Ein Humanist

4. Juli 2022. Der Jahrhundertregisseur Peter Brook ist gestorben – ein sanfter Revolutionär, der zum Kern des Theaters zurückfand und unvergessliche Abende schuf. Dabei hatte er mitten im britischen Star-Theater angefangen – und erst in den 1960ern sein Theater entwickelt, in dessen Zentrum Geschichten und das Publikum standen.

Von Marc Zitzmann

Peter Brook und Miriam Goldschmidt bei Proben für "Der Verwaiser" in Neapel, 2013 © Jdsagt

4. Juli 2022. Der Name von Peter Brook evoziert unmittelbar das Théâtre des Bouffes du Nord, seine Pariser Wirkungsstätte. Ein Gefühl von Weite und von Intimität. Gedämpfte Farben: zwischen verblasstem Rostbraun und Bordeauxrot. Nirgends eine Spur von Gold oder Samt; stattdessen verwitterte Wände und schmale, knirschende Holztreppen zu den Rängen. Dort eine fürchterliche Enge, vor allem in der ersten Reihe; im Parkett hingegen, zu Füssen der im Halbkreis angeordneten Sitzreihen, bisweilen dicke Kissen, auf denen ein paar Glückliche sich niederlassen durften. Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen: Der Saal besitzt schon eine gewisse Ähnlichkeit mit den Aufführungen, die darin stattfanden – eine Mischung aus asketischem Ästhetizismus und sublimierter Sinnlichkeit.

Er hat die Ausdrucksmittel der Theaterkunst quasi neu erfunden

Brooks späte Inszenierungen hatten etwas Bescheidenes, Unspektakuläres; sie gingen direkt zur Sache, waren nicht antiintellektuell, aber sozusagen unintellektuell – das Gegenteil von "Regietheater“. Von "Absichten" oder "Konzepten" war bei diesem Regisseur nie etwas zu spüren, vielmehr ließ er die Stücke sich gleichsam organisch entfalten, ohne Effekthascherei oder Originalitätssucht. Seit den neunziger Jahren eignete praktisch all seinen Produktionen Kammerspielcharakter – sei es, dass sie von vornherein nur eine Handvoll Figuren aufboten und von beschränkter Aufführungsdauer waren, wie "L'Homme qui" oder "Je suis un phénomène"; sei es, dass Brook zusammen mit seinem Texter und Übersetzer Jean-Claude Carrière Klassiker so adaptierte, dass sie jedem Publikum verständlich (und kurzweilig) vorkamen – so etwa im Fall seiner Shakespeare-Aufführungen "Der Sturm“ und "Hamlet". Nebenfiguren und -episoden wurden gestrichen, dunkle Passagen und Wortspiele vereindeutigt, die narrativen Hauptstränge freigelegt mit dem Ziel, die Zuschauer möglichst nah an die eigentliche Geschichte heranzuführen.

Überhaupt: "Zuschauer" und "Geschichte" – die beiden Kernbegriffe von Brooks Theaterphilosophie. Im Zentrum seiner lebenslangen Suche stand der immaterielle, magische Mechanismus, der den Funken von der Bühne in den Saal überspringen lässt, von den Schauspielern zum Publikum und vom gedruckten Text ins Herz und Hirn der Zuschauer. Wichtiger als alles andere war es ihm, eine Handlung klar und plastisch zu vermitteln. Im Lauf jahrzehntelangen Experimentierens mit improvisierten Auftritten vor afrikanischen Dorfbewohnern oder Schulklassen in der Pariser Banlieue hatte er die grundlegenden Ausdrucksmittel der Theaterkunst quasi neu erfunden: Pantomime, Gesang, Lautsprache, Anrede eines imaginären Widerparts im Saal . . . „Le Costume“ nach Can Themba veranschaulichte dies 1999 geradezu idealtypisch: Die Schauspieler stickten da unsichtbare Kleider, ahmten das Aufzischen einer Gasflamme nach, hielten sich in einem Phantombus an nichtexistenten Handgriffen fest oder erweckten den titelgebenden grauen Zweiteiler pantomimisch zum Leben.

Stars, Stars, Stars

Freilich täte man Brooks Kunst und Können Unrecht, wollte man sie lediglich in einem Katalog dramaturgischer Kniffe resümieren. Begonnen hatte der 1925 in London geborene Regisseur als Shootingstar des kommerziellen britischen Theatersystems. Mit Shakespeares "Love's Labour's Lost" in Stratford gelang ihm bereits 1946 ein Saisonhit, der weitere Einladungen an das renommierte Festival nach sich zog und die Türen der Londoner Privattheater öffnet. Bis 1963 wurde Brook zum brillantesten Exponenten eines Systems, dessen Grundpfeiler "kurze Probenzeit", "Rentabilität" und "Starsystem" hießen. Denkbar eklektisch sein frühes Repertoire: Neben Werken von Shakespeare fanden sich da brandneue Erfolgsstücke von Anouilh, Miller und Sartre sowie Petitessen wie eine Komödie über Steuerbetrug oder das Musical "Irma la Douce".

Zwei Charakteristika unterschieden diese erste Schaffensperiode von der Zeit nach 1963: die starke Betonung des Visuellen – der Regisseur war lange Zeit sein eigener Bühnenbildner – und das Arbeiten mit Stars. Brooks frühe Besetzungen lesen sich mit Namen wie John Gielgud, Alec Guinness, Vivien Leigh, Laurence Olivier, Paul Scofield und Sybil Thorndike wie ein "Who's who" des angelsächsischen Theaters. Dank seiner Vorliebe für skandalträchtige Werke wie Sartres "La Putain respectueuse" oder Williams' "Cat on a Hot Tin Roof" galt der Regisseur zudem als fashionable – bei Premieren saßen etwa Rita Hayworth oder Marilyn Monroe im Saal.

Ein Theater der Grausamkeit

Im Herbst 1963 gab die Londoner Royal Shakespeare Company Brook die Gelegenheit, mit zehn jungen Schauspielern drei Monate lang zu experimentieren. So begann ein Prozess, der den Regisseur nicht nur vom kommerziellen zum subventionierten Theater führen, sondern ihn auch die Grundlagen seines Metiers hinterfragen lassen würde. Die Experimente stellte Brook unter den Titel "Theatre of Cruelty", was auf Antonin Artauds Intuition einer nonverbalen Bühnensprache verwies. Diesem und späteren Workshops entsprangen Produktionen, die Theatergeschichte machten: "Marat/Sade" von Peter Weiss (1964) als gewalt- und schockhafte Phänomenologie des Wahnsinns, das Kollektivwerk "US" (1966) als Stellungnahme zum Vietnam-Krieg, Senecas "Oedipus" (1968) als postmodernes Ritual mit Versatzstücken von der Antike bis zum Variété, Shakespeares "Midsummer Night's Dream" (1970) als Zirkustraum in Weiß.

Nach der Gründung des Pariser Centre International de Recherche (1970) befasste sich Brook zunehmend mit fernöstlichen Mythen. So kam es 1971 in den Ruinen der iranischen Königsstadt Persepolis zur Aufführung von "Orghast", einem Stück in Lateinisch, Altgriechisch, Avesta – einer persischen Ritualsprache – und einem eigens von Ted Hughes erfundenen Idiom. Wenig später folgte "The Conference of the birds" nach einem Klassiker des Sufismus: die Parabel einer Reise zur Erleuchtung, deren feurige, lyrische oder volkstümliche Episoden in improvisierter Form gespielt wurden. Brooks Opus magnum war jedoch – zumindest von der Aufführungsdauer her – das 1985 in Avignon präsentierte, rund neunstündige "Mahabharata". Die Adaptierung des indischen Epos‘ bildete den ambitiösen Versuch, fernöstliche Atmosphäre, Sinnlichkeit, Poesie und Grandeur zu evozieren, ohne auf exotischen Pomp, Deklamationsstil und Weihrauchstäbchen zurückzugreifen. Emblematisch war die ethnische Durchmischung der Truppe, von der etliche Mitglieder Langzeitgefährten des Regisseurs wurden – so Maurice Benichou, Sotigui Kouyaté, Bruce Myers, Yoshi Oida und Bakary Sangaré.

Viele seiner Filme basieren auf Theaterproduktionen

Doch nicht nur als Theater-, auch als Opernregisseur hat Brook Bedeutendes geleistet. Mehr noch als seine frühen Produktionen in London und New York oder der späte "Don Giovanni" in Aix-en-Provence (1998) haben "La Tragédie de Carmen" nach Bizet (1981) und "Impressions de Pelléas" nach Debussy (1992) Neuland erschlossen. Das Orchester wurde da auf fünfzehn Instrumentalisten beziehungsweise zwei Pianisten reduziert, die Handlung auf die beiden Trios Carmen, Don José und Escamillo bzw. Pelléas, Mélisande und Golaud fokussiert. So ergaben sich eine intimistische Feinzeichnung und – namentlich bei "Pelléas" – ein duftiges, atmosphärisch reiches Beziehungsgeflecht, dessen subkutane Wirkungskraft durch die zeichenhaften Dekors von Chloé Obolensky, Brooks langjähriger Bühnenbildnerin, noch potenziert wurde.

Nicht zuletzt hat sich Brook auch als Cineast profiliert. Viele seiner Filme basieren auf Theaterproduktionen; unter den eigenständigen Arbeiten genießen etwa "Lord of the Flies" (1963) nach William Golding oder "Moderato Cantabile" (1960) nach Marguerite Duras – dessen neutrale, quasi dokumentarische Kameraführung Techniken der Nouvelle Vague antizipiert – die Wertschätzung von Cinephilen. Brooks vielleicht fesselndster Film ist jedoch der "King Lear" von 1971, in dem Paul Scofield als cholerischer Starrkopf durch eine Welt aus Kälte und animalischer Grausamkeit taumelt. Die visuelle Behandlung der Sturmszene mit ihrem halluzinatorischen Wechsel aus flauen Lichtschlieren und Augenblicken völliger Schwärze, den aufblitzenden Bildern toter Ratten und der nackten, regentriefenden Leidensmannsgestalt des Poor Tom dürfte einem so ziemlich jede Theateraufführung verleiden. Die differenzierte Charakterzeichnung der "bösen" Lear-Töchter Regan und Goneril führt zudem vor Augen, dass nicht nur der Autor des Textes, sondern auch sein kongenialer Regisseur die Fähigkeit besaß, den Standpunkt jeder Figur einzunehmen, nicht nur den des Titelhelden.

So war Peter Brook, der große Destillateur des Reinen und Wahren – seine beiden Lieblingswörter –, letztlich auch ein Humanist. Der Relativität des Allzumenschlichen begegnete er mit aufmerksam-distanziertem Verständnis. Am 2. Juli ist er in Paris im Alter von siebenundneunzig Jahren gestorben.

Marc Zitzmann studierte in Paris und Hamburg Literatur- und Musikwissenschaft, bevor er sich in der französischen Kapitale zum Journalisten ausbilden ließ. Zwischen 1997 und 2017 berichtete er als Kulturkorrespondent für die Neue Zürcher Zeitung über Frankreich. Seitdem schreibt er von Paris aus vor allem für die FAZ und die WOZ.

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Peter Brook: Fail again. Fail better.
Zwei Anekdoten

„Glückliche Tage“ von Samuel Beckett in der Kaserne Basel 2003. Miriam Goldschmidt spielte die Winnie, Wolfgang Kroke den Willie. Bei den Endproben wollte Peter Brook, dass ich, sein Assistent, immer direkt rechts neben ihm sitze. Wenn etwas nicht funktionierte, spürte ich sofort einen scharfen Seitenblick von links. Meist vermied ich es dann ihn anzusehen und zog nur Schultern und Augenbrauen hoch. Der erste Durchlauf des ganzen Stücks am Vortag war gelinde gesagt eine Katastrophe gewesen. Der heutige zweite verlief erstaunlich reibungslos. Am Ende der scharfe Seitenblick von links: „How was it?“ – „I think, it was … good.“ – „No. It wasn’t good. Let’s say, it was … better.” Nächster Tag, dritter Durchlauf. Wieder der scharfe Seitenblick von links: “How was it?“ – „I think, it was … better.“ – „No! It was good!”

“Glückliche Tage” in Basel, erster Durchlauf des ersten Akts. Am Ende die Frage von Brook: „How long was it?“ – „Seventy minutes.“ – „Oh, that’s too long. Make it fifty.” – “???” – “Tomorrow I will leave for Paris, and when I’m back in three days, you will have made it fifty.” – “Ah … thank you for your … confidence, Peter.” – “Courage! But don’t make any cuts!” In den folgenden zwei Tagen schufteten Miriam, Wolfgang, Nicole, die andere Assistentin, und ich wie Berserker, den ersten Akt um zwanzig Minuten zu komprimieren, ohne zu streichen und immer eingedenk der Weisung Brooks, jeder Ton sei gleich wichtig, wie bei einer Mozartsonate. Am dritten Tag kam er aus Paris zurück, erneuter Durchlauf, am Ende die Frage: „How long was it?“ – „Fortynine minutes and fifty seconds!“ – „Ah, that’s too short! Make it sixty.“
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