wie. Das war, ist, wird immer die Aufgabe des Theaters sein. Und ich glaube, diese Grundüberzeugung ist am deutschen Theater teilweise verloren gegangen. Da werden gerne Themen verhandelt oder Problemstellungen oder Politik - aber das alles macht noch kein Theater aus. Theater, das keine Geschichten erzählt, ist kein Theater mehr. Und diese Orientierungslosigkeit und Unsicherheit drückt sich auch in der Bühnenästhetik aus. Inklusive jenes seltsamen Selbsthasses, der manchmal ein Theater generiert, das partout keines sein will und sich selbst gering schätzt, manchmal sogar verachtet. Und genau das ist der Punkt, von dem an das Publikum endgültig wegbleibt. Wenn Theater dazu übergeht, Performances oder Symposien oder Klimademos zu imitieren, gibt es sich selbst und sein Publikum auf. Und auch sein ureigenstes Handwerk. Schauspieler werden dann nämlich nicht mehr gebraucht, und auch teure Theaterhäuser mit entsprechender Technik sind überflüssig. Zum Vergleich: Der moderne Tanz hat - zum Glück - nicht und niemals das klassische Ballett verdrängt. Die klassischen Ballettkompagnien blühen und gedeihen in Paris, Mailand, Wien, London ..., sie bringen die klassischen Stoffe wie Schwanensee, Dornröschen bis hin zu Balanchine, Nurejew, Neumeier usw. In Deutschland habe ich manchmal den Eindruck, dass man ohne Not mit allen Mitteln das klassische Theater abschaffen will - warum diese tabula rasa? Jedenfalls ist daran zu denken, dass man sich damit auch des Publikums entledigt, das dieses Theater sehen will.
Kolumne Wolf: Zu allgemein
Ok. Ein paar Dinge haben Substanz. Aber: Es wäre gut, konkrete Beispiele zu geben für diese teilweise umfassenden Feststellungen und steile Verallgemeinerungen.

Warum geht so der öffentliche Raum verloren? Man könnte auch das Gegenteil behaupten.

Wann genau ist Einladung das Gegenteil vom Ernstnehmen?

Wann genau ist Nähe Selbstzweck?

Warum ist sie das nicht, wenn sie in Diensten des künstlerischen Programms ist?

Und ist die Metapher der Verflachung im letzten Satz sehr gelungen, abgedroschen oder belastet (wie kritisch wird eigentlich bei NK lektoriert? Frage ich mich)

Mir scheint, hier spricht nicht die Analyse, sondern ein Gefühl, das sich nicht erklären kann oder möchte.
Kolumne Wolf: Von Kunsthandwerk und Machtstreben
#3: Selbst wenn in der/durch die Kolumne ein Gefühl spricht, das sich nicht erklären kann oder möchte: Das ist eine Kolumne und da darf das Gefühl das! Weil es eben keine Analyse mit wissenschaftlichem Anspruch ist und auch kein Essay, also ein eher wissenschaftlich grundierter Versuch einer komplexen Analyse.

So verallgemeinernd fand ich die Verallgemeinerungen von Herrn Wolf gar nicht!

Er hat ja nicht gesagt, dass öffentlicher Raum verloren geht durch Dauer-Distanzlosigkeit, sondern THEATER als öffentlicher Raum durch eine sehr spezifische Distanzlosigkeit. - Und selbstverständlich kann man auch das Gegenteil behaupten! Tun Sie es doch einfach und begründen Sie es ganz Ihrem eigenen Gefühl folgend! Nicht auszudenken, was da passieren könnte: am Ende bekämen wir eine echte Diskussion!

Eine Einladung ist das Gegenteil von Ernstnehmen, wenn man jemanden einlädt, um ihm die eigenen Sichtweisen manipulativ aufdrücken zu können und auch noch der Ansicht ist, der Eingeladene würde zu doof undoder unsensibel sein, um das zu fühlen, oder wahrzunehmen oder in Echtzeit auch zu reflektieren.

Nähe ist Selbstzweck, wenn eine überraschend aufgezwungene Nähe ausschließlich dem eigenen Lustgewinn dient. Dasselbe gilt auch für aufgezwungene Distanz. Beides zeugt aber von einem Mangel an Empathie und Menschenfreundlichkeit sowie an Fähigkeit zur Wertschätzung fremder Individuen, mithin von Macht-Streben und Überlegenheitsphantasien.

Wenn ein künstlerisches Programm eines Programmes bedarf, spricht vieles dafür, dass es sich um Kunsthandwerk statt Kunst handelt. Wenn ein künstlerisches Programm - das möglicherweise auch Kunst sein könnte - eine bewusst hergestellte Distanzlosigkeit bzw. überrumpelnde Nähe in Dienst nimmt, ist es kein künstlerisches Programm, sondern ein Erziehungsprogramm, das sich hinter einem kunsthandwerklichen Gestus versteckt.

Ich persönlich fand ja das Wort "Verflachung" als Fazit sehr treffend für einen als belastend gefühlten/erkannten Zustand der abgedroschenen Wiederholung von kunsthandwerklichem Nähe-Theater gegenüber dem Publikum. -
Kolumne Wolf: Dilettantismus
@Roland Haubner: Lieber Herr Haubner, interessant, wie Sie den Text gelesen und verstanden haben und welche Fragen sich für Sie daraus ergeben. Ich zum Beispiel finde den Text absolut selbsterklärend und in ihm finde ich bereits die Antworten auf Ihre Fragen. Kurz gesagt: Meinem Verständnis nach will Wolf, dass Theater als Theater wirkt und auch Theater sein will, und dass es folglich ein Theaterpublikum gibt, das als solches existieren darf und nicht zum Beispiel Diskussionsteilnehmer, Mitspieler oder Demo-Teilnehmer sein soll. Ich würde analog dazu sagen: Im Museum, in der Galerie, in der Ausstellung ist ebenso wie im Konzertsaal, der Tanzbühne oder dem Fußballstadion vom Publikum primär auch eine Rezeptionshaltung als Besucher, Betrachter, Genießer, Stauner, Bewunderer usw. gefragt und gewünscht, nicht aber als Mitspieler, Mitmaler, Mitmusizierer, Mittänzer. Dann landet man über kurz oder lang beim Dilettantismus.
Kolumne Wolf: Vorsicht, Mitmachtheater!
Ich hatte noch nie Angst, angespielt zu werden. Ich habe mir auch schon in einem Stück mir von einem geflüchteten jungen Mann, der sich unterwegs das Haareschneiden angeeignet hat, die Haare schneiden zu lassen. Ich habe auch während des Lockdowns bei Zoom-Theaterstücken mitgemacht, z.b. bei Nesterval. Ich war bei Signa dabei und habe so getan, als würde ich einem Obdachlosenasyl übernachten und die Geschichten mitspielen ...
Aber: Ganz viele Menschen in meinem Umfeld möchten das aber nicht. Weder wollen sie im Theater angespielt, im Zaubertheater auf die Bühne geholt oder im Internet zum Mitmachen gezwungen werden ... Theater setzt für sie zwingend die vierte Wand voraus, ohne möchten sie eher nicht mehr hingehen ... Daher kommt in den letzten Monaten vielleicht auch wieder die Diskussion um die sog. Well-Made-Plays - die für mich die Sehnsucht ausdrücken der Zuschauer:innen nach einem gut erzählten Stück von guten Schauspieler:innen ...

Den Verweis auf Netflix & Co. verstehe ich vielleicht falsch. Aber im TV wird die vierte Wand nur äusserst selten durchbrochen, etwa in House of Cards ... Und da ist es immer ein besonderes Moment, wo wir Zuschauer zur Komplizenschaft aufgefordert werden - für die wir aber nichts tun müssen. Nur geniessen.

Vielleicht sollten die Dramaturgen entsprechende Klassifierungen und/oder Triggerwarnungen entwickeln. Statt Hinweisen auf "Stroboskopische Effekte", "Pistolenschüsse", "Nacktheit" könnte es dann heißen: "Mitmachtheater". Und dann könnten die, die nicht mitmachen wollen, einfach zu hause bleiben oder sich in die mitmachfreien Reihen setzen.
Kolumne Wolf: Vierte Wand
#6: Guter Vorschlag von Ihnen, wie ich finde! - Zumal das eine Theaterdiskussion durch PRAXIS auslösen könnte durch eine dann notwendige Standortbestimmung des Publiums im Theater.
Es würden sofort viele Fragen generiert: Ist das ein nur skeptisches, ein etwas sozialphobisches oder ein rein voyeristisches Publikum, das sich in die Mitmach-ungefährdeten Reihen setzt?
Ist das ein echtes oder nur ein für dieses, vor zuviel Nähe gesichert sitzendes Publikum gefaktes Mitmach-Theater?
Ist das nicht gekommene Publikum bewusst zu Hause geblieben? Oder, weil es gar nicht weiß, das es unterschiedliche Theaterformen gibt?
Und wenn bewusst, warum genau mag es kein Mitmach-Theater?
Und welche Art Mitmachtheater genau nicht?
Oder mag es nur kein gefaktes Mitmachtheater? Wenn ja, warum genau nicht???

Im Film wird die vierte Wand nie durchbrochen, auch wenn sich z.B. in "House Of Cards" der Film den Anschein gibt, dass er das täte. Er bedient sich also filmisch originell eines theatralen Mittels. Er bedient sich dessen aber immer als Film und durchbricht also die vierte Wand nur gefakt... Die Filmemacher spüren zu keiner Zeit die Reaktion des Publikums auf den Mitteleinsatz, sondern berechnen vorher die Wirkung, die der Mitteleinsatz haben könnte bei welchen Publikumsschichten. Mir hatte aber der originelle Einsatz dieses theatralen Mittels im Film trotzdem sehr gefallen, weil es m.E. das Epische des filmisch Erzählten stärkte.
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