Im Bann der Erinnyen

8. Juli 2022. Seit einer Spielzeit wirken René Pollesch und sein hinter den Kulissen werkelndes Leitungsteam an der Berliner Volksbühne. Etliche Kritik haben sie einstecken müssen: zu wenig los auf der Bühne. Zu viel Pollesch, leerer Saal und obskures Programm. Eine Bilanz zum Ende der Saison 2021/22.

Von Janis El-Bira und Esther Slevogt

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit Bert Neumanns Räuberrad und einem Slogan der ersten Pollesch-Spielzeit © Thomas Aurin

8. Juli 2022. Sie ist noch immer das Theater in Berlin, das in der Stadt die meisten Affekte auslöst, auch wenn hier genau genommen gerade nicht viel passiert: die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Hier scheiden sich die Geister, hier schreiben sich Kritiker:innen in Rage. Zuletzt provozierte Neu-Intendant René Pollesch gar den Ruf nach staatlicher Kontrolle: Weil er nicht nur am eigenen kriselnden Haus, sondern auch anderweitig in Berlin inszeniert. Am Deutschen Theater nämlich, das Pollesch Obdach gewährte, als er in Berlin nach der mutwilligen Zerstörung der Castorf-Volksbühne keine künstlerische Heimat mehr hatte und nun gegenüber dem DT nicht wortbrüchig werden wollte. Pollesch, der nach dem langen Krieg um die Volksbühne auch als eine Art Heiler der Wunde berufen worden war, die diese Zerstörung hinterlassen hat.

Rekonstruieren lässt sich die alte Marke Volksbühne nicht so leicht

Aktuell aber wirken diese Heilungsversuche wie retardierende Kräfte. Ein Zurück führt eben höchstens im Film in die Zukunft. Im Berlin dieser Tage dagegen wird deutlich, dass sich die alte Marke Volksbühne nicht so leicht rekonstruieren lässt. Zwar steht Bert Neumanns Räuberrad wieder vor dem Haus und wurde in einer Pixelvariante auch als (neues) Logo reanimiert, samt dem restlichen Corporate-Design von Flyern bis zu Programmzetteln auf Papier mit Ost-Anmutung. Und René Pollesch inszeniert wieder René Pollesch.

Aber im Grunde fingen die Probleme seiner Intendanz mit dem Reanimationsversuch der Marke an: weil nämlich Vegard Vinge und Ida Müller von der Stange gingen, bevor sie überhaupt begonnen hatte – Ida Müller, die als Chefbühnenbildnerin eigentlich auch für die Kommunikation des Hauses zuständig sein sollte, hatte nämlich keine Lust, unter dem Diktat einer Reanimation zu stehen. Jetzt ist zwar die Marke wieder da, aber sonst eben nicht sehr viel. Es fehlt zum Beispiel Frank Castorf, der mit seinen wuchtigen und weit in die Geschichte und die sie formatierenden Ideologien ausholenden Inszenierungen ja eine zentrale Säule dieser Marke war.

In einen Kunstbegriff gebannt: die radikalen Kräfte der Geschichte

Vielleicht muss man sich aber auch noch einmal vergegenwärtigen, worin die Wirkmacht dieser Marke jenseits von Frank Castorf bestand. Denn diese Marke hatte eine Art Bannmeile um die Volksbühne gezogen, welche die radikalen Kräfte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, samt seiner Katastrophen in einen Kunstbegriff bannte. Bert Neumann und seine, gemeinsam mit seiner Frau Lenore Blievernicht betriebene, Agentur LSD hatte verstanden, die Botschaften der Bühne in Zeichen und Ästhetiken von Druckerzeugnissen zu übersetzen und ihren Sendungsraum damit auszudehnen – in einem sehr speziellen Mix aus Werbung und Agitprop, rasender popkultureller Zeichenproduktion und ihrer Verweigerung.

ServiceNoService 560 LenoreBlievernicht hBert Neumanns Bühnenraum für Frank Castorfs "Dämonen" 1999. Szene mit Bernhard Schütz im Vordergrund. © Thomas Aurin

Die Marke Volksbühne bannte so auch viele Themen, Kräfte, Stoffe und Perspektiven, die im neuen Deutschland nach 1990 keinen Platz gefunden hatten. Offene Fragen der Geschichte, um deren Beantwortung sich damals im rasenden Vereinigungsprozess, der so vieles plattwalzte, niemand kümmerte. Als die Marke von der Politik zerstört wurde, wurden all diese Kräfte obdachlos. Seitdem schwirren sie wie heulende Erinnyen ums Haus.

Der Fluch des langen Ruhms

Unter ihnen sind unweigerlich auch die politischen Anheizer:innen. Das einst vom "Arbeitergroschen" finanzierte Haus am Rosa-Luxemburg-Platz war sowieso zu allen Zeiten Politikum. Mit der Intendanz Pollesch verband sich nach der missglückten Neuerfindung unter Chris Dercon und der auf Stadttheater-Normaltemperatur köchelnden Amtszeit seines Nachfolgers Klaus Dörr auch die Hoffnung, den alten Kampfplatz mitten in Mitte neu zu begründen. Die Volksbühne, wird dann immer wieder behauptet, sei eben "kein Theater wie jedes andere": Der Fluch des langen Ruhms, den manche inzwischen wohl gerne loswürden.

Man merkte dieses Streben nach der großen Bedeutsamkeit jenseits der Bühne auch den ersten Monaten der Pollesch-Intendanz an, als man sich etwa öffentlichkeitswirksam mit der Berliner Krankenhausbewegung solidarisierte. Eingefädelt wurde die Aktion damals dem Vernehmen nach vom Kollektiv Staub zu Glitzer, das seit seiner mittlerweile legendären Besetzung des Hauses im Jahr 2017 die Volksbühne vor sich hertreibt.

Die Gruppe versteht die Volksbühne als theatrales und soziologisches Riesenexperiment, von dem sich absehbar ein alternatives Theatermodell abpausen lassen soll. Allerdings, so hört man, sei die Liebe mittlerweile ziemlich erkaltet, die Beziehungen zu Staub zu Glitzer köchelt zurzeit auf Sparflamme.

Rauflustig wie Castorf sind sie nicht

Das mag auch damit zu tun haben, dass die Menschen, denen man dieser Tage in den Büros und auf den Fluren der Volksbühne begegnet, allesamt reizend nette Gesprächspartner:innen sind. Die Tatsache, dass man für die Eröffnungssaison ursprünglich mehrere Premieren für die letztlich nicht fertiggewordene Prater-Bühne geplant hatte, habe man bei der Spielplanvorstellung verschweigen wollen, weil eben nicht schön sei, gleich mit einem solchen Dämpfer beginnen zu müssen. Spricht man mit den Mitarbeiter:innen auch in den Leitungspositionen, dann wirkt das, als habe man sich den Spaß an der neuen Aufgabe nicht verleiden lassen wollen – auch um den Preis, dass viele sich fragten, weshalb insgesamt so wenig und dann so überproportional viel vom neuen Intendanten in dieser ersten Saison zu sehen war. Den Ruf zur Revolution oder auch nur zur großen politischen Geste wird man aus diesen Mündern jedenfalls eher nicht hören.

Volksbuehne Eingang ThomasAurin uEin Tor zu den heiligen Hallen am Rosa-Luxemburg-Platz © Thomas Aurin

Zu tun haben dürfte das auch mit der Tatsache, dass mit René Pollesch ein Name über dem ganzen "Projekt" steht, der zwar zum innersten Kreis der alten Castorf-Volksbühne zählte, sich an dieser aber mit seiner diskurslastigen Pop-Ästhetik eben auch bestens reiben konnte. Pollesch ist in seinem Kunst- und Gesellschaftsverständnis womöglich viel näher an seinem Vor-Vorgänger Chris Dercon als viele glauben mögen. Rauflustig wie ein Castorf war er zumindest auch früher schon nicht. Einem so verbindlichen Menschen gelingt es indes eventuell schlechter, durchzuregieren und die Geister zu bannen.

Kokettieren mit dem bösen Denken?

Dass die Volksbühne ein Extremismusproblem habe, hörte man über die vergangenen Monate mutmaßen, und dass die bis vor kurzem regelmäßig vor dem Haus aufmarschierenden Hygienedemos durchaus Sympathisanten hinter den dicken Mauern des Theatertankers hätten. Manch fragwürdige Position habe es sogar mehr oder minder klandestin ins Programm der Volksbühnen-Salons und damit indirekt auf den Spielplan geschafft. Unter Frank Castorf gab es dieses Kokettieren mit dem bösen Denken auch schon, nicht umsonst hing im Intendantenzimmer das berüchtigte Stalin-Porträt. Damals allerdings schien sich das Extreme auf der Bühne erschöpfen zu dürfen, bis es für die Welt draußen unschädlich geworden war.

In René Polleschs exzessferner Ästhetik bleibt das politisch Unsublimierte ausgesperrt und klopft von dort umso lauter an die Tür. Drinnen steht im Intendantenzimmer der enorme Intendanten-Schreibtisch mit seinen chaplinesken, an den Film "Der große Diktator" erinnernden Ausmaßen, verlassen da und verbreitet ein wenig die Anmutung eines Altars. In Schatten dieses Riesentischs finden am runden Tisch im vorderen Teil des Raums nun Besprechungen des Leitungskollektivs statt. Aber in seinem Schatten eben.

Mitten ins Herz des Zweifels: "Geht es Dir gut?"

Trotzdem verdankt diese Berliner Spielzeit der Volksbühne eine ihrer vielleicht schönsten Inszenierungen: "Geht es Dir gut?", René Polleschs und Fabian Hinrichs "Litanei der Erschöpfung" (Christine Wahl) – nach zwei Corona-Jahren, aus denen wir voller Schrecken in der Klimakrise und einem neuen Krieg erwachten. Wie Hinrichs und Pollesch da völlig ohne den Panzer eines Kunstbegriffs mitten ins Herz des Zweifels trafen, das war groß – auch inmitten der Bilder, die auf Katrin Bracks leergefegter Bühne dafür gefunden wurden: mit einer Rakete, die rauchend Richtung Bühnenturm abhebt, oder der Nussschale, in der Hinrichs irgendwann sitzt wie das Kind Moses auf dem Nil. Es leuchtete kurz auch die Utopie eines anderen Theaterbegriffs auf: das Haus als Plattform auch denen zu geben, die sonst nicht so leicht sichtbar sind: Jugendlichen der HipHop-Akademie oder Chören marginalisierter Communities. Sie führten der existenziellen Müdigkeit, die Pollesch und Hinrichs da in so elegischen wie ergreifenden Schleifen zelebrierten, gehörige Portionen an Frischluft zu.

GehtesDirgut1 805 Thomas Aurin uFabian Hinrichs, unterwegs in den Theaterolymp © Thomas Aurin

Dieser Abend aber blieb singulär in dieser Spielzeit mit ihren vielen anderen Pollesch-Inszenierungen, die angesichts fehlender künstlerischer Kontrastmittel in der Summe etwas monoton daherkamen. Zwar gab es Florentina Holzingers wüste, aber auch dramaturgisch disparate "Divine Comedy", Kornél Mundruzcós parabelhafte Schilderung einer Familienhölle unter den Auspizien der totalen neoliberalen Verwertbarkeit, "MiniMe". Mit Julian Gosselin trat dann schon fast am Ende der Spielzeit ein Regisseur auf den Plan, der ganz offenbar die Leerstelle Castorf füllen sollte – mit seinem multimedialen zeiten- und epochenumspannenden Schlachtengemälde aus deutscher Diskursgeschichte "Sturm und Drang" – einem Abend, der in seinem Drängen nach Größe viel Hohlraum produzierte.

Und wenn die nächste Spielzeit beginnt, sind dann am Ende selbst die Erinnyen weitergezogen? Dann wird es still am Rosa-Luxemburg-Platz. Oder es wird allmählich eine neue, eigene Stimme zu vernehmen sein.

 

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Polleschs Volksbühne: Das Ende von Marlboro
Es ist wie bei der Klimakrise. Der Kipppunkt der Volksbühne ist seit langem überschritten. Heute ist die beste Pollesch oder Castorf Inszenierung die, die man nicht gesehen hat. Ansonsten würde man nur noch an eine Totgeburt glauben. Alle wollen etwas anderes sehen. Dieses imaginäre Wir hat sich längst von der Volksbühne verabschiedet und kann nicht mehr reanimiert werden. Das Ende von Marlboro liegt, was das Theater betrifft, hinter uns. Diese Marke ist tot. Man muss die Seile kappen und das Holzbein der Piraterie abschnallen. Zähneklappern hilft nicht mehr. Suchen sie bei den zwanzigjährigen. Vielleicht finden sie dort etwas Neues.
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