Kabale und Liebe

1. Juli 2022. Auf welches brandaktuelle Thema soll man sich stürzen? Die Sommerspiele Perchtoldsdorf könnten sich mit Michail Bulgakows Stück "Die Kabale der Scheinheiligen" echten und eingebildeten Kranken oder einem an der Obrigkeit verzweifelnden Russen widmen. Regisseur Michael Sturminger entscheidet sich für saftiges Sommertheater.

Von Martin Thomas Pesl

"Molière oder der Heiligenschein der Scheinheiligen" in der Regie von Michael Sturminger bei den Sommerspielen Perchtoldsdorf: B. Stoeger, E. Fellmer, W.V. Brouwer © Sophia Wiegele

1. Juli 2022. Es ist schon sehr meta, dass am Tag dieser Premiere die Meldung des Volkstheaters Wien kam, Molières "Eingebildeter Kranker" im Herbst werde wegen zu vieler Erkrankungen nicht stattfinden können. Einige Stunden später sah man Molière dann in dieser seiner eigenen Titelrolle tot auf die Bühne hinsinken. Wie im echten Leben, damals 1673.

Mundgerecht gemacht

In Wirklichkeit starb der französische Dramatiker, Schauspieler und Prinzipal nicht im Theater, sondern erst später zu Hause. Doch derlei Ungenauigkeiten nahm Michail Bulgakow für sein Stück "Die Kabale der Scheinheiligen" 1930 in Kauf. Der Vierakter dauerte an Frank Castorfs Volksbühne fünfeinhalb Stunden, die Sommerspiele Perchtoldsdorf südlich von Wien schaffen es in knapp drei. Sie zeigen eine mundgerecht gemachte Fassung mit dem Titel "Molière oder Der Heiligenschein der Scheinheiligen".

Es gilt, den 400. Geburtstag des großen Franzosen zu begehen, die Häufung eingebildeter und richtiger Kranker im dritten Pandemiejahr ist also gar kein so großer Zufall. Dass auch noch die Perspektive eines in Kiew geborenen und an der Obrigkeit verzweifelnden Russen hinzukommt – Bulgakow wollte mit dem Stück auf seine eigene Lage als verpönter Schriftsteller hinweisen –, macht "Molière" zur treffenderen Spielplanwahl als jeden Molière, verwirrt aber auch: Auf welches brandaktuelle Thema soll ich mich da eigentlich stürzen?

Moliere3 c Sophia Wiegele Eitelkeiten und Liebesdramen unter freiem Himmel © Sophia Wiegele

Intendant und Regisseur Michael Sturminger entscheidet sich in seinem letzten Jahr in Perchtoldsdorf für keines der genannten. Bei ihm gibt es theaterinterne Eitelkeiten und Liebesdramen im Wechsel mit Kleruskarikaturen. Sturminger spielt einfach das Stück. Das ist mutig im Sommertheater, denn in Sachen Tempo und Witz ist der geniale "Meister und Margarita"-Autor, nun ja, kein Molière. Was er kann, ist eine Erzählung aufspannen (tat dies etwa in der Romanbiografie "Das Leben des Herrn de Molière").

Komödiantische Übertreibungslust

Die Handlung folgt dem verbissenen Beef des Maître mit dem Erzbischof Marquis de Charron, den er als Vorbild für seine Heuchler-Komödie "Tartuffe" nahm. Das bietet Gelegenheit, zwei schauspielerischen Gegenpolen bei der Arbeit zuzusehen. Wojo van Brouwer gibt Molière stets berechnend, fast depressiv, später tragisch-selbstmitleidig – auf die Tube drückt er nur, wenn es dem König (Michou Friesz) zu schmeicheln gilt. Dafür holt Birgit Stöger alles aus dem sakralen Erzschurken raus, was komödiantische Übertreibungslust bietet. Nicht nur der Bart ist falsch, der ganze Mensch.

Szenen vor und hinter der Bühne trennt – schlicht, aber praktisch – ein roter Vorhang auf einer kleinen Drehbühne. So lassen sich zwischendurch auch die Umbauten zum Kirchenkeller verdecken, wo sich Charron mit seinem "Geheimbund der Heiligen Schrift" trifft. Dauert das mal länger, musiziert derweil gekonnt das Ensemble.

Geheimnisse und barocke Perücken 

Im Kampf siegt letztlich der Geistliche, weil er ein Geheimnis aus dem Privatleben des Dichters erfährt, das Grund genug bietet, ihn zu canceln: Die junge Armande, die Molière geehelicht hat, ist nämlich nicht, wie vermutet, die Schwester, sondern die Tochter seiner langjährigen Geliebten Madeleine – und somit vielleicht seine eigene. Mit ehrlicher Dramatik und einem Ton so direkt, wie er sich zwischen Mikroports und barocken Perücken auf einer Freilichtbühne halt ausgeht, überzeugen sowohl Hannah Rang als Armande als auch Veronika Glatzner als Madeleine.

Moliere ensemble c Sophia WiegeleDen Dichter hat's dahingerafft: Ensemble © Sophia Wiegele

Die teils genderblinde Besetzung ohne damit einhergehendes erzwungenes Statement macht Freude. Mannigfaltige Röcke, Schuhe und Strümpfe dienen der Erheiterung, doch sommertheateruntypisch wird nicht den Pointen hinterhergejagt. Braucht die Figur vor einer Entscheidung Zeit zum Nachdenken, bekommt sie sie. So folgt man über weite Strecken sanft amüsiert dem unverbrauchten Drama, der Schnulze mit einem Hauch "Nackter Wahnsinn" und dem nervösen Ein und Aus im Zentrum der Macht – gemeint ist der Königspalast, nicht die Kirche (und erst recht nicht das Theater).

Erst der in die Länge gezogene Schluss krankt – keine Einbildung! – daran, dass sich alle gleichzeitig wichtig nehmen: Bulgakow und Molière als unverstandener Künstler, Sturminger als scheidender Regisseur. Exzessiv leidet der Dichter an seinen letzten Lebensstunden, gar rührend schützt ihn sein Ensemble vor dem Musketier, der es auf ihn abgesehen hat. Schließlich wird der aufgebahrte Tote einige Drehungen lang über die Bühne getragen wie einst die Särge von Burgschauspielern um ihr Haus. Da wünscht man sich dann doch heimlich einen Deus ex machina – ganz molièrig und ganz sektselig sommertheatrig.

 

Molière oder der Heiligenschein der Scheinheiligen
nach Michail Bulgakow
Regie: Michael Sturminger, Bühne und Kostüme: Marie Sturminger, Paul Sturminger, Musik: Michael Pogo Kreiner, Dramaturgie: Angelika Messner.
Mit: Nikolaus Barton, Roman Blumenschein, Wojo van Brouwer, Emanuel Fellmer, Michou Friesz, Veronika Glatzner, Michael Pogo Kreiner, Raphael Nicholas, Judith Prieler, Hannah Rang, Milena Arne Schedle, Birgit Stöger, Christina Maria Sutter.
Premiere am 30. Juni 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.sommerspiele-perchtoldsdorf.at

 Kritikenrundschau

In Bulgakows Stück sei "so ziemlich alles dabei, was ein spannender Theaterabend braucht, es würde gar für eine Netflixserie reichen: eine bekannte Persönlichkeit, eine Intrige, Sex, Crime, Religionskritik", so Christina Böck in der Wiener Zeitung (online 1.7.2022). In Perchtoldsdorf allerdings wolle diese Geschichte nicht abheben, "zu behäbig schleppt sich die Inszenierung durch die Szenen". Sturminger setze auf klamaukige Typen, nehme Details wichtiger als die große Geschichte, walze die Szenen aus. "Schade, als Abschiedsvorstellung des Intendanten hätte man sich mehr Dynamik gewünscht."

Ähnlich sieht es Ronald Pohl im Standard (online 1.7.2022): "Merkwürdigerweise" lege Sturminger das komödiantische Duett-Duell von König und Theatermacher vor der Kulisse der Perchtoldsdorfer Burg "als eine Art Requiem an, als Schreittanz von der erklecklichen Länge einer Philip-Glass-Oper". Am schnellsten drehe sich noch die Bühne. "Das Verhältnis von Innen und Außen, von Privatheit und Repräsentation, wird hingegen als Schnecken-Rallye beschrieben." Selbst die satirische Kirchenkritik habe schon luzidere, auch säurehaltigere Zeiten erlebt. "Was vielleicht insgesamt für das Sommertheater in Perchtoldsdorf gilt."