Jurrungu Ngan-ga / Straight Talk - Tanz im August Berlin
Endlich draußen!
6. August 2022. Die australische Gruppe Marrugeku zeigt zur Eröffnung des Berliner Festivals Tanz im August ihr Stück "Jurrungu Ngan-ga / Straight Talk" im Haus der Berliner Festspiele – eine drastische Anklage gegen das australische Grenzregime als Durchmischung der Ebenen von Pop bis Bühnentradition.
Von Falk Schreiber
Berlin, 5. August 2022. Die Insel Manus in der Bismarcksee, Teil von Papua-Neuguinea, steht exemplarisch für die Abgründe der australischen Flüchtlingspolitik: Auf dem 33000 Einwohner*innen auf 2100 Quadratkilometern beherbergenden Eiland befand sich bis 2017 das "Manus Regional Processing Centre", eines von zwei Lagern außerhalb australischem Hoheitsgebiets, in dem Asylsuchende interniert wurden.
Die Zustände in dem von privaten Sicherheitsdiensten betriebenen Lager galten als katastrophal, Gewalt und sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung, Hygiene und Versorgung mit dem Nötigsten nicht sichergestellt. Der auf Manus festgehaltene iranisch-kurdische Journalist Behrouz Boochani beschrieb die Situation in seinem in Australien preisgekrönten Buch "No Friends but the Mountains", das eine inhaltliche Basis für das Tanzstück "Jurrungu Ngan-ga" des in Sidney und im westaustralischen Broome beheimateten Ensembles Marrugeku ist. "Jurrungu Ngan-ga" eröffnete das Berliner Festival Tanz im August im Haus der Berliner Festspiele und wird ab 17. August auch beim Internationalen Sommerfestival im Hamburger Produktionshaus Kampnagel zu sehen sein.
Schlaglichter der Isolation
Abdul-Rahman Abdullahs Bühne besteht in erster Linie aus einer Wand aus 18 Stahlelementen. Diese dient als Projektionsfläche für Videobilder, sie wird aber auch bei Beleuchtung von hinten durchscheinend, zur Gitterwand, die ein Innen und ein Außen definiert. Was das Grundprinzip der Inszenierung darstellt: Es geht um Elemente der Trennung, und es geht darum, einen Raum zu definieren.
Was auch in den ersten Szenen konsequent gemacht wird, mit weit ausholenden Wellenbewegungen, mit einer dumpfen Soundspur, die erahnen lässt, das hinter der Mauer etwas passiert, mit mal verzweifelten, mal resignierten Kommunikationsversuchen per Video. Könnte ja sein, dass einen jemand von draußen beobachtet, also zeigt man der Überwachungskamera den Mittelfinger.
Choreografin Dalisa Pigram entwickelt so Schlaglichter der Isolation: Kurze Szenen stellen Bilder von Einsamkeit, von Frustration dar, einmal von Gewalt, die unvermittelt auch einen sexuellen Unterton bekommt. Dieses Spiel mit den repressiven Strukturen von Innen und Außen funktioniert als Performance, auch wenn es in seiner Drastik manchmal schwer erträglich ist. Es trägt allerdings nicht über den gesamten Abend. Weswegen Regisseurin Rachael Swain den Titel "Jurrungu Ngan-ga", was in der westaustralischen indigenen Sprache Yawuru "Klare Ansage" bedeutet, ernst nimmt und das Stück nach ungefähr 40 Minuten in Selbstermächtigungs-Pop kippen lässt.
Bhenji Ra greift sich das Mikro und sucht den Kontakt nach außen. Mit den Worten "Hello? Dancers? Audience? Box Office? Fucking Berlin? How did you forget about the girl?" befreit sie sich aus der passiven Situation der gleichzeitig Aus- und Eingeschlossenen, lästert über die Mauernarchitektur ("Habt ihr das alles für mich gemacht? Das wäre doch nicht nötig gewesen!") und schiebt ein Abgrenzungselement nonchalant beiseite – endlich draußen! Um dann das Ensemble aufzufordern, Opfer des australischen Grenzregimes zu benennen: den Jugendlichen, der von der Polizei zu Tode gehetzt wurde, die vierfache Mutter, die sich in den Suizid flüchtete. Und weil die sie dabei gekonnt die Mittel des Pop anwendet, Ironie, Verführung, Aggression, wird diese Beschwörung der Ausgeschlossenen zu einer glamourösen Feier im Geiste des R'n'B.
Tanz als Widerstand
Was die Inszenierung allerdings auch ist: choreografisch verhältnismäßig uninteressant. Im Grunde arbeitet Pigram mit Konzepten des Tanztheaters, und zwar mit solchen, die sich seit den Achtzigern nicht nennenswert weiterentwickelt haben. Tatsächlich ist diese tanzästhetische Schwachstelle aber gar kein echtes Problem für "Jurrungu Ngan-ga": Es geht um Tanz als widerständiges Konzept, bei dem Fragen nach Originalität oder künstlerischer Innovation gar nicht an erster Stelle stehen.
Auf eine Weise erinnert die Kunst von Marrugeku so an die Arbeiten von Monika Gintersdorfer, die ebenfalls inhaltliche Fragestellungen aus den Komplexen Körper/Postkolonialismus/Politik mittels Tanz weiterdenkt, dabei aber immer die ursprüngliche Fragestellung im Blick behält. Ob der Tanz dabei als performative Aktion funktioniert, ist gar nicht so wichtig, wichtiger ist die Durchmischung der Ebenen von Pop bis Bühnentradition.
This is Australia
Auch bei Marreguku überwölbt diese Durchmischung alles. Am Ende steht ein brachialer Rap, "This is Australia", der noch einmal überdeutlich die politischen Verfehlungen anprangert. Normalerweise müsste man solch eine holzhammerhafte Botschaft kritisieren, aber weil hier alles zusammenfällt, Körper, Pop, Tanz und eben auch die Botschaft, kann man "Jurrungu Ngan-ga" nur als stringente Arbeit loben.
Jurrungu Ngan-ga / Straight Talk
von Marrugeku
Konzept: Dalisa Pigram, Rachael Swain, Patrick Dodson, Choreografie: Dalisa Pigram, Regie: Rachael Swain, Dramaturgie: Hildegard de Vuyst, Cultural Dramaturgy: Behrouz Boochani, Patrick Dodson, Omid Tofighian, Musik: Sam Serruys, Paul Charlier, Rhyan Clapham aka DOBBY, Sounddesign: Sam Serruys, Paul Charlier, Bühne: Abdul-Rahman Abdullah, Kostümdesign: Andrew Treloar, Lichtdesign: Damien Cooper, Zusätzliche Choreografie: Stacy Peke aka Red Ladybrui5er (Krump Army).
Von und mit Czack 'Ses' Bero, Emmanuel James Brown, Chandler Connell, Luke Currie-Richardson, Issa el Assaad, Zachary Lopez / Macon Esteban Riley, Bhenji Ra, Feras Shaheen, Miranda Wheen.
Deutschlandpremiere am 5. August 2022
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.marrugeku.com.au
www.tanzimaugust.de
Kritikenrundschau
Die kollektiven Tanzszenen seien von roher Energie, schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (online 6.8.2022). "Krump und Breakdance treffen auf Voguing, der Kreistanz Dabke aus dem Mittleren Osten wird zitiert, auch indigene Einflüsse". In der Inszenierung gebe es "Tanz als Selbstbehauptung und Feier von Vielfalt". Das Stück ziehe eine Verbindung zwischen der skandalös hohen Zahl indigener Häftlinge und der unbefristeten Inhaftierung von Asylsuchenden in Australien. Luzina betont ebenfalls, dass ein so diverses Ensemble wie bei Marrugeku wohl selten auf Berliner Bühnen zu sehen sei.
Ein drastisches Stück voller Leid, Schmerz, Wut und voller Widerstand und Aufruf zum Protest, so Frank Schmid im rbb Kultur (6.8.2022). Das Bühnenbild sei angelehnt an die Gefängnisse auf der Pazifikinsel Manus. "Kompromissloses politisches Tanztheater, erbarmungslos in der Darstellung. In der Wahl der Mittel rigoros vordergründig und der Härte der Themen angepasst." Fazit: ein eindrucksvoller, ungewöhnlicher Auftakt für das Tanzfestival.
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In „Jurrungu Ngan-ga“, was auf Yawuru „Klare Ansage“ bedeutet, reden sie tatsächlich in jedem Moment Klartext. Wut und Trauer über die Übergriffe gegen Asylbewerber auf der Gefängnisinsel werden in die Traditionslinie der Entrechtung indigener Völker gestellt.
Doch der Abend bleibt nicht bei der Anklage stecken. Trans-Performer*in Bhenji Rha entert die Bühne und startet ein mitreißendes Empowerment-Spektakel, das die zweite Hälfte des Abends prägt. Statt der Überwachungskameras werden glamouröse Kronleuchter von der Decke heruntergefahren, die Bühne im Haus der Berliner Festspiele wird zur Partyszene, auf der sich das Marrugeku-Ensemble zwischen Pop und Rap austobt. In Spoken Word-Einsprengseln werden weitere Namen von Opfern aufgezählt und Querverbindungen gezogen.
Mit ihrer Mischung aus Tanz, Gefängnis-Installation und politischem Aktivismus bespielen die australischen Gäste zur Eröffnung des Festivals die gesamte große Bühne im Haus der Berliner Festspiele und bekommen minutenlangen, begeisterten Applaus. Konzept und Anspruch von „Tanz im August“ sind es, nicht die großen, bekannten Namen der internationalen Tanzszene abzufeiern, sondern vor allem in den Nischen zu suchen, das Experimentelle, Widerständige, Übersehene zu präsentieren. Bei der präpandemischen Ausgabe 2019 schossen Virve Surtinen und ihr Team oft über das Ziel hinaus. „Ist das noch Tanz?“, fragte nicht nur Nachtkritik nach einer Vielzahl kleiner Formate, bei denen keine echte Festival-Stimmung aufkam.
In ihrer letzten Ausgabe geht Virve Surtinen mit dem spektakulären Auftakt einen Stück zurück auf das Publikum zu. Die große Bühne nach den beiden Corona-bedingt stark reduzierten Ausgaben 2020/2021 wieder in Besitz zu nehmen, war auch ein zentrales Thema in den Eröffnungs-Reden der nach dieser Ausgabe ausscheidenden finnischen Festival-Kuratorin und der HAU-Chefin Annemie Vanackere. Zum Auftakt ist das gelungen!
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/08/06/jurrungu-ngan-ga-straight-talk-tanz-kritik/
Eine rätselhafte, surrealistische Welt voller Anspielungen auf Antike, Mythologie und Christentum präsentieren Marcos Morau und sein katalanisches Ensemble „La Veronal“ in "Sonoma". Für die 75minütige Choreographie haben Morau und sein Dramaturg Roberto Fratini eine bildstarke Arbeit entwickelt, die sehr wuchtig sein will, aber zu überfrachtet ist. Von der Belagerung Sarajevos und Leningrads über ein großes Holzkreuz, das über die Bühne gezerrt wird, bis zu den altertümlichen Hauben und Reifröcken, mit denen das rein weibliche Ensemble zu Beginn auftritt und damit an die Kostüme in der dystopischen Serie „A Handmaid´s Tale“ nach Margaret Atwood oder „Hexenjagd“-Inszenierungen des Klassikers von Arthur Miller erinnert: im Breitbild-Format jagt ein opulentes Tableau das nächste.
https://daskulturblog.com/2022/08/12/sonoma-la-veronal-tanz-kritik/
11 Monate ist Mette Ingvartsens Solo "The Dancing Public" erst alt, reiste mit einem Abstecher nach Melbourne quer über den Kontinent von Avignon bis Stockholm und wirkt schon nach so kurzer Zeit veraltet: Das Stück kam im September 2021 im PACT Zollverein Essen heraus und ist als Feier des Neubeginns des gesellschaftlichen Lebens gedacht.
Nach zwei langen Lockdowns war 2021 ein Sommer des Aufatmens: Licht am Ende des Pandemie-Tunnels. Doch bald stellte sich heraus, dass die nächsten Wellen heranrauschten, das Virus mutierte munter weiter.
Mette Ingvartsen tourt unbeirrt weiter, beschwört in den kurzen Text-Passagen, die oft von den Beats überlagert werden, historische Pandemie-Erfahrungen und tanzt sich eine Stunde lang durch den Saal, in dem sich das Publikum frei bewegen kann. Wenn sie nicht gerade irgendwo in dem Trubel wippt, erklimmt sie eine der drei Plattformen am Bühnenrand, setzt zu ihren Monologen an und schüttelt ihren Körper noch heftiger. Von bildstarken Arbeiten wie „Seven Pleasures“, die Ingvartsen zu einer der interessantesten zeitgenössischen Choreographinnen machen, ist dieses Solo weit entfernt
https://daskulturblog.com/2022/08/20/the-dancing-public-mette-ingvartsen-tanz-kritik/
Ganz in Blau, wie der Titel "Navy Blue" verspricht, sind die 12 Tänzer*innen auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Ihre Arbeiterkluft, in die sie gesteckt, erinnert an den maoistischen Einheits-Look. Traumverloren und schwermütig sind die Klänge aus Sergej Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert in c-Moll. Düster – fast ganz in Schwarz getaucht – ist auch das Bühnenbild.
Oona Doherty litt ab 2019 einer Depression, als sie dieses Stück vorbereitete. Auch Rachmaninoff litt unter einer Schaffenskrise und depressiven Schüben, als er sein Klavierkonzert komponierte. Dieses Werk entdeckte sie in der Isolation des Corona-Lockdowns für sich. Von der Verzweiflung und der Schwermut ist an diesem einstündigen Abend viel zu spüren.
Oft gerät die neue Inszenierung von Doherty, die im vergangenen Jahr bei der Tanzbiennale in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde, gefährlich nah an plakativen Kitsch. Schüsse hallen aus dem Dunkel, die Performer*innen lassen sich mit schmerzverzerrten Gesichtern allzu theatralisch fallen.
https://daskulturblog.com/2022/08/19/navy-blue-oona-doherty-tanz-kritik/
Zwischen Comedy, Kindergeburtstags-Mitmach-Aktionen des Publikums, Video-Installationen, ausgelassenen Tanz-Einlagen in traditionellen afrikanischen Gewändern und wenigen stillen Momenten schaltet "We wear our wheels with pride" von Robyn Orlin in der Volksbühne hin und her. Als Party funktioniert das Gastspiel gut, das ernste Anliegen (Erinnerung an kolonialstische Ausbeutung von Rikscha-Fahrern) geht über weite Strecken des Abends verloren.
https://daskulturblog.com/2022/08/18/we-wear-our-wheels-with-pride-robyn-orlin-tanz-kritik/