"Ich räche, indem ich spreche"

16. Juni 2022. Der preisgekrönte Roman "Torto Arado" des brasilianischen Autors Itamar Vieira Júnior wandelt auf den Verbindungslinien von Kolonialismus und Rassismus. Regisseurin Christiane Jatahy, frisch mit dem Goldenen Löwen der Biennale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, nutzt bei dieser Inszenierung abermals ihr großes Händchen für das genreübergreifende Erzählen.

Von Martin Thomas Pesl

"Depois de silêncio (Nach der Stille)" von Christiane Jatahy bei den Wiener Festwochen

16. Juni 2022. "Auf der Erde werden immer die Stärksten überleben." Mit diesem Satz, Hoffnung und Resignation zugleich, endet der letzte der kraftvollen Verzweiflungsausbrüche an diesem Abend. Die Schauspielerin Gal Pereira spricht den Text, "beritten" vom Geist ihrer Ahnin. Oder der Ahnin ihrer Figur, das ist schwer zu sagen, denn die Romanvorlage – Itamar Vieira Júniors "Torto Arado" – zu Christiane Jatahys Inszenierung "Depois de silêncio" erscheint auf Deutsch erst im August.

Dass in Jatahys Mix auch noch ein semidokumentarischer Film aus dem Jahr 1984 und selbst gedrehtes Material aus Chapada Dimantina in Nordostbrasilien hineinspielen, alles obendrein auf Portugiesisch mit Übertiteln, beseitigt alle Klarheiten restlos. Dennoch vermag der Abend mitzureißen. Wie, das ist wahrscheinlich Teil des Geheimnisses, das Christiane Jatahy den Goldenen Löwen der Biennale 2022 für ihr Lebenswerk einbringt. 

Hinab ins unheimliche Tal

Ihre Arbeiten, gerne zu Trilogien gefasst, zeugen von der gewitzten Fähigkeit der Regisseurin, Klassiker mit anderen Erzählungen einerseits, Theater mit Film andererseits zu verbinden. Auch für ihre Trilogie des Horrors über Gewalt gegen verschiedene Gruppen in Brasilien, die nicht erst unter dem aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro herrscht, begibt sich Jatahy ins unheimliche Tal lebensgroßer Videoprojektionen. Auf die Schweizer Produktionen Zwischen Hund und Wolf über Mechanismen des Faschismus und Before the Sky Falls über toxische Männlichkeit folgt nun als Weltpremiere im Rahmen der Wiener Festwochen der Abschluss "Nach der Stille", in dem es um die Verstrickungen von strukturellem Rassismus und Kapitalismus geht.

Depoisdosilencio 1 ChristopheRaynaudDeLage"Menschen wurden und werden getötet, weil sie ihren Grund verteidigen" © Christophe Raynaud De Lage

Die Bühne im Wiener Theater Odeon sieht freilich denkbar un-uncanny aus. Vor einem zunächst dunklen Leinwand-Triptychon stehen eine Bank und zwei Tische. Der linke ist mit Material für den Musiker und Geräuschemacher Aduni Guedes bestückt: Glocken, ein Tongefäß, eine Art hartborstiger Pinsel, eine Trommel und mehrere Mikrofone. Am rechten Tisch sitzen die Schauspielerinnen Juliana França und Lian Gaia und sprechen zum Saal. Soll das ein videogestützter Vortrag über Landbesitzrechte werden? Ohne Zweifel ein wichtiges Thema: Besonders Indigene, Schwarze kämpfen in Brasilien oft vergeblich um ihr seit Generationen ersessenes Recht. "Menschen wurden und werden getötet, weil sie ihren Grund verteidigen", heißt es. 

Die Mörder anklagen

Dann aber wird die Sache persönlich – und emotional. França verkörpert nämlich die Witwe der Romanfigur Severo dos Santos, Gaia die Urenkelin des historischen Bauernvertreters João Pedro Teixeira, von dem der Kultfilm Cabra Marcado para Morrer handelt. In einigen indigenen Religionen wählen Götter ihre Nachfahren aus, um durch sie auf die Erde zurückzukehren (nebenbei eine hübsche Rechtfertigung für den anmaßenden Akt des Schauspielens!). Sie sind hier, um die Mörder anzuklagen, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden. "Ich räche, indem ich spreche", sagt ein Übertitel, und was sich reimt, sei es noch so zufällig, ist gut.

"Das ist meine Oma!"

Atemberaubende Landschaftsaufnahmen aus der Luft leiten über zu Interviewszenen mit "echten Menschen" aus Chapada Dimantina ("Das ist meine Oma!", ruft eine Schauspielerin), in denen aber plötzlich auch die Performenden des Abends auftauchen. Juliana França erinnert im Film an den verstorbenen Severo und seinen gerechten Kampf, setzt die Rede auf der Bühne fort und wird dabei weiter von den authentischen Dorfbewohner:innen auf der Leinwand angestarrt – bis hinter ihnen ein alter weißer Mann mit Bart auf einem Pferd einherreitet. Er spiele, heißt es später, den bösen Großgrundbesitzer.

Depoisdosilencio 1 ChristopheRaynaudDeLageInterviewszenen mit "echten Menschen" © Christophe Raynaud De Lage

So surreal einerseits, sperrig andererseits die Kinobühnenschau wirkt, mit etwas Konzentration ließe sich durchaus sortieren, was davon Romanhandlung, was Historie und was einfach Theater ist. Nur spielt das in Wahrheit keine Rolle: Hauptsache, das Verschweigen von Ungerechtigkeiten endet. Besondere Symbolkraft strahlt die blumig erzählte und horrorfilmisch bebilderte Geschichte vom unheilvollen Messer einer Großmutter aus, das deren Enkelin die Zunge kostet. Die Originalsounds des Filmmaterials vermischen sich mit den von Guedes live erzeugten Klängen und hochmelodischem brasilianischem Portugiesisch zu einem kunstvollen Rausch. Man will aufspringen und gegen das Unrecht zu Felde tanzen. Aber auch das ist wohl nur ein Steinchen in Christiane Jatahys raffiniert semidokumentarischem Gesamtkunstwerk.

 

Depois de silêncio
von Christiane Jatahy
nach dem Roman "Torto Arado" (dt.: "Die Stimme meiner Schwester") von Itamar Vieira Júnior
Regie: Christiane Jatahy, Künstlerische Mitarbeit, Bühne, Licht: Thomas Walgrave, Kostüme: Preta Marques, Musik: Vitor Araujo, Aduni Guedes, Fotografie, Kamera: Pedra Faerstein, Sounddesign: Pedro Vituri, Schnitt (Film): Mari Beck, Paulo Camacho, Sound (Film) João Zula.
Mit: Gal Pereira, Juliana França, Lian Gaia, Aduni Guedes und im Film Bewohner:innen der Orte Remanso und Iúna (Chapada Dimantina/Bahia/Brasilien)
Uraufführung am 15. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Zum Agitprop, der leider nur Beklemmung hinterlasse, gerate Jatahys Stück über die Kraft der Solidarität, schreibt Norbert Mayer in Die Presse (17.6.2022). Schade sei das, denn in der ersten Stunde näherten sich Jatahy und ihr Ensemble dem Thema der zerstörerischen Kräfte in Brasilien "durchaus sensibel, anschaulich, direkt". "Im Überschwang des Aktivismus aber zerfasert das Drama, verliert sich im Dickicht der Emotionen.“ Die Protagonistinnen, Juliana França, Gal Pereira und Lian Gaia, hätten alle drei eine starke Bühnenpräsenz, so Mayer. "Man könnte aber auch sagen: So intensiv agieren diese Leidensfrauen ohne Unterlass, dass der Drang der Inszenierung, alle müssten alles ausdrücken, allzu früh zur schweren Last wird."

Im Vergleich mit dem Roman erweitere Jatahy ihren Abend noch um einige Ebenen – und überfrachte ihn damit, so Petra Paterno in der Wiener Zeitung (16.6.2022). Sie verwende Ausschnitte aus Eduardo Coutinhos Dokumentarfilm "Cabra Marcado Para Morrer" von 1983, in dem es um den Mord an einem Anführer der Landlosen-Bewegung gehe, und sie habe selbst einen Film in der Region Chapada Dimantina gedreht, in der auch Vieiras Roman spiele. "Die gefilmten Sequenzen schlittern etwas in Richtung Ethno-Voyeurismus." Etwas mehr szenische Zurückhaltung hätte dem Thema besser getan, so Paterno.

Jatahy überrasche mit "Nichtformuliertem", schreiben Margarete Affenzeller und Ljubiša Tošic in ihrer Analyse im Standard (18.6.2022). "Das Nichtformulierte – d. h. das Angedeutete, die sich selbst korrumpierende Erzählweise, die in Schwebe gehaltene Form, der zwischen Gefühlsfake und sachlicher Doku changierende Tonfall – war zäh zu rezipieren und endete als aktivistischer Aufschrei gegen Rassismus." Das ginge nicht ohne Betroffenheitsklatschen. 

Kommentare  
Depois de silencio, Performing Exiles, Berlin
Sehr karg ist die Bühne ausgestattet, vier Spieler*innen nehmen an zwei Tischen Platz und beginnen mit Dokumentartheater der trockensten Sorte. Ausführlich geht es um Sklaverei in Brasilien, die Unterdrückung von Minderheiten und die gewaltige Schere zwischen Arm und Reich. Während der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro, der vor wenigen Monaten endlich abgewählt wurde, wie eine Spielerin seufzt, haben sich diese Probleme weiter verschärft.

In eingespielten Dokumentaraufnahmen aus der Region Bahia und in den Statements auf der Bühne geht es um Widerstand und Wut der Aktivist*innen, um brutale Übergriffe und Morde. Stilprinzip dieses semidokumentarischen Abends ist, dass reale Vorfälle mit der Adaption eines Romans „Torto Arado“ (dt.: „Die Stimme meiner Schwester“) von Itamar Vieira Júnior vermischt werden. Die minimalistische Spielhandlung reagiert auf Video-Einblendungen, die Erzähl- und Handlungsstränge verwirren sich miteinander. Motive des magischen Realismus und die herausgeschnittene Zunge der Schwester aus dem Roman werden dominanter.

Welche Figuren real und welche fiktiv sind, ist kaum noch auszumachen. Jahathy geht es vor allem darum, ihre These von der Kontinuität der Gewalt zu unterstreichen. So unstrittig wie dieser Befund ist, so diskussionswürdig sind jedoch ihre Mittel. Ich muss mich den negativen Bewertungen aus der Nachtkritik-Kritikenrundschau nach der Premiere anschließen: das spröde Dokumentartheater, das so lange dominiert, wirkt zäh, wie Margarete Affenzeller im „Standard“ fand, die Trance, in die sich eine Performerin in einem spirituellen Akt hineintanzt, wirkt als Kontrast um so aufgesetzter. Dass der Abend hier unangenehm Richtung „Ethno-Voyeurismus“ schlittert, wie Petra Paterno in der Wiener Zeitung kritisierte, sehe ich auch so.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/06/17/performing-exiles-berliner-festspiele-kritik/
Kommentar schreiben