Schlecht gedichtet, gut belichtet

14. Juli 2022. Das Stück ist ein Kritiker-Flop? Die Handlung um böse Zauberschwestern und minderbegabte Dichter kommt so haarsträubend daher, dass das Publikum sich in der Pause den Kopf freitrinken muss? Macht nichts! Denn die Sensation des Abends ist der Regisseur: Achim Freyer!

Von Martin Thomas Pesl

Ferdinand Raimunds Stück "Die gefesselte Phantasie" in der Regie von Achim Freyer bei den Raimundspielen Gutenstein © Joachim Kern

14. Juli 2022. Vor drei Jahren war es der Autor, der hier aufhorchen ließ: Die Raimundspiele Gutenstein zeigten erstmals seit ihrer Gründung 1993 nicht ein Stück von Ferdinand Raimund, sondern eines über den hier begrabenen Altwiener Volksstückdichter, in Auftrag gegeben bei Felix Mitterer. Die Hauptrolle hatte Johannes Krisch, damals Burgschauspieler. Inzwischen ist Krisch in Wien umgezogen – ins Ensemble des Theaters in der Josefstadt – und hat in Gutenstein die Intendanz übernommen. Nun ist der Regisseur die Sensation: Es ist der legendäre Bühnenbildner, Maler und Opernregisseur Achim Freyer.

Das Stück ist da fast egal. Es handelt sich um das Original-Zauberspiel "Die gefesselte Phantasie", Raimunds viertes Werk, 1828 als Benefizveranstaltung für den Dichter in Wien uraufgeführt und ein Kritiker-Flop. Es hieß, dem Verfasser fehle das Talent für den hohen Ton, realistischere Szenen gelängen ihm viel besser. Dennoch kam Raimund anders als sein Kollege Nestroy nie so ganz von den in Feenwelten angesiedelten, abgehobenen Fantasieerzählungen ab.

Zu schlecht zum Heiraten

Die Handlung von "Die gefesselte Phantasie" ist jedenfalls so haarsträubend (und wurde obendrein bis zur Konfusion zusammengestrafft), dass das Premierenpublikum eine 45-minütige Pause zwischen den jeweils ebenso langen Aufzügen brauchte, um sich den Kopf freizutrinken: Hermione, Königin der von lauter begabten Dichtern besiedelten Insel Flora, soll einen Ehemann wählen. Sie schreibt dazu einen Dichterwettstreit aus und hofft, der von ihr angebetete Hirte Amphio werde diesen gewinnen. Die bösen Zauberschwestern Vipria und Arrogantia jedoch nehmen die poetische Phantasie gefangen. Plötzlich ist ein tölpelhafter "Harfenist", also ein Wirtshausmusikant aus der Wiener Vorstadt (seinerzeit die Raimund-Rolle) der Einzige, der ein Gedicht zustande bringt. Leider ist es zu schlecht zum Heiraten. Da kann nur ein Deus ex machina helfen.

Fantasie3 Joachim KernWenn schon schlechtes Theater, dann bitte so optisch formvollendet wie hier! © Joachim Kern

Im Original ist dieser Gott Jupiter, in Gutenstein fällt am Ende der Schöpfer Raimund vom Himmel. Will sagen: dessen Porträtzeichnung, die die ganze Zeit über der Bühne hing – die Chance eines Auftritts von mindblowender Metamäßigkeit in seiner Rolle aus 2019 hat Johannes Krisch nicht ergriffen. Das wäre der Ernsthaftigkeit von Achim Freyers Arbeit auch nicht gerecht geworden. Der 87-jährige Meister, so erfuhr man zuvor, verbrachte die Premiere im Krankenhaus von Wiener Neustadt. Das ist wirklich schade, Freyer hätte seine Freude an den szenenapplausfreudigen Gutensteiner Zuschauer:innen gehabt.

"Freyer" ist keiner!

Man kann sich kaum jemanden vorstellen, der das seltsame Pflichtprogramm der Raimund-Pflege produktiver – freyer! – zur Entfaltung der eigenen Kreativität genutzt hätte. Der Eindimensionalität der Figuren begegnet er mit einer Ästhetik der Zweidimensionalität, ein Robert Wilson in bunt. Das Theaterzelt ließ Freyer schon im Frühling außen mit Farbklecksen verschönern, nun wurde auch die breite, aber niedrige Bühne mit projizierten Silhouetten, Blumenaquarellen und Lichtspielen beschenkt.

Fantasie4 Joachim KernEin Robert Wilson in bunt: Achim Freyer begegnet der Eindimensionalität der Figuren mit einer Ästhetik der Zweidimensionalität © Joachim Kern

Und mit Kostümen! Die Königin hat nicht nur auf dem Kopf eine Krone, sondern auch eine um den Hals. Die Schleppe ihres roten Kleides scheint bis in die Unendlichkeit zu reichen. Als Narr bimmelte Johannes Krisch mit Klumpfuß, Tschako und trauriger Theatermaske anfangs zum Einlass. Seine trockenen Kommentare konterkarieren das rundum herrschende Pathos ebenso durch "tiafes" Wienerisch wie die Rüpelszenen mit Eduard Wildner als Harfenist Nachtigall – aus dessen Hut ein Schnabel wächst.

Ästhetisch vollende Schmachtszenen

In der Wirtshausszene, die in der Wiener Vorstadt und nicht im Feenreich spielt, ist das Personal schwarz vermummt, nur einzelne weiße Accessoires markieren Koch und Kellnerin. Ästhetisch vollendet die Schmachtszenen zwischen Hermione und ihrem Hirten. Formstreng selbstvergessen schreitet Larissa Fuchs auf der Bühne von links nach rechts, während sich Tobias Reinthaller gegenläufig vom rechten Publikumsausgang zum linken bewegt. Die Blicke sind stets nach vorn gerichtet, Live-Musiker Franz Haselsteiner gibt das entzerrte Tempo vor. Eingespannt ist der Hirte in eine Reihe weißer Luftballons, an deren Spitze eine genialische Radkonstruktion so aussieht, als zögen drei höchst agile Schlittenhunde eine lebensgroße sprechende Pappfigur durch dieses Theater.

Das synästhetische Bombardement aus Freyers Repertoire nimmt kein Ende. Das macht noch lange kein gutes, geschweige denn relevantes Stück. Aber wenn man sich schon vorgenommen hat, auch die schlechteren Raimunds irgendwann zu spielen, dann bitte gerne so.

 

Die gefesselte Phantasie
von Ferdinand Raimund
Regie: Achim Freyer, Kostüme: Achim Freyer, Vanessa Achilles-Broutin, Musik: Matthias Jakisic, Tommy Hojsa, Dramaturgie: Jacqueline McNichol.
Mit: Larissa Fuchs, Tini Keinrath, Michaela Klamminger, Johannes Krisch, Tobias Reinthaller, Johannes Seilern, Eduard Wildner, Live-Musik: Franz Haselsteiner
Premiere am 13. Juli 2022
Dauer: Zwei Stunden, eine Pause

www.raimundspiele.com

 

 Kritikenrundschau

"Bilderdienst nach Vorschrift" sah Ronald Pohl vom Standard (14.7.22) in Gutenstein. Achim Freyer, "einer der raren Bilderfinder des deutschsprachigen Theaters", entwickele für Raimunds Figuren keine Auftritte, sondern verwandele "Fleisch und Blut in Pappmaché und Kreidestrich".

"Logisch muss, ja: soll hier nichts sein, lieber träumerisch", schreibt Thomas Kramar in der Presse (14.7.22, €). Achim Freyer inszeniere das Raimund'sche "Zauberspiel" gelungen und "liebenswert" als "kindliche - nicht kindische! – Märchenwelt".

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