Bis zum Umfallen

17. Juni 2022. Vor drei Jahren hat Mónica Calle bei den Wiener Festwochen zwölf nackte Frauen zu Ravels "Bolero" gezeigt, nun bringt die portugiesische Regisseurin fünfzehn nackte Männer zu den Klängen von Strawinskys "Le sacre du printemps" auf die Bühne. Und lässt sie bis zur Erschöpfung schreiten, springen, rennen.

Von Andrea Heinz

"Só Eu Tenho a Chave Desta Parada Selvagem" von Mónica Calle© Nurith Wagner-Strauss

17. Juni 2022. Am liebsten würde man sich nochmal den Vorgänger "Ensaio para uma Cartografia" von 2017 anschauen, den Mónica Calle 2019 bei den Wiener Festwochen präsentierte. 12 nackte Frauen versuchten sich, permanent gestört von einem Maestro vom Band, an Ravels "Bolero". In "Só Eu Tenho a Chave Desta Parada Selvagem", das bei den heurigen Wiener Festwochen uraufgeführt wurde, sind es nun 15 portugiesische und Wiener Tänzer, Schauspieler, Musiker und Sänger, die sich teilweise aus dem Publikum Jugendstiltheater auf den Steinhofgründen kommend, auf der Bühne langsam ausziehen.

Kontrast zur Fiktion von starker, unverwundbarer Männlichkeit 

Wieder hat Calle, die künstlerische Leiterin, Darstellerin und Regisseurin des Theaters Casa Conveniente in Lissabon, einen Klassiker als Ausgangspunkt gewählt: Igor Strawinskys "Le sacre du printemps", beziehungsweise eine Videoaufzeichnung einer Probe mit Leonard Bernstein. Der Titel ist eine Zeile aus einem Gedicht des französischen Dichters Arthur Rimbaud, zu deutsch: "Ich allein habe den Schlüssel zu dieser wilden Parade". So viril wird es bleiben, vom feministischen Drive, den "Ensaio para…" antrieb, ist hier nicht mehr viel übrig.

Zuerst steht noch die Verletzlichkeit im Zentrum: Weit vorne auf der leeren Bühne, die einzig durch Licht und Schatten belebt wird (Licht: Mónica Calle, Renato Marinho), geben die Männer ihre nackten, verwundbaren Körper preis, die nicht zuletzt deshalb angreifbar sind, weil es "normale" Körper sind – die damit in einem Kontrast zur Fiktion von starker, unverwundbarer Männlichkeit stehen. Hach, schon haben wir sie wieder, die Anklänge an Protagonisten der Tagespolitik, aber das lassen wir jetzt bleiben. Es ist jedenfalls ein rührender, berührender Moment.

So eu tenho 1 Nurith Wagner Strauss uInnig verbundene Körperlichkeit © Nurith Wagner-Strauss

Und es geht durchaus stark weiter, wobei die Verletzlichkeit dem Alphatier-Mode weicht: In einer Linie aufgereiht, bewegen die Männer sich stampfend und rhythmisch auf die Brust schlagend nach vorne. Als sie vorne ankommen, haben ihre Oberkörper rote Flecken.

Assoziationen von Gewalt und Zuneigung

Alles echt, nichts angetäuscht. Das Bewegungsrepertoire der Männer, mit Reminiszenzen an Vaslav Nijinsky und Pina Bausch, bleibt auch den restlichen Abend ein basales: Schreiten, Springen, Rennen, Umarmen und Stoßen, Ziehen und Festhalten. So spielen sie allerlei Assoziationen von Gewalt und Zuneigung, Konkurrenz und Kameraderie durch, angeordnet auf den Koordinaten von Kollektiv und Individuum. Manchmal versucht einer der Männer der Masse zu entkommen, flüchtet sich an den vorderen Bühnenrand, blickt stolz und zugleich demütig ins Publikum – und wird von den Kameraden wieder eingefangen und zurück in eine heftige Gruppenumarmung geschleift.

Dieses Bewegungsmuster wird sich genauso wiederholen an diesem Abend wie das, was so etwas wie der Signature-Move ist: Die Männer springen, teilweise noch unterstützend gehoben von einem Partner, in die Höhe, um dann – teils vom Partner gestoßen – in einer Yoga-ähnlichen Pose auf alle Viere zu fallen (für Yoginis: vom Hund in die Kobra).

Bis zur völligen Erschöpfung

Über zwei Stunden geht das so, bis zur völligen Erschöpfung. Manchmal sind die heftig sich hebenden Brustkörbe die einzige Bewegung. Die Musik macht immer wieder Pause, manchmal ist das schwere Atmen auch das Einzige, was zu hören ist. Am Boden hinterlassen die Männer Fußspuren, von denen man nicht mehr ganz sicher sagen kann, ob es schon Blut ist.

So eu tenho 3 Nurith Wagner Strauss uNackte Männer am laufenden Band © Nurith Wagner-Strauss

Bei den heftigen Umarmungen und Zusammenstößen jedenfalls spritzt der Schweiß. Und wo bei "Ensaio para…" noch ein feiner Humor, leise Ironie herrschte, sind das Keuchen und Schnaufen, die ostentative Anstrengung, die schmerzverzerrten Gesichter hier fast schon unfreiwillig komisch, so aus der Zeit gefallen wird das alles – zumal von einer reinen Männergruppe durchexerziert. Die Körper zeigen zunehmend Abnutzungserscheinungen, manch einer kann nach dem Sprung nur noch humpelnd weiterlaufen. Bastian Schweinsteiger, einer von euch?

So stark die Ansätze sind, so sehr sie in manchen Momenten verfangen, über die (deutlich zu lange) Dauer des Abends werden sie stumpf, eindimensional und plump. Streckenweise hat man fast das Gefühl, Männern dabei zuzuschauen, wie sie sich im Fitnessstudio abmühen. Man wünscht sich ein wenig Ambivalenz, Unklarheit. Zu deutlich, eindeutig ist das alles. Zu ernst nimmt dieser Abend sich selbst.

 

Só Eu Tenho a Chave Desta Parada Selvagem
Regie: Mónica Calle, Licht: Mónica Calle, Renato Marinho, Sounddesign: João Sousa, Ana Nogueira.
Mit: Afonso Gaspar, Gonçalo Egito, Guilherme Barroso, Hugo Nicholson, José Maria Brion Sanches, José Miguel Vitorino, Luís Elgris, Miguel Ferrão Lopes, René Mussenga Vidal, Rui Dias Monteiro, Tiago Mansilha, Victor Gonçalves, Johann Ebert, Marco Otoya und Peter Tilajcik.
Uraufführung am 16. Juni 2022
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Es ist kein Zuckerschlecken. Sondern je nach Perspektive die Hölle, eine Katharsis oder mindestens ein Marathon. Mit ihrem Stück 'Só eu tenho a chave desta parada selvagem' beschert die portugiesische Regisseurin und Choreografin Mónica Calle (56) den Wiener Festwochen eine so harte wie geglückte Uraufführung im Jugendstiltheater", schreibt Helmut Ploebst im Standard (17.6.2022).

Es gehe bei dieser Performance "nicht um Raffinesse und Virtuosität, sondern ums schiere Durchhalten", schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (17.6.2022). Calle und ihre Truppe seien in dieser Konzentration "extrem konsequent". Die kollektive Erschöpfung am Ende sei "eine simple, aber treffende Metapher für
den Zustand unserer Zeit", so die Kritikerin.

Kommentare  
Wien, Mónica Calle: Eingeengter Blick
Ich habe den Abend komplett anders gesehen. Ja, Ironie hatte er keine. Aber dass er so eindeutig gewesen wäre, dafür muss man den eigenen Blick schon sehr einengen. Was wäre denn auch das Eindeutige, die Kritikerin benennt es kein einziges Mal. Ich hätte nicht sagen können, wo Gewalt endet, Zärtlichkeit beginnt, ob die kurzen Küsse der Tänzer Erotik sind, oder Kleist—Bisse. Ob die Tänzer sich schlagen, oder nicht doch aufeinander achten. Oder beides.
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