Ohne Präliminarien zum Orgasmus

24. Juli 2022. Mit Arthur Schnitzlers Partner-wechsle-dich-Spiel in Franz-Xaver Mayrs Regie katapultiert sich der Gmundner Theatersommer unter der neuen Leitung von Ex-Burgtheater-Chefin Karin Bergmann auf Anhieb in die Oberliga der Sommerfrischetheater – und versucht dabei sogar eine heutige Diskussion der Beziehungsverhältnisse.

Von Gabi Hift

Arthur Schnitzlers "Reigen" in der Inszenierung von Franz-Xaver Mayr bei den Salzkammergut Festwochen Gmunden © Rudi Gigler

24. Juli 2022. "Sehnsucht" und "Verführung" steht in dicken Lettern an den Fenstern des bezaubernden kleinen Gründerzeittheaters in Gmunden am Traunsee. Drinnen steht im rot-goldnen Theaterraum auf der Bühne ein glänzender Plexiglaskubus. Als es beginnt, leuchtet er grün. Aus dem Orchestergraben kriechen unheimliche Gestalten in schwarzen, wehenden Seidenroben, aus den Schlitzen blitzen die Körper nackt. Die Gesichter von Kapuzen verdeckt, kauern sich die unheimlichen Wesen auf einen Haufen, aus dem es lockt: "Komm, mein süßer Engel". Es umgibt sie die Aura des Numinosen.

Hier wird verführt, das spürt man. Nicht nur der Soldat, der jetzt vorbeikommt, erschrickt, sondern auch wir: Ich bin der schöne Engel? So vielversprechend und unheimlich beginnt "Der Reigen" von Arthur Schnitzler. Der Gmundner Theatersommer will sich unter der neuen Leitung der ehemaligen Burgtheaterintendantin Karin Bergmann mit dieser Koproduktion mit dem Landestheater Niederösterreich, wo die Inszenierung ab Mitte September zu sehen ist, sofort in die Oberliga der Sommerfrischetheater hineinkatapulieren. Und – es gelingt!

Frisch funkelnde Dialoge

Vom "Reigen" geht das Gerücht, das Stück lebe immer noch vom Sexskandal von vor hundert Jahren, sei aber in Wirklichkeit verstaubt. Die Inszenierung von Franz-Xaver Mayr – erschaffen zusammen mit seinem Kompagnon Korbinian Schmidt, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet – beweist das Gegenteil. Ihr eignet ein ganz eigener Stil, der strenge Stilisierung und chorische Elemente mit einer feinen, genauen psychologischen Dialogarbeit verbindet. Abstrakte Form, Slapstick und Naturalismus sind verwoben, als bestünde zwischen diesen Stilmitteln nicht der kleinste Widerspruch. Die Schauspieler:innen bilden eine Gemeinschaft, in der jeder auf jede hört, alle miteinander spielen und solistische Höchstleistungen von den Kolleg:innen mitgetragen werden wie Diamanten an der eigenen Hand.

Schnitzlers "Reigen" hat ohnehin schon eine strenge Form: zehn Szenen, zehn wechselnde Paare, in jeder wird Sex angebahnt, der erste Teil spielt "davor", der zweite "danach", und während eine der Beteiligten gern noch mehr hätte, entzieht sich der oder die andere schon und wandert in die nächste Szene. Während sich das von Schnitzler akribisch beobachtete soziale Gefälle tatsächlich innerhalb der letzten hundert Jahre verändert hat (obwohl es keineswegs verschwunden ist), sind die Eitelkeit, die Bedürftigkeit, sind enttäuschte Liebeswünsche, Lebensängste und die verzweifelte Suche nach einem Sinn gleich geblieben; die Dialoge funkeln so frisch, dass man nach jedem zweiten Satz seinen Hut ziehen möchte vor Begeisterung.

Theaterstück "Der Reigen" von Arthur Schnitzler, im Stadttheater Gmunden, in einer Koproduktion mit dem Landestheater Niederösterreich, im Rahmen der Salzkammergut Festwochen Gmunden, am 22.07.2022. Inszenierung: Franz Xaver MayrSo kann`s gehen, wenn das Objekt der Begierde schwächelt: Dorothee Hartinger lässt in der Rolle der Schauspielerin immer neue Akteur:innen als Sexpartner antreten © Rudi Gigler

Das Zusammenspiel der Truppe ist umso bewundernswerter, als sich wohl Coronaerkrankungen reihum durch die Proben gezogen haben. Die hinreißende Elisa Plüss, die erst vor zwei Tagen für eine erkrankte Kollegin übernommen hat, betreibt dieses Wagnis mit adrenalinfunkelnden Augen und genau jenem Übermut, mit dem ihr "süßes Mädl" seine Liebesabenteuer treibt.

Allgemein ist es so, dass Schnitzler sich über die Frauenfiguren weniger lustig macht, weil sie mehr zu verlieren haben in den Sexgeschichten. In den erbärmlichen, eitlen, schaumschlagenden Männerfiguren steckt mehr von ihm selbst, und er behandelt sie gnadenloser – was allerdings auch die lustigeren Texte ergibt: Eine bedauerliche Nebenwirkung seines Versuchs, auf die Diskriminierung der Frauen hinzuweisen.

Und auf den brillanten Dialogen der lächerlichen Männlichkeit katapultieren sich insbesondere Tim Breyvogel als junger Herr und Graf und Sebastian Wendelin als Soldat und Ehemann geradewegs in den Olymp der Komik. Breyvogel veredelt die schnöselige Dummheit zum erotischen Atout. Und Sebastian Wendelin ist wie ein Kind der Liebe von Hans Moser und Fritz the Cat. Übersprungszucker überfallen seinen spillerigen Körper wie Meteoritenschauer aus der fernen Galaxie der Gefühle, wenn etwas anders läuft als geplant.

Spiel`s noch einmal, Graf!

Dorothee Hartinger verkörpert als Schauspielerin die einzige Frauenfigur, die mehr Macht hat als ihre Partner und deshalb auch eine ebenso deutliche – und komische! – Doppelmoral zur Schau stellt. Vorbild war Schnitzlers Geliebte, die Burgschauspielerin Adele Sandrock. Die Szene, in der der Graf in ihr Schlafzimmer kommt und ihr zu langsam ist mit seinen Avancen, lässt sie von immer neuen Schauspieler:innen in der Rolle des Grafen ausprobieren – mit dem Metawitz, dass Hartinger einige der mitwirkenden Student:innen an der MUK Uni Wien tatsächlich unterrichtet.

Breyvogel macht seine Sache schlecht, eine Studentin ist viel überzeugender, aber dann holt sich Hartinger wieder Breyvogel und küsst ihn auf den Mund. Das wirkt sehr stark, weil es bis zu diesem Moment keine erotischen körperlichen Berührungen gegeben hat. Und da spürt man, dass zwischen Körpern noch eine ganz andere Kommunikation stattfindet als über die Sprache.

In den "Intervallen" zwischen dem "Davor" und "Danach" fällt nicht, wie von Schnitzler vorgeschlagen, kurz der Vorhang, sondern eine der Figuren kommt ohne Präliminarien zum Orgasmus. Den spielen sie unterschiedlich, aber immer hart und irritierend, wie das galvanische Zucken von Froschschenkeln. Der Schmerz, der die Gesichter verzerrt, ist echt, ein kleiner Tod – und fremd und traurig, weil jegliche Begegnung zwischen den Körpern davor fehlt.

Theaterstück "Der Reigen" von Arthur Schnitzler, im Stadttheater Gmunden, in einer Koproduktion mit dem Landestheater Niederösterreich, im Rahmen der Salzkammergut Festwochen Gmunden, am 22.07.2022. Inszenierung: Franz Xaver MayrWo zwei sich küssen, wartet schon die Nächste: Dorothee Hartinger und Tim Breyvogel in Schnitzlers "Reigen" © Rudi Gigler

Im Skandalprozess 1921 haben Menschen seinerzeit unter Eid ausgesagt, sie hätten einen echten Beischlaf auf der Bühne gesehen. Dabei gab es, wie sich die Richter dann selbst überzeugten, nichts zu sehen als einen geschlossenen Vorhang. Es ist schade, dass diese Pause, die der Phantasie der Zuschauer:innen erlauben würde verrückt zu spielen, hier fehlt.

Eine Diskussion der heutigen Verhältnisse versucht das Team, indem manche Szenen ein zweites Mal verändert  gespielt gespielt werden. In der zentralen Passage, in der die Ehefrau zu ihrem Mann nach Hause kommt, nachdem sie ihn gerade betrogen hat, und ihn nach seinen früheren Liebschaften ausfragt, gesteht sie ihm in der "modernen Fassung" ihren Wunsch nach Sex außerhalb der Ehe; die beiden vereinbaren eine offene Beziehung. Und nun spielt ihr der Mann vor, er könne damit leben, aber man spürt, dass er ihr und sich das nur vormacht. Die Situation ist auf ihre Art genauso verlogen und verklemmt wie die frühere. Natürlich können die von den Schauspieler:innen geschriebenen Szenen nicht mit der Brillanz der Schnitzler'schen mithalten. Aber der Versuch bringt einen zum Nachdenken.

Zu betrunken, um sich zu erinnern

Womit sich die Inszenierung schwer tut, ist der Zugang zur existenziellen Verzweiflung, die auch in dem Stück steckt. Zwar entsteht die Komik daraus, dass alle allen vorspielen, es ginge um Liebe, während sie nur Sex wollen. Aber der Sturz in ein schwarzes Loch "danach" kommt noch von woanders. In der Begierde steckt eine viel größere und unbegreiflichere Gewalt als sich im Sex dann einlöst. Dieses Numinose, diese weltliche Suche nach einer in der Begierde versteckten Gottheit, wird in der ersten Szene aufgerufen, geht aber später verloren.

Schnitzler endet auf einer todtraurigen Note: Der Graf wacht neben der Hure auf und ist von Glück überströmt, weil er nur friedlich neben ihr geschlafen hat, sonst nichts. Er meint, er habe seine Gefühle transzendiert. Aber dann hört er, dass er nur zu betrunken war, um sich zu erinnern.

Die Inszenierung will nicht so tiefschwarz enden und fügt als Epilog ein Gedicht von Allen Ginsberg an. Die Begierde sei eine banale Wahrheit, man soll sie den Leuten zeigen: "Sprich mit dir selbst und andere werden auch freudig erlöst." Nach dem dunklen, komplexen Schnitzler-Text wirkt das ein bisschen zu naiv. Aber man freut sich doch über den Vorschlag einer gemeinsamen Hoffnung: "Was als Begierde begann, wird weiser enden."

 

Reigen
von Arthur Schnitzler
Koproduktion mit dem Landestheater Niederösterreich 
Inszenierung: Franz-Xaver Mayr, Bühnenbild & Kostüme: Korbinian Schmidt, Dramaturgie: Julia Engelmayer, Hans Mrak, Musik: Luiza Schulz Vazquez.
Mit: Elisa Plüss, Tim Breyvogel, Marthe Lola Deutschmann, Patricia Falk, Anna Golde, Jonas Graber, Dorothee Hartinger, Nikolaus Lessky, Riccardo Pallotta, Luisa Schwab, Helena Vogel, Nora Wahl, Sebastian Wendelin.
Premiere am 23. Juli 2022
Dauer 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.landestheater.net
festwochen-gmunden.at


Kritikenrundschau

"Den Festwochen Gmunden und dem Landestheater Niederösterreich ist eine überzeugende Interpretation von Schnitzlers Stück gelungen. Ein guter Start von Ex-Burgtheaterchefin Karin Bergmann als Intendantin des Gmundner Theatersommers", schreibt Thomas Kramar in Die Presse (25.7.2022). "Schnitzlers Stück würde auch in einer historisierenden Aufführung wirken. Aber Mayr hat sich zur Abstrahierung und teilweise Aktualisierung entschlossen, und das funktioniert überraschend gut." Ermöglicht werde all das Spiel um das Spiel durch eine "großartige Truppe von Schauspielerinnen und Schauspielern, die die ständig - und nicht immer nachvollziehbar - wechselnde Rollen zugleich erfüllen und transzendieren, ihre Gestik und Mimik expressiv und selbstverständlich, nie exzessiv und selbstverliebt einsetzen".

"Unter Franz-Xaver Mayrs dramaturgischem Zugriff legt das Stück an Deutlichkeit und Drastik mächtig zu", schreibt Anton Thuswaldner in den Salzburger Nachrichten (25.7.2022). Zu erleben sei die "Brachial-Version eines Klassikers mit einigen guten Ideen" und einem Schauspielteam, das "mit höchstem Einsatz" arbeite. Aber Schnitzler werde auch "zeitgeistig verbessert"; "brav" rolle ein "zeitgenössisches Genderprogramm" ab. Und: "Wenn bei Schnitzler Verzweiflung über die Verhältnisse den Rahmen abgibt, grassiert in dieser Inszenierung das Prinzip Gleichgültigkeit."

"Mayr rüttelt mit großartigen Kräften wie Burgtheater-Star Dorothee Hartinger, Tim Breyvogel, Sebastian Wendelin (...) nicht an Schnitzlers Bäumchen-wechsle-dich-Prinzip", konstatiert Peter Grubmüller in den OÖ Nachrichten (25.7.2022). Er erweitere den "Kreis" aber "um heutige Ecken und Kanten". Das sei "alles plausibel, vieles davon künstlerisch-dramaturgisch so berührend wie klug eingefädelt". Am Ende stehe die "zeitlose Erkenntnis", dass "auch in heutigen Anbahnungen Sex das Ziel ist".

Geschlechterverhältnisse interessierten den 1986 in Hallein geborenen Regisseur gar nicht, schreibt Stephan Hilpold im Standard (25. Juli 2022). "Mayr inszeniert den Reigen als serielles Spiel rund um einen mechanischen Akt – allerdings in beinahe unüberschaubar vielen Varianten", meint der Kritiker. Diesen Reigen könne sich auch die Generation Wokeness anschauen, "ohne ihn gleich canceln zu wollen". Viele – vor allem sprachliche – Nuancen des Stücks gingen laut Hilpold zwar verloren, aber "dafür gelingt in Gmunden ein heutiger Blick auf einen Akt, der schon lange nicht mehr Liebe genannt wird".

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