Die Wahlverwandtschaften - Schauspiel Frankfurt
Mein ganzes Wesen strömt
24. Juni 2022. Ein Stück für das "Vielleicht"-Zeitalter der Liebe? Mit naturwissenschaftlichem Blick schaute Goethe in den "Wahlverwandschaften" auf zwischenmenschliche Beziehungen. Anziehung als chemische Reaktion? Lisa Nielebock erzählt mit lakonisch-sezierendem Blick einen Aushandlungsprozess über Nähe- und Distanzverhältnisse.
Von Leopold Lippert

24. Juni 2022. Oliver Helf hat ein Studiobühnengerüst in den großen Saal des Schauspiels Frankfurt gestellt, quer über die vorderen, leer bleibenden, Reihen hinweg. Eine Brücke in Schieflage, darauf vier Schauspieler:innen, ein paar Kohlestifte und eine Gitarre. Ein nüchtern preiswertes Labor für die abstrahierte Versuchsanordnung, die Johann Wolfgang von Goethes "Die Wahlverwandtschaften" ja sind: Das Ehepaar Charlotte und Eduard holt Otto und Ottilie in ihr idyllisches Landleben, man verliebt sich über Kreuz, und weil das Ganze dann doch ein bisschen reaktionär ist, endet die experimentelle Vierecksbeziehung in einer Tragödie: ein totes Kind, zwei tote Liebende.
Die Chemie des Begehrens
Lisa Nielebock hat aus dem Roman von 1809 ein knackiges 65-Minuten-Stück gemacht, und als Theater macht der Stoff durchaus Sinn, denn es geht sehr theatral um Konstellationen, um Anordnungen und Aushandlungen von Nähe- und Distanzverhältnissen. Goethe erzählt diese verzwickte Liebesgeschichte mit Anleihen aus der (zeitgenössischen) Naturwissenschaft: Anziehung ist eine chemische Reaktion, Wahlverwandtschaft kann Verbindungen lösen und neu anordnen. Und durch diesen naturwissenschaftlichen Blick findet keine Psychologisierung von Begehren statt, keine romantische Einfühlung, sondern eine distanzierte Analyse von sich verschiebenden Beziehungsgeflechten.
Ein rührseliges Register
Nielebocks Inszenierung verwendet dafür den lakonischen Ton einer Erzählstimme, die sie über alle vier Protagonist:innen verteilt. Und die Figuren selbst sind immer schon ein bisschen over-the-top in ihren Gefühlsbekundungen – man freut sich an der gestelzten Sprache und den "gegenseitigen Neigungen" und sagt Sätze wie "Mein ganzes Wesen strömt gegen Ottilie" oder "Wichtig ist, dass man sich verständigt". Der wunderbar leichtfüßig dahinplätschernde Sound hält uns Zuschauer:innen bei Laune, kippt gegen Ende allerdings abrupt in ein rührseliges Register: ein totes Kind lässt schließlich niemanden kalt und muss entsetzt betrauert werden.
Die Beziehungen auf dem Sezierplateau: Ensemble © Thomas Aurin
Trotzdem: Bei all dem ach so sexuell aufgeklärten Geplänkel über neue Verbindungen von zuvor getrennten Elementen, über spontane Gelegenheiten und Wahlverwandtschaften chemischer, sozialer und amouröser Natur verlässt das Stück nie seinen als universal weiß gesetzten, heteronormativen Rahmen und wirkt dadurch in einer viel diverseren Gegenwart unglaublich altbacken. Zumal diese Setzungen nicht nur abstrakt sind, sondern auch höchst unironisch performt werden, mit einer durchgehend weißblonden Besetzung, mit Männern, die sich jovial auf die Schultern klopfen, und Frauen, die hysterisch schreien und in Tränen ausbrechen. Die Gelegenheit, sich zu der historischen Vorlage irgendwie inszenatorisch zu positionieren, lässt Nielebock verstreichen.
Goethe in Frankfurt? Passt!
Und so biedert die Inszenierung vor sich hin, und erzählt den Goethe unaufgeregt mit ein paar hübschen Kniffen – schwarz-weiße Kostümkontraste (Ute Lindenberg) etwa, oder Kohlestiftzeichnungen, deren Spuren sich nach und nach über Bühne und Figuren verteilen – und prima Schauspieler:innen (Torsten Flassig, Marta Kizyma, Manja Kuhl, Heiko Raulin). Lustig wird’s, als Charlotte schwanger ist, denn dann stopft sie ihren schicken cremefarbenen Pullover erst zum Babybauch, dann wiegt sie ihn als Neugeborenes, und als das Kind dann tot ist, zieht sie den Pulli einfach wieder an.
Das ist handwerklich solide, doch bleibt man etwas ratlos zurück und fragt, warum es gerade dieser Stoff auf den Spielplan und die große Bühne geschafft hat, und warum in dieser schlichten Studioästhetik ohne Welthaltigkeit. Immerhin: Goethe in Frankfurt, das passt ja ganz gut.
Die Wahlverwandtschaften
nach Johann Wolfgang Goethe, bearbeitet von Lisa Nielebrock
Regie: Lisa Nielebock, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Thomas Osterhoff, Dramaturgie: Julia Weinreich, Licht: Frank Kraus.
Mit: Torsten Flassig, Marta Kizyma, Manja Kuhl, Heiko Raulin.
Premiere am 23. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
Lisa Nielebock nimmt Goethes Romanstoff dem Eindruck von Silvia Staude in der Frankfurter Rundschau (24.6.2022) nach "als Versuchsanordnung, stellt sein Skelett hin, zeigt die wichtigen Entscheidungen (die das Herz jeweils fatal mitentscheidet, wenn es sie nicht überhaupt alleine trifft). Von den ersten Minuten an ist dieser Abend die Ankündigung einer Katastrophe, vom ersten Drängen Eduards an, seinen Freund Otto zu ihnen zu holen in die Zweisamkeit." Das Skelett dieses Abends steht dabei aus Sicht der Kritikerin stabil, die Schauspielerinnen und Schauspieler sind stark – aber es bleibt, besonders am Ende, bei Staude "der Eindruck einer unnötig erscheinenden Hast, die automatisch Lakonie mit sich bringt."
"Das zeitgenössisch Menschliche, das Nielebock interessiert, wird mit leiser Musik, mit Gesten und mit dem Abwenden oder Naherücken auf dem Laufsteg trotz der Kargheit der Mittel durchaus plastisch", findet Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.6.2022). Selbst "das schon ziemlich überreizte Stilmittel" ein Bühnenelement vollzuschreiben, habe hier einen Sinn: "Der Kohleabrieb der Stifte färbt nach und nach Hände, Gesichter, die helle Kleidung der Protagonisten. Niemand, zeigt das, kommt unbeschadet und unbesudelt heraus aus einem Leben, in dem freie Entscheidungen und Leidenschaften erlaubt sind", deutet und resümiert die Kritikerin den Abend.
In der Frankfurter Neuen Presse (25.6.2022) schreibt Betinna Boyens, dass am Ende dieser Inszenierung nicht mehr hängen bliebe, als "kluges Beziehungs-Geplauder". Dieser "entschlackte" Goethe in "kühler Probenästhetik" wage keinen eigenen Kontrapunkt und wäre auch etwas für die Kammerspiele des Schauspiels gewesen, meint Boyens. "(...) Nielebocks Analyse traut sich nichts und mutet dem Publikum nichts zu", urteilt die Kritikerin.
Mario Scalla berichtet auf hr2-kultur (24.6.2022), dass die Dramatisierung es gut verstanden habe, "Goethes sehr fein gesponnenes Beziehungsspiel auf die wesentlichen Episoden zu fokussieren". Dies wirke nicht "kühl" oder "kalt", sondern als Beziehungsspiel. In ihrem Minimalismus habe die Inszenierung viele Momente gut eingefangen, findet der Kritiker, und der Text durch seine Verschlankung etwas Strukturelles bekommen. Auch die "Beziehungsklugheit" der "Wahlverwandtschaften" sei auf der Bühne zu besichtigen gewesen. All das war für Scalla "gut und überzeugend". "Ein klassisches Stück, sehr neu und frisch auf die Bühne gebracht!", ruft Scalla erfreut.
Lisa Nielebock treffe für die Inszenierung eine "eigentlich sympathische", aber letztlich "verhängnisvolle" Entscheidung, meint Christian Gampert in seiner Besprechung auf Deutschlandfunk Kultur (26.6.2022). Die Regisseurin wolle ganz "traditionelles, auf Sprache und Figuren und psychologische Feinheiten" konzentriertes Theater machen. Viel Gefühl gebe es an diesem Abend aber nicht. Das Ungleichgewicht zwischen den Figuren-Paaren hebele die ohnehin schon sehr literaturlastige Inszenierung völlig aus. Die Chemie stimme auch zwischen den unterschiedlich erfahrenen Schauspieler:innen nicht. Alles sei hochgradig symbolisch aufgeladen, werde aber psychologisch nicht eingelöst. "Im kleinen Kammerspiel mag das angehen, im großen Haus geht das unter". "Eine erstaunlich leblose Veranstaltung", resümiert der Kritiker.
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