Geht's hier zur Steinigung?

5. September 2022. "Ingolstadt" in der Inszenierung von Ivo van Hove ist nach der Premiere bei den Salzburger Festspielen am Wiener Burgtheater angekommen. Koen Tachelet hat zwei 100 Jahre alte Texte von Marieluise Fleißer miteinander verheiratet. Van Hove inszeniert das auf einer schwimmenden Bühne voll mit dichten Dialogen und unzähligen Mitwirkenden, und man begreift schnell: Ingolstadt ist ein übles Pflaster.

Von Martin Pesl

"Ingolstadt" bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Ivo van Hove © SF / Matthias Horn

2. August 2022. Dass Ingolstadt ein übles Pflaster ist, machte Marieluise Fleißer mit ihren Texten vor knapp 100 Jahren klar. Heute, nur gut 200 Kilometer und ein Bundesland weiter, erzählen die Salzburger Festspiele davon – mit Verzögerung. Für Mittwoch war die Premiere von "Ingolstadt" auf der Perner-Insel in Hallein angesetzt, am Dienstag wurde sie abgesagt: zu viele Corona-Fälle im Ensemble.

Umbesetzt

Der neue Termin fällt mit dem Tag zusammen, ab dem Infizierte in Österreich nicht mehr in Quarantäne müssen. Entsetzt bis amüsiert fragte man sich, ob man wohl FFP2-Maskierte auf der Bühne sehen würde? Aber nein: Blitzartig wurde umbesetzt. Für drei Spieler musste jemand einspringen, möglicherweise ist ab der zweiten Vorstellung wieder die Originalbesetzung am Start, jedenfalls aber im Herbst, wenn die Produktion ins Wiener Burgtheater umzieht.

"Fegefeuer in Ingolstadt" war 1926 ein großer Erfolg, Fleißers Mentor Bertolt Brecht drängte sie daraufhin zum Verfassen der Komödie "Pioniere in Ingolstadt" und griff in diese zugunsten seines epischen Stils brachial ein. Die verzahnende Fassung des Dramaturgen Koen Tachelet will den "Pionieren" nun Atmosphäre zurückgeben. Zwar teilen sich die zwei Stücke kein Personal, aber sie spielen im selben katholisch-kalten Universum, wo jede menschliche Annäherung ein "big deal" ist: Ingolstadt.

Koproduktion mit den Salzburger FestspielenINGOLSTADTnach „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“von Marieluise Fleißer in einer Bearbeitung von Koen TacheletPremiere Salzburger Festspiele: 27. Juli 2022 in Hallein/Perner InselPremiere Wien: 4. September 2022 im BurgtheaterMitElisabeth AugustinJan BülowGunther EckesRainer GalkeJonas HackmannLilith HäßleEtienne HalsdorfDagna Litzenberger VinetOliver NägeleMaximilian PulstMarie-Luise StockingerTilman TuppyLukas VogelsangJulian von HansemannLili WinderlichLive-Kamera: Andrea Gabriel /Georg EisneckerKomparserieRegie: Ivo van HoveBühne & Licht: Jan VersweyveldKostüme: An D´HuysMusik: Erich SleichimVideoproduktion: Julia VárkonyiDramaturgie: Koen Tachelet, Sebastian HuberDagna Litzenberger Vinet als Alma und Marie-Luise Stockinger als Olga in der silbrig reflektierenden Bühne von Jan Versweyveld © SF / Matthias Horn

Dem mythisch überhöhten Ort verpasst Bühnenbildner Jan Versweyveld ein industrielles Setting zwischen Hochspannungsleitungen, Megafonen und Lichterketten. Nebel zieht über den Boden, Spiegel vergrößern den Raum in drei Richtungen. Wohlig düster sieht das aus. Hier hinein treten sie aus allen Ecken, die unzähligen Mitwirkenden: Pioniere und Gymnasiasten, liebesbedürftige Hausmädchen und Schülerinnen, Eltern und Vorgesetzte, und es macht groß "Platsch!". Denn, von kleinen Inseln abgesehen, schwimmt die ganze Bühne in hauptsächlich seichtem Wasser. "Fegefeuer" sollte ursprünglich den Titel "Die Fußwaschung" tragen.

Spritzende Bilder

Das dreckige Nass, dessen Wellen sich im weit abgesetzten Bühnenportal spiegeln, prägt und trägt die Inszenierung des Belgiers Ivo van Hove – seine erste in Österreich. Saufende befüllen damit ihre Biergläser, die ungewollt Schwangere will sich darin ertränken, und die Steinigung gibt spritzige Bilder von hochklatschenden Wasserwänden. Dennoch hat man sich irgendwann sattgesehen. Trotz einwandfreien Regiehandwerks, dichter Dialoge und emphatischer, energetischer Schauspielleistungen, trotz reichlich Bewegung, ja sogar Gewalt auf der Bühne wollen die vielen schlimmen Geschichten von einander zurückweisenden, waterboardenden oder vergewaltigenden Menschen nicht nahegehen. Warum?

Weil's zu viel ist: Ein Stück hätte gereicht. Das "Fegefeuer" und die "Pioniere" (die nur ein Zyniker wie Brecht als Komödie bezeichnen konnte) gehören nicht zusammen. Ihre Zwangsehe verstärkt in beiden die anstrengenden Eigenschaften. Fleißer schreibt etwa kaum Monologe. Dass ihre knappen Repliken vereinzelt Horváth'sche Qualitäten haben, kommt in van Hoves relativ rasanter Regie kaum zur Geltung.

In der Schwebe

"Fegefeuer" dreht sich um den christlichen Fanatiker Roelle, den Jan Bülow gut creepy die Augen verdrehen und zum Himmel schreien lässt, wenn ihn die Heiligkeit überkommt. Keiner kann ihn leiden, obwohl er bereit wäre, sich der vom rüden Peps (Tilman Tuppy) schwangeren Olga (Marie-Luise Stockinger) anzunehmen. Die Engelmacherin habe den Eingriff verweigert, erfährt man eingangs, doch die bittere Ironie angesichts der jüngsten US-Gerichtsurteile gegen Abtreibung wird nicht explizit aufgegriffen, überhaupt lassen Sprache und Kostüme alles in einer zeitlosen Schwebe.

ingolstadt 2022 c sf matthias horn 09In diesem Ingolstadt wird gelitten: Jan Bülow als Roelle und Marie-Luise Stockinger als Olga © SF / Matthias Horn

Das Pendant zu Roelle in "Pioniere" ist Fabian (Max Gindorff bzw. Jonas Hackmann). Die Verwandtschaft wird überdeutlich an beider ärmellosen Shirts und der brutalen Demütigung durch die jeweils anderen Männer. Fabian umwirbt Berta (Lilith Häßle), die sich lieber an den Soldaten Korl (Maximilian Pulst) hängt, einen rücksichtslosen Womanizer. Ihre Freundin Alma (Dagna Litzenberger Vinet) versucht ihr Glück derweil mit Prostitution. Auch keine gute Idee.

Ein paar kollektive Gebete, Glaubensbekenntnisse, Beichten später verlassen die Pioniere Ingolstadt, physisch und seelisch verletzte Frauen zurücklassend. Der Feldwebel (Hochachtung vor dem furiosen Ernest Allan Hausmann, der sich vier humorlose Spießerrollen in kürzester Zeit aneignete) zählt die Tugenden guter Soldaten auf. Böse, Frau Fleißer. Ingolstadt ist ein übles Pflaster. An diesem Abend wirkt es von Salzburg aus aber sehr weit weg.

 

Ingolstadt
Nach "Fegefeuer in Ingolstadt" und "Pioniere in Ingolstadt" von Marieluise Fleißer in einer Bearbeitung von Koen Tachelet
Regie: Ivo van Hove, Bühne und Licht: Jan Versweyveld, Kostüme: An D’Huys, Musik: Eric Sleichim, Video: Julia Várkonyi, Dramaturgie: Sebastian Huber, Koen Tachelet.
Mit: Marie-Luise Stockinger, Jan Bülow, Dagna Litzenberger Vinet, Lilith Häßle, Maximilian Pulst, Tilman Tuppy, Max Gindorff/Jonas Hackmann, Lukas Vogelsang, Lili Winderlich, Gunther Eckes, Julian von Hansemann, Bijan Zamani/Rainer Galke, Ernest Allan Hausmann/Oliver Nägele, Elisabeth Augustin, Étienne Halsdorf sowie Luis Brunner, Marko Jovanovic, Martin Preiner, Maximilian Wenning, Selina Strommer/Ines Wurst/Benita Holzhammer, Lucas Zach.
Premiere am 1. August 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at
www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

"Im Ton sind die beiden Stücke denkbar unterschiedlich. Geht es im 'Fegefeuer' vor allem um sekündlich wechselnde Koalitionen im zwischenmenschlichen Stellungskrieg, wird in den 'Pionieren' Druck nach unten weitergegeben", so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (4.8.2022). "Fleißers Sicht ist weiterhin pfiffig und aktuell". Das Scheitern von Regisseur Ivo van Hove und sein Dramaturg "ist genau im Ehrgeiz begründet, die beiden Stücke zu verbinden". "Dass die Handlung in beiden Stücken stagniert, führt zu einer knochenlosen Aneinanderreihung von noch mehr Einzelszenen." Und die Gewalttaten "verlieren durch ihr inflationäres Auftreten die Funktion als Eskalationen und Ungeheuerlichkeiten. Fazit: "keine Intensivierung, sondern eine Ermüdung".

Durch die Zusammenlegung der zwei Texte löse sich die Form beider Stücke in eine Art Filmschnitt auf, "der sich gelegentlich plagt alles rüberzubringen" schreibt Uwe Mattheiß im Standard (3.8.2022). So bleibe die Inszenierung "hinter den Erwartungen".

"Mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit verzahnt Ivo van Hove, ein Meister exakter Nuancen, die beiden Stücke", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (3.8.2022). 'Ingolstadt', das sei heute eine nach wie vor gültige Metapher für Enge. Marie-Luise Stockinger und Lilith Häßle bliesen "mit ihrem Schmerz, ihrer Wucht, ihrem Trotz, ihrer sprachlichen Präzision, ihrer Emotionalität alle an die Wand“. Und doch fänden ihre beiden Frauen kein Glück. "Das ist die Wahrheit von 'Ingolstadt‘."

Die Inszenierung bleibe bei einer ständig gleichbleibend niedrigen Temperatur, "was über die lange Distanz von 150 pausenlosen Minuten zu ihrer Schwäche wird. Immer wieder erlahmt die Spannung", schreibt Mathias Hejny in der Münchner Abendzeitung (3.8.2022). Dann, plötzlich und unerwartet, komme es zu eruptiver Gewalt: "Ein enthemmter Totschlag, ein grausames Waterboarding, die unerbittlichen Vergewaltigungen sowohl als Einzeltäter als auch in der Gruppe, und das sehr sorgfältig in Szene gesetzt. Aber es ist heute schwer geworden, ein Theaterpublikum noch zu erschrecken oder zumindest zu irritieren."

Die Spieler:innen ließen sich "auf imponierende Weise" auf den sehr körperlichen Ausdruck ein. "Zugleich navigieren sie souverän durch Fleißers merkwürdig-verquere Sprache, die immer mehr auszudrücken vermag, als dem oder der Sprecherin bewusst zu sein scheint", so Sven Ricklefs auf SWR2 (2.8.2022). Van Hove und sein Ensemble zeigten auf beeindruckende Weise, "wie schonungslos Fleißer auf Menschen und ihre Situationen sah und dabei die tief verankerten Strukturen von Gewalt offenlegte".

"Wie die Textfassung von Koen Tachelet die beiden Stücke nicht bloß parallel laufen lässt, sondern ineinanderschiebt, geht gut auf", schreibt Michael Wurmitzer im Standard (5.9.2022) zur Übernahme ins Burgtheater-Repertoire. Aber der Mix überfrachte das angestrebte Ganze mit einzelnen Schicksalen. Regisseur Ivo van Hove inszeniere mit starken Bildern, wofür es "viel Applaus" gebe.

 

Kommentare  
Ingolstadt, Salzburger Festspiele: Dilettantisch
Schon eine bemerkenswerte Leistung, aus einem guten Ensemble ein zufällig anmutendes Haufen mittelmäßiger Schauspieler. Besonders die männlichen Darsteller haben in dieser Aufführung keine Chance, die Damen schlagen sich etwas besser durch. Die Reigen-Überschreibung war schon keine gute Idee, war aber mit gleicher Spieldauer viel verträglicher. Die Idee, die beiden Ingolstadt-Stücke zu vermischen, bringt wirklich nichts, die Figuren bleiben immer konturlos, und man fragt sich ständig, wen das bitte interessieren sollte. Todernst ist es jedenfalls gemeint. Die Inszenierung von Ivo van Hove ist weit unter dem Niveau, nicht bloß der Salzburger Festspiele, sondern irgend eines professionellen Theaters. Schade, dass nicht sämtliche Aufführungen wegen Covid nicht abgesagt wurden!
Ingolstadt, Salzburger Festspiele: Ärgerlich
Was für ein ärgerlicher Abend! Es war alles da, atmosphärisches Bühnenbild, energetische Schauspieler:innen, tolle Vorlage – aber es hat einfach nicht funktioniert. Schade!
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