An der deutschen Gedenktafel

18. Juni 2022. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch: Mit "Geschwister" am Berliner Maxim Gorki Theater erzählt Ersan Mondtag von drei Generationen einer westdeutschen Familie mit Nazihintergrund. Und lässt böse Geister erwachen.

Von Iven Yorick Fenker

"Geschwister" von Ersan Mondtag am Maxim Gorki Theater Berlin © Birgit Hupfeld

18. Juni 2022. Plötzlich ist alles schwarz und weiß. Das Licht lässt es so scheinen. Die Bühne ist ein Guckkasten. Wir schauen auf den holzvertäfelten Salon einer Villa, von dem zwei Treppenläufe zu einer Balustrade führen, dahinter drei verschlossene Türen. Wir befinden uns in West-Berlin. Es ist Juni 1967, der letzte iranische Schah ist zu Besuch, wie im Radio zu verfolgen ist, das auf dem Kamin steht, in dem es knistert. Die Standuhr tickt, sonst ist die Villa leer. Bis auf die Gemälde, die Jagdtrophäen und die ledergebundenen Bücher, die links und rechts die Wände pflastern. Das ist die Kulisse einer Klasse, die Macht repräsentieren soll – und in die Gewalt eingeschrieben ist. Aber erst einmal ist diese Kulisse leer, bis die Geister kommen.

Einstürzende Erinnerungen

Mit "Geschwister" erzählt Ersan Mondtag am Maxim Gorki Theater die Geschichte dreier Generationen einer großbürgerlichen deutschen Familie mit Nazihintergrund. Der Opa war im Krieg, der Vater nicht und nicht die Mutter, die beide schweigen. Die Kinder, die Geschwister, schweigen auch, bis eine ihr Schweigen brechen und die Familie zum Einstürzen bringen wird.

Der Großvater ist tot. Ihm soll bei diesem Essen gedacht werden, für das die Haushälterin (Tina Keserovic) gerade das Silberbesteck auflegt. Die Mutter (Çiğdem Teke) überwacht sie dabei. Die Kleidung ist standesgemäß. Die Mutter trägt Kostüm und die Haushälterin Uniform. Sie sind weiß geschminkt, die Kleider weiß und schwarz, so dass es, zusammen mit der Beleuchtung, so wirkt, als würde dort ein alter Schwarzweißfilm auf der Bühne laufen.

Im Nazidyll

Der Patriarch, der Vater (Falilou Seck), tritt auf. Im Radio läuft eine Beethoven-Aufnahme von 1944. Der von den Nationalsozialisten hofierte Wilhelm Furtwängler dirigiert die "Eroica" und die Bühne färbt sich blutrot. Das ist der erste ästhetische Bruch, der erahnen lässt, was in diesem ausdrucksstarken Setting (es stammt dieses Mal nicht von Mondtag selbst, sondern von Bühnenbildner Simon Lesemann) noch geschehen wird.

Geschwister 2 Birgit HupfeldAm Wannsee sind die Geister los: das Ensemble im Bühnenbild von Simon Lesemann © Birgit Hupfeld

Dass der Vater keine drei Sätze sprechen kann, ohne in rassistische und sexistische Gewaltphantasien abzuschweifen, ist bemerkenswert, da er so wenig spricht. Eben das zeichnet den Abend aus, dass er mit so wenig, so viel erzählt. Das präzise Spiel des Ensembles bringt mit minimaler Aktion das Allerüblichste, Allerübelste der deutschen Geschichte auf die Bühne.

Über die Studierenden, die gerade auf den Berliner Straßen gegen den Schahbesuch protestieren, sagt Vater nur: "Ausmerzen", den Schah nennt er "den arischen Perser". Die Villa liegt übrigens am Wannsee. "An unserem schönen Wannsee", wie Vater und Mutter, deren Mund auch mit allen rassistischen Wassern gewaschen ist, zu sagen pflegen. Die normale deutsche Gewaltsprache ist kaum zu ertragen.

Eklat bei Tisch

Eva Maria (Yanina Cerón), die Vorzeigetochter, bringt geschwind den kleinen Bruder Friedrich. Friedrich, "der Fritz", stottert. Was seine Fascho-Eltern darüber denken, liegt auf der Hand; sie beginnt zu zittern.

Ein herrschaftlich verzierter Holzstuhl ist noch unbesetzt; die Suppe soll serviert werden. Da knallt die Eingangstür auf und Elisabeth (Lea Draeger), ganz in Leder, stürmt direkt die Treppe hoch. Jetzt soll die Suppe ausgelöffelt werden, die eingebrockt wurde.

Geschwister 3 Birgit HupfeldDie 68er fegen in die nazideutsche Tischgesellschaft weg, aber doch nicht komplett: Szene mit Maxim Loginovskih, Çiğdem Teke und Yanina Cerón © Birgit Hupfeld

Das Suppenessen wird zur Choreografie, alle klirren und schlürfen im Takt. Nur Elisabeth bricht ihn, klopft immer eine Viertel später, bis sie ganz ausbricht und vom Essenstisch aufsteht, um den Sender zu wechseln, es läuft eine Rede, sie ist von ihr. Sie spricht zwar nicht am Essenstisch, aber sie hat gesprochen und wurde aufgenommen. Sie dreht das Radio lauter. Die Familie erstarrt. Sie redet gegen die Springer-Hetze, die antikommunistische Paranoia, den nahtlosen Übergang der Nazifunktionäre in die Funktionsebenen der Bundesrepublik. Dann verschwindet sie auf ihr Zimmer. Der Vater wird sie dafür blutig schlagen.

Weiterleben im Vergangenheitskorsett

Es folgt ein Zeitsprung. Die Bühne ist wieder leer und nun in Sepia. Die älter gewordene Eva Maria (Ariane Andereggen) betritt das Haus. Vater ist gerade gestorben; Mutter hatte das Leid schon früher verscheiden lassen. Elisabeth ist auch tot. Nur Fritz (David Bennent), inzwischen ein Mann und sein Stottern los, lebt. Die Haushälterin Fatima (Sema Poyraz), Eva und Fritz nennen sie nun beim Namen, hat ihren letzten Arbeitstag.

Es geht, natürlich, um das Erbe, aber Fritz will nichts, nur den Schlüssel zum Familienarchiv. Er will die Erinnerungen, um vergessen zu können. Eva Maria will vergessen, um sich erinnern zu können. Sie hat den Schlüssel. Die Geschwister wollen weiterleben.

Wer weiterleben wird, beantwortet der Abend nicht. Er endet mit dem Radiobericht des ersten NSU-Mords, den Gräueln der Gegenwart, während auf der Bühne die Geister der Vergangenheit spuken.

 

Geschwister
von Ersan Mondtag
Regie & Film: Ersan Mondtag, Bühne: Simon Lesemann, Kostüm: Josa Marx, Lichtdesign: Ersan Mondtag, Musik: Nid & Sancy, Dramaturgie: Valerie Göhring, Kamera: Bahadir Hamdemir, Schnitt: Wilke Weermann.
Mit: Ariane Andereggen, David Bennent, Yanina Cerón, Lea Draeger, Tina Keserovic, Sema Poyraz, Falilou Seck, Çiğdem Teke, Kinderstatisten: Maxim Loginovskih, Lukas Amaru Runkewitz.
Uraufführung am 17. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde und 30 Minuten, Keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Farblos und steif bis in die Ohrläppchen" sitze das Eltenrpaar an der Tafel, es rieche im Gorki-Theater "süßlich und fettig nach Schweinebraten" und die Stimmung sei angespannt, bemerkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.6.2022). Mondtags installatives Stück beweise mit dem Aufgreifen des NSU-Skandals am Schluss, "wie tief das Tätererbe in den Strukturen dieser Gesellschaft sitzt". "Mustergültig bis zur Plakativität" sei die Handlung als Gleichnis gesetzt; der "farbkonzeptuelle Kunstgriff", den ersten Teil schwarz-weiß, den zweiten farbig zu spielen, sei "handwerklich meisterhaft ausgeführt". Doch lasse Mondtag die emotionalen familiären Bande außen vor, vergesse die Liebe, die die Nazimörder und ihre Nachkommen verbinde und durch die das dunkle Erbe erst zum identifikatorischen Fluch werde. "Ohne Identifikation aber bleibt einem der Abend fern und in seiner Ferne harmlos."

So wenig Begeisterung sei beim Schlussapplaus am Gorki bislang selten gewesen, berichtet Barbara Behrendt im rbb Inforadio (19.6.2022), es seien sogar einige Buhs für den erfolgsgewöhnten Regisseur erklungen. Mondtags Inszenierungen hätten "noch nie durch besondere geistige Höhenflüge bestochen", er sei "ein Theatermann der starken Bilder", so Behrendt. Auch diesmal sei die bleigraue Ästhetik "formstreng schön". Doch "einen derartig banalen Kurzschluss von NS-Zeit zu NSU hat man wohl noch nie gesehen“. Und die Geschichte der braven und der revoltierenden Tochter, wie sie sich in den 60ern bei der Familie von Gudrun Ensslin zugetragen habe, erzähle wiederum Margarethe von Trotha in ihrem Filmklassiker "Die bleierne Zeit" deutlich aufschlussreicher.

Von einem eindrücklich aufspielenden Elternpaar (Falilou Seck und Çiğdem Teke) und einer "bekannten Botschaft“ berichtet Cora Knoblauch bei rbb 24 (19.6.2022): "Familiäres und gesellschaftliches Schweigen lässt die Gespenster der Vergangenheit nicht verschwinden, im Gegenteil. Hier lässt die Inszenierung die Zuschauer irgendwie im Stich. Statt mit einem dramaturgischen Höhepunkt, einer Überraschung oder unerwarteten Finte, endet die Geschichte abrupt im September 2000", gibt die Kritikerin zu Protokoll: "In Ersan Mondtags Stück gibt es keine Versöhnung, keine Erlösung, die Geschwister finden nicht zusammen. Der:die Zuschauer:in bleibt mit der bitteren Erkenntnis allein: So wie es war, geht es weiter, eine Veränderung oder gar ein Aufbruch ist nicht in Sicht. Das ist für ein Theaterstück ernüchternd, für die Realität frustrierend."

Die Abendtisch-Gesellschaft würde jedem Familientherapeuten Freude machen, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (19.6.2022). Neben dem Patriarchen verkümmere dessen Gattin zur stillen Trinkerin, der kleine Sohn stottere verstört. Im Villen-Verlies werde mit den formellen Umgangsformen ein abgelebtes Bürgertum konserviert. In den Kostümen zeige sich die Gesinnung der Töchter: "Warum subtil, wenn es auch plakativ geht." Laudenbach fragt sich, "ob Mondtags effektsichere (um nicht zu sagen: effekt-getriebene) Kreuzung von Zombie-Genre und Theater-Nazi-Genre eher der Auseinandersetzung mit deutscher Gewaltgeschichte dient, oder ob er sie doch nur als Bedeutungsverstärker und Dekoration benutzt". Gegenüber den Opfern dieser Gewaltgeschichte  wäre letzteres, so sein Schluss, "einigermaßen obszön".

"Mondtag, der versiert Gegenwart und Vergangenheit ineinander blendet, zeigt schlüssig die Kontinuitäten der Verdrängung", so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (19.6.2022). Er misstraue der Erzählung, dass mit den 1968ern alles anders wurde und zeige die Linie, die vom Nationalsozialismus zum NSU-Komplex führe, zu Halle und Hanau, zu all der fortwirkenden, allzu oft achselzuckend hingenommenen rechten Gewalt.

Mit dem Brückenschlag zu den NSU-Morden erreiche der Abend "auf den letzten Metern doch noch große politische Aktualität", findet Michael Wolf im nd (20.6.2022). Sein Fazit: "Eine der bemerkenswertesten Berliner Produktionen dieser Saison."

Kommentare  
Geschwister, Berlin: Traditionell und langweilig
Leider eine Kritik, die sich durch die nur genaue Beschreibung darum drückt, dass das Stück formal und inhaltlich an Banalität nicht zu übertreffen ist. Sehr traditionell und langweilig.
Die Reduktionen führen leider nicht zu Spannung auf der Bühne. Mensch weiß alles vorher, auch was an Kleinigkeit passiert und Ich zumindest war nur gelangweilt und ärgerlich auf die langsam abgedroschene Mittel, wie z.B. auch der Kameraeinsatz.
Vom Gorki bin ich anderes gewöhnt und war sehr enttäuscht.
Ich mag Ersan Mondtag normalerweise sehr, hatte mich auf David Bennent gefreut, der aber wohl nur als Ziehpferd eingesetzt wurde. Sehr kurze Sequenz und er kann viel mehr.
Geschwister, Berlin: Erinnert an "Heldenplatz"
Klingt aber auch ein bisschen nach "Heldenplatz" in der Inszenierung von Claus Peymann... (Tisch, Suppe, Nazis, Generationen)
Geschwister, Berlin: Präzision der A-Liga
In dieser Villa, die Patina, Eleganz, aber auch viel Leblosigkeit ausstrahlt, pinselt Mondtag das Tableau einer von Alt-Nazis dominierten Bundesrepublik aus. Sehr konkret verortet er das Geschehen: wir befinden uns in einer Villa am Wannsee, die „arisiert“ wurde: Falilou Seck, eine glänzende Besetzung für den strengen Patriarchen mit dem rassistischen Gedankengut, das aus der Nazi-Zeit stammt, und Çiğdem Teke haben sich dort zwischen Jagdtrophäen, Hirschgeweihen und dem Porzellan der jüdischen, im Holocaust vertriebenen Eigentümer so eingerichtet, wie es ihrem Bild eines „gemütlichen“ Zuhaues entspricht und kommandieren die muslimische Haushälterin (Tina Keserovic) herum.

Noch präziser wird diese 90minütige Geschichtsstunde am Gorki durch die klug ausgewählten Radio-O-Töne aus Ost und West, die die Proteste der West-Berliner Studenten gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967 kommentieren und eine Keimzelle der 68er Proteste bildete.

Diese Familienaufstellung der ersten 70 Minuten ist atmosphärisch so dicht und handwerklich so präzise, wie man es von einem Regisseur der A-Liga und einem starken Ensemble erwarten darf. Unerbittlich tickt die Standuhr, im Takt kratzen die Löffel, Gabeln und Messer über die Teller.

Der Nachteil dieses Tableaus: sehr statisch bleiben die ersten beiden Drittel, geradezu zwangsläufig, denn die Kritik an den eingefrorenen Zuständen ist ja das Kernanliegen des Abends. Was danach kommt, ist auch absehbar: Lea Draeger stürmt als Tochter Elisabeth, die in ihrem Look Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin zitiert, in die Villa und sprengt die Verhältnisse auf.

Mit freundlich-verhaltenem Applaus wurde diese Lektion in Zeitgeschichte aufgenommen, nicht so ausgelassen-euphorisch, wie sonst oft am Gorki üblich.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/18/geschwister-ersan-mondtag-gorki-theater-kritik/
Geschwister, Berlin: Der deutsche Mittagstisch
@2: An Bernhard musste ich auch denken, aber eher an "Der deutsche Mittagstisch". Der Vergleich wurde auch schon auf Twitter gezogen.
Geschwister, Berlin: Das Beste von Mondtag bis jetzt
Also ich fand es die beste Inszenierung von Mondtag bis jetzt am Gorki!
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