Die Bäume sind schon da

1. Juli 2022. Die Selbstbefragung der darstellenden Künste war stets das Hauptmotiv der "Theaterformen". Mit den Performances "Nurture" und "Is this a room: Reality Winner Verbatim Transcription" eröffnet das Festival in der Braunschweiger Ausgabe intim und politisch. Abenteuer manifestieren sich (auch) jenseits der Theaterbühnen. Impressionen vom Auftakt.

Von Michael Laages

"Nuture" von Samuli Laine beim Festival Theaterformen in Braunschweig © Filippo Zambon

1. Juli 2022. Frühkindliches Erinnern liegt hier in der Luft. Denn hat nicht auch die Mutter vor einigen Jahrzehnten dieses Spiel gespielt: die Finger der Kinderhand (und die Hand als Ganzes) zu stimulieren, indem sie sie wusch und diesen Vorgang mit Ansätzen zu einfacher Massage erweiterte? Der freundliche Finne, der da je einen Gast in seiner Performance "Nurture" zu sich einlädt auf einen kleinen gelblichen Teppich mit Sitzkissen drauf, geht ähnlich vor; und so mütterlich wie möglich gibt er der Besucherin wie dem Besucher sogar die Brust… Schmeckt Muttermilch wie das, was wir da saugen?

Natursaft aus dem Gummipropfen

Natürlich nicht; er, Samuli Laine, hat ja keine. Einen Natursaft (der – so erzählt er – bei ihm daheim bei Bedarf zum Einsatz kommt als Muttermilch-Ersatz) saugen wir aus einem Gummipropfen, den er sich auf eine Brustwarze appliziert hat. Zuvor hat er eine nach der anderen unserer Hände gewaschen und wieder getrocknet. Das war's, mehr geschieht nicht in den Begegnungen, die noch bis Sonntagabend auf der kleinen Probebühne 3 unter'm Dachjuchhe vom Großen Haus des Staatstheaters in Braunschweig stattfinden; den spirituellen Raum drumherum, all das Empfinden um Körper und Natur, Empfindung und Persönlichkeit bleibt Samuli Laines Gästen vorbehalten. Jeder und jede entscheidet selbst, was das ist, das da am Beginn des Festivals steht – eine Form von Theater vielleicht? Oder was sonst?

Nurture3 Filippo ZambonIntime Begegnung auf dem Teppich © Filippo Zambon

Die Selbstbefragung der darstellenden Künste war stets das Hauptmotiv des Festivals, das 1991 aus der Taufe gehoben wurde, unter anderem mit Robert Lepage und den legendären "Seven Streams oft he River Ota", damals noch mit einer Menge Geld aus der Volkswagen-Stiftung. Die landeseigene Stiftung Niedersachsen übernahm das Projekt, und seit dem EXPO-Auftrieb zur Jahrtausendwende wechselt es Jahr für Jahr die Spielstätte – mal ist das Schauspiel in Hannover Gastgeber, mal das in Braunschweig. Im vorigen Jahr übernahm die Kulturmanagerin Anna Mülter die Leitung der "Theaterformen" von Martine Dennewald. Gestern war sie erkrankt (genauer: positiv getestet auf das gerade wieder massiv erstarkende Corona-Virus) und konnte so die zweite Ausgabe nicht eröffnen, die das Team und sie für die Tage und Nächte bis zum Ende nächster Woche geplant und erarbeitet haben.

Glanzlichter in brütender Hitze

Es war auch so recht stimmungsvoll in brütender Braunschweiger Hitze; zumindest, nachdem die Politik das Mikrophon wieder aus der Hand gegeben hatte. Die britische Künstlerin Jess Thom, im Rollstuhl und mit dem Tourette-Syndrom unterwegs (was bedeutet, dass sie unkontrolliert Worte wie "biscuit" oder "sausage", Keks und Würstchen also, ins eigene Sprechen mischt), sowie der ebenfalls britische Architektur-Experte Richard Dougherty (der als Gehörloser die Vorstellung des Festivalzentrums auf dem Anna-Amalia-Platz beim Kleinen Haus des Staatstheaters in Gebärdensprache übernahm) haben eindeutig die Glanzlichter der Eröffnung gesetzt. Dougherty und der Kollege Chris Laing haben einen luftigen Rundbau auf den Platz gesetzt, mit leichten Gardinen-Vorhängen ein bisschen abgeschlossen nach innen und außen; Menschen, die sich über Gebärden verständigen, bilden, so heißt es, gerne derartige Kreisformen, wenn sie sich mit ihresgleichen treffen. Menschen mit Gehör allerdings auch…

Glücksgriffe und Selbstbehauptung

Auch das Kollektiv "EQuemEGosta" aus São Paulo ist schon da und tobt in einer etwas kryptischen Performance zwischen der Kundschaft mit Eröffnungssekt oder O-Saft in der Hand umher, will auf Portugiesisch kommunizieren (ohne Erfolg) und rollt einen Wagen voller weißer Kerzen herein, die später vor dem Eingang zum Großen Haus des Theaters verteilt werden. Dienstag und Mittwoch kommender Woche bringt die Gruppe die enorm energetische Produktion "Is this a Black" ("Isto e um Negro?") ins kleine Braunschweiger LOT-Theater; die Arbeit über alltäglichen Rassismus erregte zunächst beim Festival MITsp in Sao Paulo viel Aufmerksamkeit und gastiert auch jetzt wieder im Frankfurter Mousonturm, nach dem Besuch in Braunschweig. Das brasilianische Ensemble ist ein Glücksgriff der Festival-Direktorin; genau wie die Symphonie des Fortschritts vom Team um die aus Moldau stammende Künstlerin Nicoleta Ensinencu, die auch schon das Impulse-Festival bereicherte und jetzt das Braunschweiger Auftakt-Wochenende mitprägen wird.

Auch brasilianische Bäume sind schon da – teils stehen sie, von Darstellerinnen und Darstellern gespielt, vor dem Theater, teils sind sie auf dessen Außenwände projiziert. Naine Terena und Denilson Baniwa repräsentieren jene in Brasilien überaus präsente und extrem intensive Verquickung von Themen indigener Selbstbehauptung mit Beschwörungen der schwerst bedrohten Natur-Ressourcen im Lande des proto-faschistischen Noch-Präsidenten Bolsonaro. Jetzt in Braunschweig markieren auch die Brasilianerinnen und Brasilianer Schwerpunkte theatraler Formen, die vor allem außerhalb von Bühnenhäusern liegen.

Das FBI steht vor der Tür

Und nicht selten sind Manifestationen dieser Art ja auch deutlich eindrucksvoller als die Ereignisse auf der eigentlichen Theaterbühne; nicht nur bei diesem Festival. "Is this a Room: Reality Winner Verbatim Transcription", das Stück zur Eröffnung auf großer Bühne, vom New Yorker "Half Straddle"-Ensemble der Autorin und Regisseurin Tina Satter nach Braunschweig gebracht, verspricht viel und löst nicht viel davon ein. Spektakulär ist sicher das Setting, die dramaturgische Grundsituation – eine junge Frau, "Reality Winner" heißt sie (was für ein sprechender Name!), kommt eines Tages vom Einkaufen zurück und hat Besuch vom FBI. Sie war ehedem bei der US Air Force tätig und arbeitet mittlerweile (wie einst auch Edward Snowden) bei der nationalen Sicherheitsagentur NSA; sie soll – so der Verdacht – ein geheimes Dokument "geleakt", also womöglich weitergereicht haben an die Internet-Plattform von Julian Assange. Dessen Name wird stets mit "black out" vermieden in der Inszenierung; auch die Frage, ob es im Dokument um russischen Einfluss auf die Wahl von Donald Trump ging, bleibt auf der Bühne unerwähnt. Das Protokoll von Miss Winners Vernehmung durch drei FBI-Schergen wurde offenbar seinerseits "geleakt" und ist jetzt Basis der Aufführung. 

ROOM2Gianmarco BresadolaBesuch von der Jungs der Behörde © Gianmarco Bresadola

Damit ist alles gesagt. Die Inszenierung ist genau das: eine Art Dokument. Technisch wie darstellerisch ist nichts von Belang zu entdecken; nur die Entwicklung der Vernehmung fesselt ein bisschen – wie die junge Frau irgendwann gesteht, was ihr Motiv gewesen sein mag (dass sie, die ausgebildete Linguistin, absurderweise für die falsche afghanische Fremdsprache eingesetzt wurde), und dass sie sich vor der drohenden (und erfolgten) Verhaftung vor allem darum sorgt, wie Hund und Katze ihre Gefängnis-Zeit überstehen werden. Natürlich ist das fundamental paranoide Land, in dem die Geschichte spielt, eine Schreckenskammer, aber das ist das Thema. Und damit ist wiederum alles gesagt. Auf der Bühne entwickelt dieser Horror keinerlei Spannung und Faszination – und das ist vielleicht auch gar nicht gewollt.

Herausfordernde "Theaterformen" allerdings sind da nicht zu entdecken. Wahrscheinlich bleibt die Arbeit vom Broadway auch ein sonderbarer Solitär im Programm der kommenden Tage.

 

Nurture
Von Samuli Laine
Konzept, Performance: Samuli Laine, Teppich: Laura Jantunen, Soundscape: Jussi Matikainen, Beratung: Jarkko Partanen, Jussi Matikainen, Fotos: Filippo Zambon, Produktion: Reality Research Center, Samuli Laine.
Dauer: 25 Minuten, keine Pause

Is This A Room: Reality Winner Verbatim Transcription
Von Tina Satter / Half Straddle
Konzept, Regie Tina Satter, Bühne: Parker Lutz, Kostüme: Enver Chakartash, Musik: Sanae Yamada, Licht: Thomas Dunn, Requisite: Amanda Villalobos, Produktion und Inspizienz: Randi Rivera, Produktionsleitung: KC Athol: Technik Jørgen Skjaervold, Fotos: Schaubühne / Gianmarco Bresadola.
Mit: Katherine Romans, Will Cobbs, Becca Blackwell, Dick Toth.
Dauer: 1 Stunde, 10 Minuten, keine Pause

www.theaterformen.de

 

Kommentare  
Theaterformen Braunschweig: Thrillerartig
"Is this a room" eröffnete im März auch bereits das FIND-Festival der Schaubühne.

Zwischen all den anderen Performances, die Sie beschreiben, Herr Laages, wirkt die Broadway-Produktion tatsächlich wie ein Fremdkörper.

Aus meiner Sicht kommt das Gastspiel aber in Ihrer Kritik zu schlecht weg. Dass "nichts von Belang" zu entdecken sei, kann ich so nicht unterschreiben. Der Abend funktioniert als thrillerartiges Verhör-Reenactment durchaus. In seinem Minimalismus und in seinem Verzicht auf Requisiten ist „Is this a room“ eine typische Off-Off-Broadway-Show. In „The Kitchen“ hatte das Stück bereits im Januar 2019 Premiere und lief dann so erfolgreich am Vineyard Theatre am Off-Broadway, dass die Ruhrtriennale und das FIND-Festival der Schaubühne darauf aufmerksam werden. Dort sollte dieses Whistleblower-Drama bereits im September 2020 bzw. im Oktober 2021 gastieren. Ersteres verhinderte Corona, zweiteres der Umzug der Produktion an den Broadway ins Lyceum Theatre: in all seinem Minimalismus hat der 65 Minuten kurze Abend alle Qualitäten, die ein Broadway-Hit braucht, die von New York Times bis Time Out empfohlen wird: die klare Zugänglichkeit für das Mainstream-Publikum jenseits der Nerdhaftigkeit, die für deutsche Off-Produktionen so typisch ist, und vor allem die großen Emotionen mit dem tränenreichen Zusammenbruch der Hauptfigur.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/31/is-this-a-room-schaubuhne-theater-kritik/
Theaterformen Braunschweig: Berlin-Eröffnung
...naja, dass den Theaterformen, 1:30 h mit dem ICE von Berlin entfernt nichts besseres zur Eröffnung einfällt als vier Monate nach Berlin mit demselben Stück wie FIND zur eröffnen ist schon ein Armutszeugnis und konterkariert die Eröffnungsreden von der überregionalen Strahlkraft und Besonderheit der Veranstaltung dann doch ganz erheblich. Da wäre mehr Mut und Innovation von Seiten der Festivalleitung dann doch sehr wünschenswert gewesen, zumal es für ein Festival, dass weltweit sucht, dann ja doch genügend Auswahl geben dürfte.
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