Bochum breitet die Arme aus

19. Juni 2022. Gerade gewann Akın Emanuel Şipal mit seiner deutsch-türkischen Familiengeschichte "Mutter Vater Land" den Publikumspreis bei den Mülheimer Theatertagen. Jetzt hat Liesbeth Coltof sein neues Stück über die Geschichte der Migration im Ruhrgebiet inszeniert – als Open-Air-Spektakel mit reichlich Emotionen, personifizierter Hoffnung und einer Hymne, die Grönemeyers "Bochum" in nichts nachsteht.

Von Sarah Heppekausen

Akın Emanuel Şipals "Nadzieja i tęsknota / Umut ve Özlem / Hoffen und Sehnen" in Liesbeth Coltofs Inszenierung fürs Bochumer Schauspielhaus © Fatih Kurçeren

19. Juni 2022. Er habe mit seiner Kunst keine politische Agenda, er wolle nichts verbessern. Es müsse einfach raus. Das sagte Akın Emanuel Şipal beim Publikumsgespräch während der diesjährigen Mülheimer Theatertage. Mit seiner autofiktionalen deutsch-türkischen Familiengeschichte "Mutter Vater Land" war der Autor für den Stückepreis nominiert und räumte den Publikumspreis ab. Es muss erzählt werden. Es ist die Geschichte. Und es ist auch die Unmöglichkeit, als Türke in Deutschland anzukommen.

Die Notwendigkeit der Erzählung ist auch der Ausgangspunkt für "Nadzieja i tęsknota / Umut ve Özlem / Hoffen und Sehnen". In Şipals Auftragsstück für das Bochumer Schauspielhaus geht es um die Geschichte der Migration im Ruhrgebiet. Zusammen mit Regisseurin Liesbeth Coltof und Dramaturgin Dorothea Neweling hat der Autor Interviews geführt mit polnisch- und türkischstämmigen Bochumer:innen. Diese Gespräche sind das Material für einen vielstimmigen, reizvoll faktisch-fiktionalen Text.

Geschlossene Zechen, geschlossenes Opel-Werk 

Gespielt wird draußen auf dem Vorplatz und auf den Stufen des Theaterhauses. Um die extra aufgebaute Publikumstribüne rauscht der Verkehr. Fröhlich-laute Kinderstimmen von irgendwoher passen so perfekt, als wären sie eingespielt. Die Stadt Bochum – der Şipal eine eigene Rolle zugeschrieben hat – ist präsent in doppelter Hinsicht. Es ist die neue Stadt, in der die Zechen genauso geschlossen sind wie das Opel-Werk. Romy Vreden verleiht ihr geradezu königlichen Glanz, wenn sie weit oben aus dem Balkonfenster heraus ihr langes Stoffkleid aus Bochum-Motiven herabrollt und singt: "Die Arme breit' ich aus. Sind du und ich gemeinsam hier zu Haus?"

Hoffen und Sehnen2 805 Fatih Kurceren uDie Stadt Bochum ist konkret präsent in Liesbeth Coltofs Open-Air-Inszenierung © Fatih Kurçeren 

Unten auf dem Platz begegnen sich Halil, einst aus der Türkei gekommen und bei Opel als Lackierer beschäftigt, mittlerweile Opa und des Lebens müde, und Daria Bak als Minka, eine Jugendliche, deren Eltern aus Polen zugewandert sind. Sie möchte Bochum verlassen, aufs polnische Land zu ihrer Oma ziehen und Bäuerin werden. Ihre Eltern sind Teil der Geschichte – der schweigsam-gutmütige Bartosz (Axel Holst), der ein Haus bauen will, aber nicht sagen kann, wo, und die rastlose Irka, die nie stillsteht, um nicht zusammenzubrechen (Karin Moog). Halils Enkel sind irgendwie Angekommene – Levni als ITler bei der Stadt (Sefa Küskü) und Sefa als Künstlerin (Aylin Çelik). Es gibt den Chor der jungen Frauen, die in den 1970ern ohne Männer, aber hoffnungsvoll nach Deutschland fliegen. Und die Opel-Belegschaft, die das Presswerk lahmlegt und mit ihrem Protestsong "Das Herz von Bochum" der Stadt eine neue Hymne singt – schmerzbehaftet, aber kaum weniger eine Liebeserklärung als Herbert Grönemeyers "Bochum".

Nie anbiedernd, nie zurückhaltend

Es wird viel gesungen an diesem Abend, würdevoll fragend von der Stadt, rappend von der Jugend, mitreißend gut gelaunt von den feiernden türkischstämmigen Bewohner:innen, die gedeckte Tische auf dem Bürgersteig platzieren. Leòn Ali Çifteci, der charmant-schäkernde Halil, spielt selbst die türkische Saz. Johan Leenders live gespielte Musik begleitet, treibt voran, verstärkt und scheut auch keinen Kitsch. Überhaupt lässt die niederländische Regisseurin Liesbeth Coltof, die die Toneelmakerij in Amsterdam leitet und vor allem im Kinder- und Jugendtheaterbereich mehrfach ausgezeichnet wurde, reichlich Emotionen zu. Rührung, (böser) Witz, Slapstick, Klischees, Verletztheit, Wut, naive Neugier, Unsicherheit, Frohsinn – das alles und noch viel mehr hat Platz in ihrer Inszenierung, nie unangenehm, nie anbiedernd, nie zurückhaltend.

Hoffen und Sehnen4 805 Fatih Kurceren uHoffnung in Blau-Gelb: Mercy Dorcas Otieno (vorn) in Akın Emanuel Şipals "Hoffen und Sehnen" © Fatih Kurçeren

Die großen Gefühle haben ja auch ihre eigenen Rollen im Stück: Die Hoffnung und Die Sehnsucht, zwei wunderbar wundersame Gestalten wie aus einem Shakespeare-Stück entsprungen, die Sidekicks der Stadt, in kunstvollen Kostümen von Carly Everaert (Mercy Dorcas Otieno als Hoffnung trägt überwiegend die Farben Blau und Gelb). Nahezu aktivistisch "bewahren (sie) das Gleichgewicht" der Stadt und der Menschen. Unterstützend-optimistisch die eine, mahnend und zynisch die andere. Jordy Vogelzang als Sehnsucht spritzt mit jedem seiner Worte Gift in die Adern der Heimatlosen, schlängelt sich durch wie eine Schlange auf Menschenjagd, schwankt aber auch unsicher menschelnd, wenn er in Frage gestellt wird.

Papierfahnen und Pappköpfe

Direkt geht Coltof die Themen an, gibt Ambivalenzen Raum. Sie inszeniert ein musikalisch-schauspielerisches Spektakel mit 22 Bochumer Laiendarsteller:innen, die alle mal Deutsch, Türkisch und Polnisch sprechen und singen. Wenn die Geschichte auftritt – die polnische und die türkische – formieren sie sich hinter Papierfahnen und Pappköpfen. Ein Puppen-Ensemble, dass lustvoll Grausames erzählt.

Dass Erzählen aber nicht immer und für alle die Lösung ist, spricht Şipals Text ebenfalls aus. "Erzählen?! Schon wieder? / Was ich habe. Das einzige. Ist meine Geschichte. Verzeih mir, wenn ich sie behalte. Für mich." Entscheidend ist, dass gefragt wurde. Zumindest ist das die Hoffnung. Und das Bochumer Premierenpublikum jubelt.

 

Nadzieja i tęsknota / Umut ve Özlem / Hoffen und Sehnen
von Akın Emanuel Şipal in Zusammenarbeit mit Liesbeth Coltof und Ensemble
Regie: Liesbeth Coltof, Bühne: Guus van Geffen, Kostüm: Carly Everaert, Musik: Johan Leenders, Musiker: Daniel Brandl, Lukas Meile, Lichtdesign: Jan Hördemann, Dramaturgie: Dorothea Neweling.
Mit: Hasan Akbulut, Daria Bak, Hürrem Balaban, Marlene Berghaus, Aslı Bulat, Shirin Demirhan, Timuçin Erdim, Kamil Ertürk, Marta Grabski, Antonina Gruse, Ayşe Nur Güngör, Bahar Güngör-Candemir, Axel Holst, Thomas Kamill Halagan, Nina Karsten, Hedwig Krolikowski, Sefa Küskü, Josef Malinowski, Karin Moog, Mercy Dorcas Otieno, Meral Pektaş, Bernhard Pendzialek, Sebastian Sowa, Christian Stiller, Jordy Vogelzang, Romy Vreden, Taner Yenipınar, Joanna Ziajska, Aylin Çelik, Leòn Ali Çifteci, İbrahim Çiftçi.
Uraufführung am 18. Juni 2022
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

Kritikenrundschau

"Alles, was im Theater sonst gerne mal nicht funktioniert, geht hier wunderbar auf", freut sich Max Florian Kühlem in den Ruhrnachrichten (20.6.2022). Liesbeth Coltofs Inszenierung erzähle von der Einwanderung, "ohne thesenhaft verkopft oder bemüht integrativ zu sein". Das sei "leichtfüßig", habe "einen tollen Fluss", "tolle Hauptdarsteller" und "sehr gute Live-Musiker". Beim Publikum treffe dieser Abend "einen Nerv".

"Zwischen Malocherromantik und Fortschrittsgedanken unserer Tage kann sich die Inszenierung nicht so richtig entscheiden", meint Sven Westernströr in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (20.6.2022). Die Regisseurin sei allerdings klug genug, ihrem Freilufttheater so viele "Schauwerte" zu geben, dass die dramaturgischen Schwächen des Abends nicht weiter ins Gewicht fielen. Die "schönen Songs triefen vor Emotionen" und das Ensemble "gibt beständig Vollgas", resümiert der Kritiker.

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