Nichts zu lachen

3. Juli 2022. Wohin bewegt sich die Kunst? Was gilt die Avantgarde, was die Tradition? Für die ästhetische Selbstbesinnung greifen Theatermacher:innen gern nach Tschechows Künstlerdrama "Die Möwe". So auch Regisseur Torsten Fischer zum Auftakt der neuen Intendanz von Maria Happel bei den Festspielen Reichenau.

Von Martin Thomas Pesl

Nils Arztmann in "Die Möwe" bei den Festspielen Reichenau © Lalo Jodlbauer

3. Juli 2022. Na bumm! Nachmittags gibt Maria Happel noch im Reichenauer Kurpark bei strahlendem Sonnenschein ein Fest. Ballons flattern, muntere Einzugsmusik wird gespielt, und die neue Intendantin, die auch beliebte Burgschauspielerin und legendäre Lacherin ist, wünscht den Sommerfrischler:innen, sie mögen sich "im Theater von der Realität erholen". Dort aber, abends auf der Bühne, startet sie ihre Intendanz mit einer "Möwe", die ihren Pessimismus keinen Moment verhehlt. Die Inszenierung der vermeintlichen Komödie beginnt im Nebel mit der Frage "Hast du Angst vor dem Krieg?" und endet mit einem erbarmungslos antiklimaktischen Black infolge des finalen Selbstmords.

Festspiele Reichenau unter neuer Leitung

Gegründet wurden die Festspiele Reichenau vom Ehepaar Peter und Renate Loidolt 1988 als Reaktion auf das "zu moderne" Burgtheater des Claus Peymann. Hier konnte das Publikum seine in Wien in die zweite Reihe gedrängten Lieblinge allsommerlich in Inszenierungen bewundern, die noch so waren, "wie's g'hört". Obwohl oder weil die Loidolts nicht aus dem Theaterbetrieb kamen, wurde ihr Unternehmen zum Sensationserfolg. Gespielt wurden Schnitzler, Zweig, Nestroy und so weiter. Die Stars arbeiteten gerne für sie, weil die Gagen gigantisch waren. Nur der Rechnungshof war nicht einverstanden. Im ersten Pandemiejahr sagte das Paar die Festspiele ab, im zweiten – zum Leidwesen vieler Künstler:innen, die sich den Sommer dafür nach Absprachen freigehalten hatten – auch. Entsetzt von den ungnädigen Reaktionen gingen die Loidolts in Pension. Die Intendanz wurde erstmals ausgeschrieben und ging an Maria Happel, die hier schon mehrmals gespielt und sogar inszeniert hat.

DieMoewe 5 LaloJodlbauer u"Neue Formen" gesucht: Günter Franzmeier, Sandra Cervik, Markus Kofler und Claudius von Stolzmann spielen Tschechows Künstlerdrama "Die Möwe" © Lalo Jodlbauer

"Eine neue Ära!", sagt Martin Schwab, während er den Zuschauer:innen Kirschen anbietet, halb als er selbst, halb als Gerichtsrat Petruscha, der sich mit seiner Schwester, der Schauspieldiva Irina, und deren Sohn Kostja, am Land langweilt. Auch Nils Arztmann als Kostja hält einen kleinen Monolog, um alle vorzustellen. "Neue Formen" fordernd hat er ein Stück geschrieben und performt es auf der selbst gebauten Seebühne mit seiner Angebeteten Nina. Dass die Erwachsenen ihn nicht ernst nehmen, lässt ihn prompt zum Emo werden, der sich die Augen schwarz anmalt.

Diskrete Regiezutaten

Regisseur Torsten Fischer lässt "Die Möwe" in einer Übersetzung aus den Siebzigerjahren, von den einführenden Schlenkern abgesehen aber einigermaßen vom Blatt spielen. Dekonstruierendes Regietheater kann das Publikum also nicht monieren, die sich vereinzelt einstellende Fadesse kennt es als typisch tschechowsch. Und doch ist einiges anders als früher: Die Bühne begnügt sich mit einem riesigen Mond und einem noch riesigeren Spiegel, der in der zweiten Hälfte so steht, dass er den Backstage-Bereich sichtbar macht. Das Ensemble paradiert anfangs in Kostümen von schlichter Zeitlosigkeit, später durchbrochen durch die eine oder andere Jeans. Vor allem aber hat es nichts Niedliches, lässt sich vorantreiben vom fast durchgehend (etwas zu prominent) laufenden Score: melancholischen Streichern oder traurigem Pop.

DieMoewe 3 LaloJodlbauer uShowtime unterm Mond: Dunja Sowinetz, Paula Nocker, Anton Widauer, Martin Schwab und Sandra Cervik auf der Bühne von Herbert Schäfer © Lalo Jodlbauer

Dabei treffen unterschiedlichste Schulen aufeinander, nicht immer sind sie vereinbar. Martin Schwab (Burg) und Sandra Cervik (Josefstadt) etwa spielen ihr Geschwisterpaar seltsam aneinander vorbei, dafür verbindet Cerviks Irina Arkadina eine inzestuöse Körperenergie mit ihrem Sohn Kostja (Nils Arztmann). Überhaupt meistern die Jungen ihre schwierigen Aufgaben, auch wenn man etwa Paula Nocker die Anstrengung dabei anmerkt, ihre Nina aus den Höhen der naiven Enthusiastin in einen Ophelia-haften Wahn fallen zu lassen. Am souveränsten schlägt sich Johanna Mahaffy, die auch die griffigere Mädchenrolle hat, Mascha, die unglücklich in Kostja verliebt ist, sich nichts vormacht, trinkt und tanzt und halt den Lehrer heiratet, wenn’s hilft.

Vom Leben der Kunst- und Provinzmenschen

In seiner eigenen Liga spielt Claudius von Stolzmann den scheuen Starautor Trigorin, den sich Irina angelacht hat. Großartig redet er sich vor der Pause in verständnislose Rage gegen seine Fans und lässt sich daraufhin von der älteren Geliebten zur Schnecke machen. Im letzten Akt, nachdem er Nina erfolgreich zerstört hat, ist man fast geneigt, sich für ihn zu freuen: Er hat sein Selbstbewusstsein gefunden.

Nein, dass sich dieser Abend über Kunst- und Provinzmenschen bei den Hardcore-Reichenauern anbiedert, kann man nicht behaupten. Kurz vorm tragischen Ende lässt sich sogar eine direkte Kritik an ihnen lesen. Während Kostjas letzter Begegnung mit Nina, kurz bevor er sich erschießt, sieht man sie, repräsentiert durch das Ensemble, in Zeitlupe bedrohlich auf den Spiegel zugehen, alle ein Weißweinglas in der Hand. Ihr habt die Kunst auf dem Gewissen, sagt dieses Bild, ja, genau, ihr. Aber keine Sorge: Morgen wird Maria Happel ihr Lachen lachen, und dann ist alles wieder gut.

 

Die Möwe
von Anton Tschechow
Deutsch von Kay Borowsky
Regie: Torsten Fischer, Bühne: Herbert Schäfer, Kostüme: Vasilis Triantafillopoulos, Licht: Ralf Sternberg.
Mit: Nils Arztmann, Sandra Cervik, Günter Franzmeier, Markus Kofler, Johanna Mahaffy, Paula Nocker, Martin Schwab, Dunja Sowinetz, Claudius von Stolzmann, Anton Widauer.
Premiere am 2. Juli 2022
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause

www.theaterreichenau.at

 

Kritikenrundschau

"Was man in Reichenau erlebt, ist vor der Pause der rund zweieinhalbstündigen Aufführung eine flotte, reizvolle Verfremdung, danach eine weniger gelungene Melodramatisierung, wenn man sie mit subtilen Inszenierungen wie etwa von Luc Bondy oder Jürgen Gosch vergleicht", schreibt Norbert Mayer in der Presse (4.7.2022). Agiert werde "mit Herzblut, oft auch raffiniert, im Wissen um Effekte".

Ronald Pohl ruft im Standard (4.7.2022) gutgelaunt den "tadellosen Beginn einer neuen Ära" (nämlich von Maria Happel) in Reichenau aus: "Ein Anfang ist gemacht!" Zwar keiner, dank dessen die Rezeptionsgeschichte der "Möwe" umgeschrieben werden müsse. Aber doch mit einer "wohlgelungenen Aufführung", in der "ein würgendes Elend an den Tschechow-Menschen" nage, und beeindruckenden Spieler:innen.

"Es wird nicht gut gespielt, es wird nicht schlecht gespielt, es wird halt irgendwie gespielt. Es ist in keiner Weise spürbar, warum hier überhaupt gespielt wird", findet hingegen Guido Tartarotti im Kurier (3.7.2022). Nach der Pause werde die Inszenierung dringlicher. "Von Regie ist dennoch wenig zu spüren (wobei: in Reichenau gilt das als Kompliment), jeder spielt halt so vor sich hin." So bleibe Reichenau ein sicherer "Fluchtweg vor Regietheater und Verstörung".

 

Kommentare  
Die Möwe, Reichenau: Modern
es ist ganz einfach: schaut euch an, seht doch, wie schlecht und langweilig
ihr euer leben führt! - welche inszenierungen des häufig gespielten stückes
entsprechen tschechow?
dieser schreibt in einem brief: "Sie sagen, Sie hätten über mein Theaterstück geweint. Sie sind nicht der einzige. Dazu habe ich sie aber nicht geschrieben.
Stanislawski war es, der sie so rührselig gemacht hat. Ich wollte etwas ganz
anderes. Ich wollte einfach und ehrlich sagen: schaut euch an, sehr doch,
wie schlecht und langweilig ihr euer Leben führt!"
die regieführenden und das publikum wollen immer etwas ganz anderes,
wollen nicht einfach und ehrlich im sinne TSCHECHOWS sein, sondern modern
der Zeit entsprechen . . .
Die Möwe, Reichenau: postdramatische Leben
Wir führen unser Leben vielleicht "schlecht" und nicht recht, aber
l a n g w e i l i g ist es nicht.
Es ist p o s t d r a m a t i s c h e r geworden als in früherer Zeit -
daher funktionieren heutige Regisseure die alten Stücke oftmals auch
post-dramatisch um. Warum sollten sie das nicht tun?
Die Möwe, Reichenau: Schlagwörter
Werter Peintner, das mag ja sein (was weiß ich schon, was "wir" wie führen?). Aber mit der "Möwe" in Reichenau hat das nichts zu tun. Die ist so postdramatisch wie Schlagwörter aussagekräftig sind. Man kann die Inszenierung gut oder schlecht finden, man kann bedauern, dass sie, wie die meisten Tschechow-Inszenierungen, näher an Stanislawski ist als an Tschechows viel zitiertem, aber nicht zwingendem Brief (manche Werke haben gegen ihre Autoren recht). Aber man sollte sie gesehen haben. Ansonsten wird die Rede über Theater zu Geschwätz.
Kommentar schreiben