Glock, schläfst Du noch?

29. Juli 2022. Dieser "Reigen" hat zwar weniger Kopulation als Arthur Schnitzlers Original, dafür aber gleich zehn Autor:innen der Gegenwart: Sie überschrieben das berühmte Beziehungs-Karussell für diese Inszenierung. Unter Yana Ross' Regie treffen sich die Figuren im Luxusrestaurant und im schrägen Zwischenraum der Realitäten.

Von Gabi Hift

"Reigen" in der Regie von Yana Ross bei den Salzburger Festspielen: Matthias Neukirch, Michael Neuenschwander, Tabita Johannes © SF / Lucie Jansch

29. Juli 2022. Kein Sex, nirgends. "Reigen. Nach Arthur Schnitzler" nennt sich dieses für die Aufführung in Salzburg von zehn Autor:innen neu geschriebene Konglomerat. Binnen weniger Tage war die ganze Vorstellungsserie ausverkauft. Aber ganz egal, was sich die Zuschauer:innen erhofft haben, sie bekommen es nicht. Nichts Schnitzlerähnliches, nicht die berühmte strenge Form: A-B, B-C, C-D, nach der sich die Figuren bei Schnitzler durch alle Betten und sozialen Schichten tanzen. Und vor allem keinen Sex. 

Sex? Wie anachronistisch!

Jeweils eine Szene wurde an eine:n von zehn Autor:innen zur heutigen Überschreibung übergeben. Die Schreibenden hatten untereinander keinen Kontakt. Dass eine Figur eine Szene verlässt und die nächste betritt, ist also von vornherein nicht möglich. Die Autor:innen kannten ja die Figuren, die in der Szene vor der ihrigen vorkamen, gar nicht. Auch in der Sprache fallen die Szenen auseinander und es gibt bei den Themen keinen roten Faden - mit der einzigen Ausnahme, dass sie sich allesamt absolut nicht für Sex interessieren. Der scheint zu einem Anachronismus aus einem vorigen Jahrhundert geworden zu sein, in einer Reihe mit Duellen und Pferdekutschen.

Ein Bild, mehrere Dimensionen 

Statt einer formstrengen, runden Versuchsanordnung bekommt man hier einen merkwürdigen, disparaten Wechselbalg vorgesetzt. Aber nach einer Weile, wenn die erste Enttäuschung überwunden ist, entwickelt der Abend eine immer dichter werdende Atmosphäre – jedenfalls in der ersten Hälfte. Was Einheit schafft, ist einerseits die schräge, phantasievolle Regie von Yana Ross mit ihrem formidablen Ensemble. Andererseits ist es der faszinierende Raum, erschaffen von Márton Ágh. Anders als bei Schnitzler spielt hier alles an einem Ort: in einem riesigen Luxusrestaurant. Eine mit beigefarbenen Teppichboden bezogene Stufenlandschaft ergießt sich über die ganze Bühnenbreite, mehr als zwanzig Tische mit weißen Tischtüchern warten auf Gäste. Die Hinterwand bildet eine spiegelnde Schräge, durch die man den Dinierenden über die Schultern und in die Suppenteller schauen kann; Kerzen auf allen Tischen, dezente Klaviermusik, die Einrichtung strahlt modernen Luxus aus, ist aber auch ein wenig unheimlich – wie der Speisesaal des Hotels in "Shining". Vorne oben schließt das Restaurant mit einer Lamellenjalousie ab, die sich zu einer Videoleinwand schließen lässt, auf der man andere Räume des Gebäudes sieht: ein Hotelzimmer, in dem eine Schauspielerin via Laptopkamera gestalkt wird; den Überwachungsraum des Security-Manns. Das öffnet das Bild in mehrere Dimensionen.

reigen 2022 c sf lucie jansch 007 1Spießbürger:innen und ihre Geheimnisse: Matthias Neukirch, Sibylle Canonica, Lena Schwarz, Michael Neuenschwander, Yodit Tarikwa, Urs Peter © SF / Lucie Jansch

Weil die Figuren so wechselwendisch sind, so unerklärt bleiben – mal kennen sie sich von früher, mal wieder nicht – entsteht zwischen Ihnen ein Raum, der an ein Marthaler-Universum erinnert, wenn auch in einem ganz anderen Stil. Die Figuren, nicht so ausgefallen und skurril wie bei Marthaler, sie sind eher gewöhnliche Bürger:innen, Klein-, Groß- und Bildungs,- aber immer Spießbürger:innen. Aber weil ihre Absichten verschwommen bleiben, umgibt sie eine Aura von Geheimnis. Es gibt auch kleine Tanzeinlagen, einmal ertönt Ballettmusik, und eine Reihe trippelt mit erhobenen Armen graziös zwischen den Tischen; an einer anderen Stelle beginnt eine einsame Dame an einem hinteren Tisch ganz für sich allein ein Tänzchen mit den Händen.

Pro-Putin-Sprüche und #meetoo

Es beginnt mit dem Text von Lydia Haider in ihrer hochexperimentellen, provokanten Sprache. Ein Offizier, von seiner Mutter als "Pfeifsau" beschimpft, pfeift endlos und eiernd "Frère Jacques", legt seine Waffe, eine Glock, vor sich auf den Tisch und singt: "Gaston Glock, schläfst du noch?" Dann steckt er sie sich zwecks Selbstbefriedigung in den Hintern. Das ist die erste und letzte Sexszene des Abends.

Der Securitybeamte will der Pizzabotin mit seiner Rolle im Netz imponieren. Aber als er unter dem Namen "Fritzi88" Pro-Putin-Sprüche hochlädt, will sie nichts mehr von ihm wissen. Ein Kindermädchen beschuldigt ihren Arbeitgeber der Vergewaltigung. Die erwartbare #metoo-Szene ist ziemlich platt, aber interessant aufgelöst: Sie spielt gleichzeitig auch ihre eigene Richterin. Der Angeklagte isst währenddessen mit seiner verständnisvollen Frau zu Abend.

reigen 2022 c sf lucie jansch 0001 1Wenig Sex, viel Gepfeife: Sibylle Canonica, Urs Peter Halter, Matthias Neukirch © SF / Lucie Jansch

Zwei Frauen können mit Siri die Welt für kurze Zeit zum Stillstand bringen und alle anderen einfrieren. Die eine Frau ergeht sich in dieser Auszeit in Fantasien, wie sie ihre drei Kinder umbringen könnte. Sie spielt erst eine Knarre, dann rattert sie sie mit einer MP nieder und beißt schließlich von einem Salatkopf große Stücke ab und spuckt sie auf die eingefrorenen, am Boden liegenden Kinder. Die andere Frau ist zuerst entsetzt, aber am Ende macht sie mit.

Nun folgt eine Video-Szene des russischen Autors Mikhail Durnenkov, die weder mit dem Vorangegangen noch mit dem Ort noch mit Schnitzler auch nur das Geringste zu tun hat, dafür aber von einer Dringlichkeit ist, die dem Abend sonst fehlt. Durnenkov hat nach Beginn des Ukrainekriegs eine völlig neue Szene geschrieben: Ein Sohn ruft aus Moskau via Skype seine Eltern in Tomsk an. Er will ihnen sagen, dass er mit seiner Frau und seinem Kind Russland verlassen wird, die Mutter ist völlig verständnislos, für sie gibt es keinen Krieg, nur eine "spezielle Militäroperation". Alles was der Sohn sagt, bezieht sie auf sich und besteht darauf, er sage es nur um sie zu kränken. Die drei spielen das so überwältigend echt, dass es einem Herz und Magen umdreht. Insbesondere Inga Mashkarina als Mutter ist einfach grandios, entsetzlich, aber auch lustig in ihrer Borniertheit. Die Szene hat ein solche Kraft und Direktheit, und ist so weit weg von allem anderen, dass die Atmosphäre danach in sich zusammenfällt. Ab da langweilen einen die verschwommenen Existenzen im Restaurant zunehmend.

Schnitzler kann's nicht das Wassser reichen

Die letzte Szene, geschrieben von Lukas Bärfuss, fällt wieder vollkommen heraus, hier taucht die Waffe, die Glock aus der ersten Szene, wieder auf (wie Tschechow es verlangt hat – so ziemlich die einzige dramaturgische Regel, die befolgt wird). Ein Mann, vielleicht Gaston Glock persönlich, scheint als Ausbeuter in einem afrikanischen Land auf der Suche nach einer Prostituierten zu sein. Die Situation ist kryptisch und unverständlich. Es werden Metalle erwähnt, die seine Firma extrahiert, unter anderem Nickel, also jenes Metall, das vom Unternehmen Solway in Guatemala abgebaut wird. Wegen dortiger Missstände haben Yana Ross und Lukas Bärfuss verlangt, dass die Salzburger Festspiele den Sponsoringvertrag mit Solway beenden. Und sie waren mit ihrem Protest erfolgreich.

Nach dieser in sich atmosphärisch dichten Szene endet die Aufeinanderfolge disparater Szenen im vagen Niemandsland. Die durchweg ausgezeichneten Schauspieler:innen werden freundlich beklatscht, man geht aber ratlos und unbefriedigt hinaus. Dem Schnitzlerschen Reigen kann dieser Abend trotz starker Momente nicht das Wasser reichen.

 

Reigen
nach Arthur Schnitzler
Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich
Neufassung der zehn Dialoge von Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss
Regie: Yana Ross, Bühne: Márton Ágh, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Knut Jensen, Video: Algirdas Gradauskas, Licht: Tamás Bányai, Dramaturgie: Laura Paetau.
Mit: Sibylle Canonica, Urs Peter Halter, Tabita Johannes, Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Lena Schwarz, Yodit Tarikwa, Inga Mashkarina, Valentin Novopolskij, Vladimir Serov.
Premiere am 28. Juli 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr zum "Reigen"? In Gmunden gelang Franz-Xaver Mayr zuletzt eine beeindruckende Neuinterpretation von Arthur Schnitzlers Original.

 

 

Kritikenrundschau

Der Text bekomme durch die Überschreibung der zehn Autor:innen "eine eigentümliche Wirkung", findet Andreas Klaeui im SRF (29.7.2022). "Die Szenen unterscheiden sich sehr viel stärker als bei Schnitzler - zugleich bekommt der Stoff einen universaleren Anspruch." Die Szenen reihten sich etwas zufällig aneinander, seien auch unterschiedlich originell, und das Ganze bekomme dadurch eine gewisse Beliebigkeit. Gleichzeitig sei es eine Inszenierung, die heutige Thematiken sehr direkt anspreche, erzählt der Kritiker. Doch: "(...) dadurch, dass aber die Szenen in sich so zerfallen, und keine gemeinsame Verbindlichkeit haben, verliert leider auch der Abend im Ganzen an Dringlichkeit", resümiert der Rezensent.

"Wie war der 140 Minuten lange Abend?", fragt Norbert Mayer in der Presse (online 29.7.2022, €) und gibt die Antwort gleich hinterher: "Oft lähmend". Man solle laut dem Kritiker aber trotzdem ein wenig differenzieren: "Die Texte reichen von katastrophal schlecht bis ambitioniert". Die Regie wisse Mittelmäßigkeit immerhin geschickt hinter absurden Aktionen zu verbergen – durch "Tänze, Demolierungen, Gewalt, Ess- und Trinkrituale". Im Ensemble seien "in der Mehrzahl tolle Darsteller, die tapfer aufdrehen, wenn sich dieser Pseudo-Schnitzler sadistisch zieht wie ein strapazierter Strudelteig", aber: Allzu oft werde dieser Abend einfach läppisch. "Besonders störend" findet Mayer: Die Eingangs- und die Schlussszene gehörten zu den schlechtesten.

"Statt Balzritualen und Posen gibt's langweiligen Beziehungssprech samt Prostatatratsch", formuliert es Stephan Hilpold im Standard (online 29.7.2022). Yana Ross habe es wirklich schwer: "Neben den zehn disparaten Szenen muss sie zusätzlich mit dem Einheitsbühnenbild von Márton Ágh fertigwerden, der die Bühne der Szene Salzburg in ein gediegenes Restaurant mit Thonet-Sesseln verwandelt hat" – hübsch, aber unpraktikabel. Immerhin gelinge dem russischen, nach Finnland emigrierte Schriftsteller Mikhail Durnenkov mit seiner als Video zugespielten Szene die Ehrenrettung dieses Salzburger Unterfangens.

Weil die Mini-Dramen sich nicht aufeinander beziehen, habe Ross "rein handwerklich ihre liebe Not, die Szenen auf der Bühne irgendwie in Verbindung zu setzen", so Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (30.7.2022). Das andere Problem sei die Haltung hinter der Inszenierung, weil alles auffällig und ausschließlich von der potenziellen Debatte her gedacht sei. "Dem daneben direkt subtilen Original gibt sie gar nicht erst die Chance, eben jene Debatten auch anzuregen, dabei liegen schon bei Schnitzler Klassismus, Sexismus, Unterdrückung der Frauen und soziale Abhängigkeit im Text."

Die Frage, warum überhaupt Schnitzler überschreiben, statt ein Original aus die­ser Runde namhafter Autorinnen und Autoren zu generieren, könne die Regie von Yana Ross nicht überzeugend beantworten, findet auch Sandra Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.7.2022). Mancher Szene gelänge es durchaus, "aus sich selbst heraus Prägnanz und Relevanz zu gewinnen". Sie "schillern an diesem Salzburger Abend, denn das grandiose Ensemble kann all seine Schauspielkunst aufbieten".

"Fast zweieinhalb pausenlosen Spielstunden Sprachlustverweigerung und Negation von Beziehungsstellungskrieg" hat Manuel Brug erlebt, wie er in der Welt (30.7.2022) schreibt. "Das gar nicht amouröse, gar sexuelle Karussell fährt also immer weiter rundherum, aber keiner mag mehr aufsteigen." Sein Fazit: "Thema verfehlt."

Es walte das Prinzip eines Aufsatzwettbewerbs, befindet Peter Kümmel von der Zeit (18.8.2022). "(S)echs Autorinnen und vier Autoren reichen etwas ein, wozu sie angeblich durch Schnitzlers Stück inspiriert wurden." Heraus komme "ein Gemisch ohne Struktur, in dem sich ein Überfluss an Ausdruckswillen – an Sätzen zur Weltlage, die der eine oder die andere unbedingt loswerden will – und der Mangel an szenischer Ausdruckskraft ungut vereinen".

 

Kommentare  
Reigen, Salzburg: 11. Gebot
Was einige möglicherweise nicht wissen:

Man hat nicht nur die beiden Tafeln mit Moses' 10 Geboten am Berg Sinai entdeckt und entziffert, man fand darüber hinaus ganz in der Nähe hinter einem brennenden Dornbusch eine weitere, eine dritte Tafel, auf selbiger konnte ein 11. Gebot entziffert werden, welches da lautet:

«Du sollst nicht mehrere Autor:innen für einen einzigen Theaterabend als Autor:innen amten lassen – amen.»

So sprach der Herr.
Reigen, Salzburg: Honorar der Autor:innen?
Was haben die denn verdient? Jeder 2000 Euro? Das wäre mager.
Reigen, Salzburg: bergab
Ich glaube, dass die Schauspielschiene der Salzburger Festspiele einer dringenden Korrektur und Neuorientierung bedarf. Im Vergleich zu den ambitionierten, mitunter außerordentlichen Aufführungen im Opern- und Konzertbereich der Festspiele ist man hier weniger mit festspielwürdigem, außerordentlichem Theater als mit mit biederem, irgendwie aktuell und angesagt sein wollendem Bratwurst- und Stadttheater konfrontiert. Nichts davon rechtfertigt den nicht gerade kostengünstigen Aufenthalt in Salzburg.
Eine Zeitlang agierte das Schauspiel in Salzburg auf Augenhöhe mit Oper und Konzert, nämlich auf internationalem Niveau. Danach ging's bergab.
Diese "Reigen-Version" leidet bereits an einer verfehlten Konzeption, die später kaum zu retten war. Jemand hätte rechtzeitig korrigierend eingreifen müssen. Die Regisseurin hatte zwar Zeit dafür, ein unnötiges Ultimatum an ihren Arbeitgeber zu stellen, wäre allerdings besser beraten gewesen, die vorhandene Energie und Aufmerksamkeit in ihre eigentliche Arbeit zu investieren.
Reigen, Salzburg: Fehlgriff
Ich kann Herrn Visconti nur zustimmen. Leert man eine Flasche Wein aus und füllt statt dessen irgend etwas anderes hinein, ist das keine Überschreibung, sondern?!
Nicht auszuhalten. - Letztes Jahr war hier "Bergwerk", jetzt diese Mainstream-Spielwiese, natürlich mit dem üblichen oberflächlichen Russland bzw. Putin Bashing. Billig. Die transatlantische Welle spült Sinn und Verstand fort.
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