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15. Juli 2022. Die Installation von Rimini Protokoll in der Mannheimer Kunsthalle eröffnet ein Panorama diverser Perspektiven, die sich normalerweise in der Anonymität der Großstadt verstecken. Das Publikum wird nicht nur zum Flanieren und Beobachten, sondern auch zum Performen und Selbst-Offenbaren gebeten.

Von Steffen Becker

"Urban Nature" © Christian Kleiner

15. Juli 2022. Hassen Sie Ihren Job? Haben Sie schon mal jemandem die Fresse poliert? Rimini Protokoll wollen es wissen. Mit seiner Installation "Urban Nature" schickt das Theaterkollektiv uns durch die Kunsthalle Mannheim (koproduziert vom Nationaltheater Mannheim). In einen Stadtdschungel, der uns mit unbekannten Perspektiven und unseren Dämonen konfrontiert. Zum Auftakt zitiert der örtliche OB den Soziologen Georg Simmel zu Urbanität: "Wir können gut miteinander leben, weil wir uns nicht nahe kommen". Rimini Protokoll mag dieses Postulat nicht akzeptieren und komprimiert den urbanen Raum auf die Fläche einer Sonderausstellung.

Gruppen à 10 Menschen werden zusammengewürfelt und erleben Stadt aus der Sicht eines Start-Up-Schwadroneurs, einer Immobilieninvestorin, einer Obdachlosen, eines Gefängniswärters, einer Bullshit-Job-Mutter und einer herumstreunenden Jugendlichen. Ausgerüstet mit Zeit-Slot-Karte sitzen wir an einer fancy Bar, legen uns in die Betten einer Notunterkunft, päppeln Cannabis-Pflanzen - und müssen uns per Handzeichen voneinander erzählen. Wer lebt in einer Stadt? Okay, und wer hätte gerne ein Haus im Grünen auf dem Land? Ziemlich deckungsgleich! Ertappt, Enric, ein pensionierter Umwelthistoriker erzählt von der Leinwand des ersten Raumes herab, dass es eben dieses Streben nach Natur ist, der sie ruiniert - durch Flucht in die Vorstädte mit all ihren ruinösen Konsequenzen.

Performing Obdachlosigkeit

"Urban nature" beschallt das Publikum aber nicht nur, Rimini Protokoll macht uns zu Akteuren. Ein Auserwählter – in diesem Fall der Rezensent – wird mit Kopfhörer und Tablet bewaffnet, muss parallel zu den Einspielern in die Rollen der realen Protagonisten schlüpfen. Der Rest der Gruppe schaut auf Leinwände, ich auf ein Endgerät, das die First-Person-Perspektive eines Darstellers wiedergibt. Als dieser User geht man auch andere Wege durch "Urban nature" (auch wenn die Gefahr außerhalb von Eröffnungen gering ist – ich rate, nicht unmittelbar davor zwei Gläser Wein zu kippen, die Konzentration wird stark gefordert).

Urban Nature 4 805 Christian Kleiner uStadtflucht oder Landsehnsucht? "Urban Nature" © Christian Kleiner

Während irgendeine andere Gruppe die Matratzen im Obdachlosenasyl testet, sagt die Stimme im Ohr, dass ich zwischen den Betten eine Plastiktasche greifen soll. Ich gehe in den nächsten Raum, vorbei an einer anderen Station, einer anderen Gruppe, die gerade in einer anderen Geschichte drin ist. Sie schauen mich irritiert an. Der Kopfhörer sagt, ich soll so tun, als wäre ich ein normales Mädchen. In einem Spiegel sehe ich mich und im Tablet meine Rolle, die sich im gleichen Spiegel betrachtet. Eine junge Geflüchtete auf der Suche nach ihrem Traum. Siham will Stewardess werden und fragt mich vor einer Wand, ob ich glaube, dass sie das schafft. Meine Tablet-Vorgänger*innen haben mit Kreide mehrheitlich Pfeile nach oben an die Wand gemalt. Da sie mir vorher erzählt hat, dass sie als Zwölfjährige aus Marokko nach Spanien kam und mir gezeigt hat, wie man als Obdachlose in einer Bushaltestelle schläft (fluchtbereit!), halte ich den Traum für unrealistisch (Pfeil nach unten).

Kongeniales Kondensat

Mit schlechtem Gewissen nehme ich meiner Ursprungsgruppe trotzdem Boarding-Pässe ab, als sie eine Bar verlassen, in der sie ein Schnösel zugetextet hat über die neue Digi-Ökonomie der Lieferdienste (in der Siham wahrscheinlich enden wird). Als ich nach weiteren Runden in dessen Rolle lande und aus Plastikkeksen, Handy und Mini-Rädern die schöne neue Bestellwelt zusammenmixen soll, reicht mir ein vorausgegangener Tablet-Nutzer im exakt richtigen Moment die letzte Zutat Mensch (eine Playmobilfigur). Die Szene demonstriert die Perfektion, die in "Urban Nature" steckt. Rimini Protokoll, Kunsthalle und Nationaltheater haben ein kongeniales Kondensat von Stadt geschaffen - mit einem umwerfenden Timing.

Die Mischung aus Ausstellung, Performance, Theaterfilm entspinnt ein urbanes Netzwerk aus Oben und unten, mächtig und ohnmächtig: Wir sitzen in einer Gefängniswerkstatt und basteln an Teilen einer Klimaanlage, die uns zuvor noch angenehm gekühlt hat bei einem Büro-Gespräch über 2-Millionen-Portfolios. Ich muss auf einem Mini-Tennisplatz eine tödliche Rückhand vorführen als Demonstration unbedingten Siegeswillens, meiner Gruppe begegnet ein Tennisplatz im Knastmodell wieder. Die Verschränkungen der Protagonisten-Geschichten, die enge Taktung der Begegnung und Interaktion mit Gruppen, die an einer anderen Stelle der Führung stehen, sowie mit den umherschwirrenden anderen Tablet-Usern, die enorme Detailliebe des Bühnenbildes vom gemütlichen Wohnzimmer bis zur Puppenhaus-Skyline, die extra für Mannheim entworfen wurde – man kann nur sagen: Wow, was ein Erlebnis.

Urban Nature 4 805 Christian Kleiner uTennisplatz geht in Knast über © Christian Kleiner

Aber "Urban nature" steht und fällt mit der Beteiligung seiner Besucher*innen. Damit ist nicht nur gemeint, zur richtigen Zeit auf der richtigen Markierung zu stehen. Sondern sich auch jenseits sozialer Erwünschtheit zu äußern. In meiner Gruppe sagen zum Beispiel alle, dass sie ihren Job lieben, während eine Grafikdesignerin ihnen erzählt, dass sie auf Cannabis-Züchterin umgesattelt hat (in Kunsthallen-echt ist es dann leider nur Efeu). Also alle glücklich, in einer zehnköpfigen Gruppe? Wohl kaum realistisch. Zu zögerlich und vorher umherschauend auch die Handzeichen.

Klischees schaffen Distanz

Die Zurückhaltung mag erklärlich sein, weil die Protagonisten der Inszenierung teilweise arg überfrachtet daherkommen. Es sind laut Programmheft Zusammenschnitte von Figuren, die Rimini Protokoll seit Jahren begleiten. Auch wenn die Figuren also keine Mannheimer Schöpfungen sind – mit dem Bühnenbild und den lokal produzierten Filmaufnahmen haben Nationaltheater und Kunsthalle viel lokales Flair eingefangen. Trotzdem wirken die Aufnahmen überspitzt; etwa einer Finanzberaterin, die im biederen Kostüm und strenger Frisur sinniert über Geld, Macht und Gewinnen. Klischees unterhalten, aber sie schaffen auch Distanz zum Ganzen.

Wobei gerade diese Figur im Schlussraum die perfekte Zusammenfassung liefert. Während der Corona-Lockdowns habe sie über das Leben nachgedacht, versucht, sich in andere Leute hineinzuversetzen und erkannt, wie privilegiert sie sei – nur halt ohne Konsequenzen. Und so verlässt man "Urban Nature" auch. Bereichert von anderen Perspektiven und bereit, diesen perfekten Spaß mit einem Chardonnay aufs Haus zu feiern.

Urban Nature
Konzept, Text und Regie: Rimini Protokoll - Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel
Konzept und Szenografie: Dominic Huber
Dauer des Rundgangs: 70 Minuten

https://www.nationaltheater-mannheim.de
https://www.kuma.art

Kritikenrundschau

Von einem "Crashkurs in Sozialkunde, der aber in merkwürdigen Räumlichkeiten stattfindet", spricht Christian Gampert im Deutschlandfunk (14.7.22) Rimini Protokoll ginge es bei seinem Parcours, der die Zuschauer:innen als "teilnehmende Testpersonen" einbeziehe, um soziale Gegensätze. "Aber richtig berührt hat uns das alles nicht“, konstatiert der Kritiker. "Man fühlt sich wie nach einem Schaufensterbummel: angeregt, aber auch auf Distanz."

Rimini Protokoll schaue auf den Stadtraum und mache Perspektivwechsel möglich, schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz (18.7.22). Der lehrreiche Parcour "Urban Nature" sei zwar kein umwerfendes Erlebnis, Rimini Protokoll gelinge es aber die Blicke der Besucher:innen zu schärfen. "Sein eigentliches Potenzial entfaltet "Urban Nature" aber erst draußen, in der echten Stadt, in der man plötzlich wie durchs Museum schlendert."

Über Kopfhörer und Tablet empfangene, perfekt synchronisierte Klang- und Bewegtbilder führen aus Sicht von Katinka Fischer in der FAZ (6. 8.2022) dazu, "dass analoge und virtuelle Realität kaum mehr zu unterscheiden sind und die einzelnen Parcours-Stationen als solche nicht mehr wahrgenommen werden, sondern fließend ineinander übergehen. Dass die Protagonisten spanische Namen tragen, hat damit zu tun, dass die Inszenierung für Barcelona konzipiert wurde, wo sie vor einem Jahr Premiere hatte, und nun an die Mannheimer Verhältnisse angepasst wurde. Dass die spanische Stadt den Hintergrund der Erzählungen bildet, irritiert dabei nicht im Geringsten. Denn es geht um Themen, die das Dasein auch in jeder anderen Metropole bestimmen: Mi­gration, Globalisierung oder soziale Ungleichheit."

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