Verrückt nach Trost - Salzburger Festspiele
Oktopus und Pflegeroboter
7. August 2022. Thorsten Lensing ist wieder ausgezogen, um mit seinen Bühnen-Vertrauten ein gutes Stück Leben zu erobern. Dazu gehört auch das Sterben. Bevor es aus ist, gieren alle nach positivem Zuspruch. Das erste Mal hat Lensing selbst einen Theatertext geschrieben – eine Folge von Psycho-Etüden zwischen Komik und Melancholie.
Von Reinhard Kriechbaum
7. August 2022. Ein vorletzter Wunsch? Wenn's denn sein muss, dann bitte, bitte einen Pflegeroboter in der Gestalt und mit dem Charisma von André Jung. Dann ist jedenfalls gesichert, dass die Seele nicht leer ausgeht. Von allen denkbaren Humanoiden ist er der Menschlichste.
Erotischer Kurzschluss
Einen Kuss noch wünscht sich Ursina Lardi als Charlotte, die wir dreieinhalb Stunden zuvor als zehnjähriges Waisenkind kennen gelernt haben. Und diesen Kuss gibt's tatsächlich. "Ich vergesse fast, dass Du ein Roboter bist", seufzt sie. Und er mit aufrichtigem Augenaufschlag: "Ich auch." Soll's bei dieser Begegnung mit sorgsam trockengetupften Lippen bleiben? Der Pflegeroboter täte schon wollen, aber mehr darf nicht sein, Charlottes Herz würde nicht mitspielen, sagt sie. Er drauf: "Wär's so schlimm?" Aber wer weiß, was mit seinem elektronisches Innenleben passierte beim ultimativem erotischen Kurzschluss.
Thorsten Lensing ist ein begnadeter Roman-Dramatisierer. Für Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" hat er 2014 den Friedrich-Luft-Preis für die beste Berliner Aufführung bekommen. Seine Bühnenversion von David Foster Wallace' "Unendlicher Spaß" war beim Berliner Theatertreffen 2019 zu sehen. Für die Frage, die ihn gerade umtreibt – die Erkundung einer urig bunt schillernden Grau-Welt zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht – ist ihn möglicherweise keine literarische Vorlage angesprungen. Vielleicht hat er auch bloß nicht suchen wollen. Oder es ging ihm darum, seine vier Lieblingsschauspieler – Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg und André Jung – mit Steilvorlagen für ausgelassenes Spiel mit trickreichen melancholischen Sidekicks zu beschenken.
Zwei Schuhnummern zu groß
Wie auch immer: Es braucht seine Zeit, bis die Figuren einigermaßen eingeführt, ihre Charaktere entwickelt sind. In simplen szenischen Settings, die plötzlich am Surrealen streifen. Aber dann, nach der Pause, entwickeln sich gediegen fokussierte Dialoge, ruhig und stringent, die an Grundfragen des Mensch-Seins rühren. Das ist immer auch sehr witzig. Es wird ganz viel gelacht an dem Abend, in den scheinbar tristesten Situationen. Aber dieses Lachen wird immer auch überdeckt, erstickt durch Nachdenklichkeit. Da sind keine aufgeplusterten Tragöden auf der Bühne, keine aufdringlichen Selbstbemitleidigungen. Verrückt nach Trost sind sie samt und sonders, weil ihnen allen das Leben irgendwie um ein bis zwei Schuhnummern zu groß, zu undurchschaubar geworden ist. Unverschuldet hocken sie in ihren erst dunklen, dann nach und nach liebevoll ausgeleuchteten Seelen-Kämmerchen. Bühnenbildner Gordian Blumenthal hat eine riesige metallene Walze hinten quer über die Bühne gestellt. Wohl rennen einige vergebens gegen das Unding an – aber keine Sorge, niemand wird plattgewalzt.
Da sind gleich zu Beginn die Geschwister Charlotte und Felix (Ursina Lardi und Devid Striesow), zehn und elf Jahre alt. Sie schlüpfen in die Rolle der Eltern, parodieren sie auffallend liebevoll. Es stellt sich heraus, dass die Eltern tot sind. Da gewinnt das kindliche Rollenspiel ("So wie Papa es bei Mama gemacht hat") eine prägende Dimension voller Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung. Ein Taucher (Sebastian Blomberg) schneit herein. Er ist einer, der im Wortsinn abtaucht aus dem Leben. "Meine Frau hat vergessen, mich zu verlassen", wird er einem wortgewandten Oktopus anvertrauen. Auf dessen Meinung gibt der Taucher viel, und das Tier ist nicht wortfaul. "Neun Gehirne, drei Herzen, acht Arme", da kann man schon beitragen zum Dechiffrieren der Welt.
Gefühlsleben
Dem unterdessen längst erwachsenen Waisenkind Felix (Devid Striesow) ist ein erhebliches Beziehungsdefizit geblieben. Sexuelle Erfüllung findet er auch nicht bei einem, ihm immerhin geduldig zuhörenden, Mann, der wieder von André Jung gespielt wird. Wir könnten nun auch von Kugelfischen und falschen Clownfischen erzählen, aber wir erfahren etwas über das Gefühlsleben von Kühen am Tag, da sie geschlachtet werden. Striesow hat eine tolle Szene als Beschreiber unterschiedlicher Wetterlagen, die natürlich für Gefühlslagen stehen. Und die Finalszene mit der, nun im Altersheim ansässigen, Charlotte und ihrem Pflege-Roboter! Thorsten Lensing und die vier gar wundersam flexiblen Darsteller sind genaue Menschen- und Tierbeobachter und liefern pantomimische Kabinettstücke. Dieser Roboter ist ganz Mensch, hier darf er's sein. Solch einen an der Seite zu haben – das ist der ultimative Trost.
Erlösung
"Wir werden alle erlöst", schreit Ursina Lardi zuletzt immer und immer wieder hinaus. Das klingt wie Musik in den Ohren des Publikums, das keineswegs umsonst einen alles andere als kurzen Theaterabend im Max Schlereth Saal der Universität Mozarteum durchgesessen ist. Ein eher leises Wundertheater zwischen Alltag und Überhöhung, zwischen gut situiertem Situations- und Dialog-Witz und melancholischen Abstürzen. Nach dem Reigen und Ingolstadt die dritte Festspiel-Premiere der Salzburger Festspiele, hintergründig getarnt als Burleske.
Verrückt nach Trost
von Thorsten Lensing
Regie: Thorsten Lensing, Mitarbeit Regie: Benjamin Eggers-Domsky, Bühne: Gordian Blumenthal, Ramun Capaul, Kostüme: Anette Guther, Dramaturgie: Dan Kolber, Thierry Mousset.
Mit: Sebastian Blomberg, André Jung, Ursina Lardi, Devid Striesow.
Uraufführung am 6. August 2022
Dauer: 3 Stunden 35 Minuten, keine Pause
www.salzburgerfestspiele.at
Kritikenrundschau
Der Abend hätte einen heiter-melancholischen Grundton, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (8.8.2022). "Immer ist oder droht da irgendwo der Tod, und immer kommt Lensings Theater ihm mit Zärtlichkeit und Komik bei." Das sei anfangs noch ein bisschen albern, rühre einen aber zunehmend. Dössel betont auch die großartige Schauspielleistungen des Ensembles – besonders in den Tierrollen, "sie sind grandioses Schauspielerfutter. Sie bringen aber auch eine andere Perspektive und dadurch einen ganz eigenen Zauber ins Spiel".
Lardi und Striesow hätten als Charlotte und Felix "Illusionismus ohne Illusion, Zauberei ohne magisches Tuch, Kaninchen ohne Zylinder oder einfach nur die Kernkompetenz des Theaters" gezeigt, schreibt Uwe Mattheiß im Standard (8.8.2022). Dies ziehe sich durch die vollen dreieinhalb Stunden "Bühnen-Séance", die sich auf nichts anderes verlasse als seine eigene Behauptungskraft.
Der Abend sei ungewöhnlich und komisch, deswegen bleibe man dran, sagt Martin Thomas Pesl in der Sendung Fazit von Deutschlandfunkkultur (6.8.2022). Pesl vermisse aber schmerzlich etwas, dass über das Poetische und die Feier der Schauspielkunst als Selbstzweck hinaus gehe. Das sei bei Lensings Romanadaptionen (von Dostojewski und Wallace) anders gewesen, da damals die Entwicklungen der Autoren mit erörtert wurden. Phänomenal seien allerdings die Schauspieler:innen.
Auf ORF.at (7.8.2022) findet Sophia Felbermair, dass, obwohl "Verrückt nach Trost" viele Fragen aufwerfe und diese offen lasse, "drängt es gleichzeitig keinen Wunsch nach Antworten auf". Trotz aller "charmanter Ideen und viel Sprachwitzes" sei es wohl trotzdem nicht unbedingt der Text, der von diesem Abend in längerer Erinnerung bleiben werde, prognostiziert die Rezensentin: "Die 'Erlösung für alle', die Lardi mit den Schlussworten in der Rolle der 88-jährigen Charlotte verspricht, kommt vielleicht einfach durch dreieinhalb Stunden großer Schauspielkunst."
"Ist solch intensives Schauspielertheater schon wieder Avantgarde?“, fragt Sandra Kegel in der FAZ (19.8.2022). Das Ensemble balanciere geschickt auf dem schmalen Grat zwischen Anarchie und Ernsthaftigkeit.
"Manchen Szenen täte Kürzung gut, die Dialoge leiden ein wenig an der einheitlichen Flapsigkeit, die Lensing seinen Figuren verordnet, und bisweilen winkt Bruder Kitsch dem Spiel aufmunternd zu. Dennoch glückt dieser Abend", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (18.8.2022).
"Was für ein wunderbarer, was für ein wunderlicher Salzburger Schauspielertheaterabend! Es bleibt nicht allzu gewagt, ihm eine gute Chance für die Nominierung zum nächsten Berliner Theatertreffen einzuräumen", schreibt Rüdiger Heinze in der Augsburger Allgemeinen (7.8.2022). "Es gibt sie eben weiterhin neben dem partizipativen Diskurstheater: die rückhaltlose Begeisterung und Bewunderung für Schauspielertheater von Könnern ihres Fachs." Und Heinze gibt sich sogleich selbst die Ehre: "Es ist die reine Freude. Über den Abend spannt sich ein so beseelter wie tragikomischer Himmel der Intuition und des 'Als ob'." "Ernst, vergnüglich, großartig."
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Wirklich toll!
Das Meer ist eine Pipeline, bestimmt kein gewolltes Bild. Oder doch?
Unsere Chance ist verspielt, ein Fazit?
Nicht zu hoch greifen!
Unser Ziel ist doch einfach nur: "Verrückt nach Trost!"
Und damit begeben wir uns auf einen Kurs der Hoffnung, erlöst zu werden.
Das ist ein Trugschluss, am Ende und er ist folgerichtig in dieser Inszenierung.
Seine besseren Passagen hat der überlange Abend in der zweiten Hälfte: die Szenen werden dialogischer und dichter. Witzig und berührend sind Jung und Striesow als Liebespaar, Lardi legt als Oktopus, die sich über die Ungerechtigkeit ihres kurzen Lebens beklagt, das gelungenste Solo hin. Zum Schluss versinkt der Abend zu sehr in Kitsch, was in Lardis „Wir werden alle erlöst“-Beschwörungsmantra gipfelt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/10/verrueckt-nach-trost-thorsten-lensing-sophiensaele-kritik/
Mir ist es durch Werbung nicht aufgefallen, sondern durch Mundpropanganda (auf heutigem Wege).
Wie ein so hochbesetztes und dann noch so tolles Stück nicht in Hamburg an jeder Ecke hängt oder anderweitig auftaucht ist mir ein Rätsel!
Ich freue mich dieses Juwel gesehen haben zu dürfen.