Medienschau: Die Welt – Zu den Veränderungen beim Berliner Theatertreffen

"Abschaffung der Eigenart"

"Abschaffung der Eigenart"

13. August 2022. Besonders sei das Theatertreffen als Festival aufgrund der "künstlerisch begründeten Auswahl durch die professionelle Theaterkritik“, die sich selbst einer Kritik aussetze und ihre Auswahl streitbar begründe, schreibt Jakob Hayner in der Welt (€).

Auch wenn das Theatertreffen manchmal hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe und sich in den vergangenen Jahren "eine neue Biederkeit beobachten" lasse – "von ästhetisch bemerkenswert verschiebt sich der Fokus immer mehr zu moralisch wünschenswert" –, kämen des neuen Intendanten Matthias Pees’ Pläne zur "Neuausrichtung des Theatertreffens als gesamteuropäisches Festival ohne Kritikerjury" einer "Abschaffung der Eigenart des Theatertreffens" gleich.

Ersetzt werden solle die "Kritikerjury durch einen (sic) Dramaturgenkollektiv oder ähnliches", so Hayner zum neuen Viererteam an der tt-Spitze. Mit Blick auf andere Osteuropa-Festivals und die Präsenz osteuropäischer Künstler:innen an deutschsprachigen Bühnen fragt der Welt-Autor: "Worin also sollte der Sinn liegen, das Theatertreffen künftig mit einer Aufgabe zu versehen, die an anderer Stelle längst geleistet wird, die aber vorhersehbar dazu führt, dass es seine bisherige nicht mehr weiterführen kann?"

Als einen Grund für die Neuerungen sieht Hayner auch ein schwindendes Ansehen der Theaterkritik im Betrieb: "Der Umgang mit der Theaterkritik durch die Theatermacher ist inzwischen von desinteressierter Ignoranz zu offener Verachtung übergegangen." Die Hamburger Intendantin Karin Beier habe die Kritik als "Scheiße am Ärmel der Kunst" bezeichnet, ihre Kollegin Amelie Deuflhard von Kampnagel Hamburg habe befunden, "dass die Theater über die eigenen Kanäle sowieso effektiver kommunizieren könnten", so Hayner. "Eine deutende und diskutierende Kritik gehörte einmal notwendig zur Kunst, doch die Theaterwelt meint, darauf verzichten zu können."

(Die Welt / eph)

 

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Kommentare  
Medienschau Theatertreffen: Symptom der Selbstabschaffung
Dann könnte man ja das Format an einem anderen Ort neu beleben. Die Neuausrichtung des Berliner Theatertreffens ist meiner Ansicht nach ein völliger Irrweg, aber wie heißt es so schön: Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis tanzen. Leider geht es dem hier gemeinten Esel nicht mehr so gut, außer vielleicht in der Selbstzuschreibung. Das Eis wird ihn jedenfalls nicht tragen. Und nach dem Publikum nun die Kritik zu verachten, ist nicht besonders klug. Als nächstes trifft die Verachtung die Autoren und zum Teil auch die Schauspieler. Somit ist das neu gestaltete Theatertreffen bloß ein Symptom der von manchen betriebenen Selbstabschaffung. Gute Nachricht: Dieter Hallervorden wird auch das überleben und weiter Theater spielen, während jene, die in der Selbstabschaffung die nötige Basis für einen tabula-rasa-artigen Neuanfang sehen, meiner Ansicht nach scheitern werden, und zwar ziemlich krachend.
Medienschau Theatertreffen: Stachel
Die Verachtung der Kritiker*innen, zum Ausdruck gebracht durch so prominente Protagonist*innen wie Deuflhard und Lilienthal, aber eben auch dezidiert durch Herrn Pees, der im nachtkritik-Interview mal eben ihre Unabhängigkeit anzweifelt ist ein neuer Tiefpunkt der Selbstherrlichkeit der um sich selbst kreisenden Theaterszene. Im Kern geht es um Macht. Das Verhalten erinnert an machtbesoffene Politiker*innen, Ministerpräsident*innen..., die nicht ertragen können, dass sich eine freie Presse ihrer Macht entzieht. Der Versuch das tt als DIE Institution der deutschen Theaterlandschaft zu entmachten bzw. durch den Betrieb zu vereinnahmen erinnert an die regelmäßigen Versuche der Politik die öffentlich rechtlichen Medien in ihrem Wirken zu beschneiden (wie es jüngst wieder durch Friedrich Merz aktuelle Forderungen). Es wäre wünschenswert, dass Medien wie nachtkritik.de darauf eine deutliche Antwort finden. Wie war das gleich mit Herrn Peymanns "Stachel im Arsch der Mächtigen"? Das seid jetzt Ihr, die Unabhängigen, nur sich selbst verpflichteten Beobachter*innen...
Medienschau Theatertreffen: Publikumsjury
Eine wirklich gute und sinnreiche Neuerung für das Theatertreffen hätte ich gefunden, wenn nach dem Beispiel der Berlinale eine der Kritikerjury als gleichwertig finanziell gestützte Publikumsjury eingeführt worden wäre. Eine, die aus eingehenden Bewerbungen zusammengestellt wird, bei der die diversen BewerberInnen lediglich das Nichtvorhandensein eines Theaterrbetriebsbezuges nachweisen müssten sowie als Jury ihre eigene Liste einzureichen und in den Panels und Beratungen mit gleichberechtigter Stimme neben den KritikerInnen mitzusprechen hätte.

(...)
Medienschau Theatertreffen: Publikums-Aufsichtsrat
Das, lieber Vorredner, ist eine echt richtig gute Idee. Ich selbst war ja in der Jury und habe mir auch währenddessen immer wieder ein aktives, kundiges Publikums-Korrektiv gewünscht, um die eigene Wahrnehmung mal wieder schön auf den Boden zu holen. Für den Anfang könnte ich mir eine - bis drei Personen vorstellen, die vielleicht sogar jährlich wechseln, und das im wahrsten Sinne des Wortes "outside eye" bilden - quasi eine Art Publikums-Aufsichtsrat. Allerdings können sich Betriebsfremde, die zudem keine beruflichen Kritikerinnen sind, das Herumreisen rein zeitlich natürlich gar nicht wirklich leisten... aber es wäre schön, genau über so etwas mal offensiver nachzudenken. Als Ergänzung, nicht als Ersatz, wohlgemerkt.
Medienschau Theatertreffen: Schlechtes Beispiel Berlinale
@4: Mich wundert, dass Sie für Ihren Vorschlag ausgerechnet die Berlinale als Beispiel heranziehen.

Die Jury, die bei der Berlinale die Bären vergibt, setzt sich nur aus A-C-Promis der Filmbranche zusammen, das Publikum hat hier keine Mitsprache.
Medienschau Theatertreffen: Mitsprache paritätisch
#4: Geschätzte Dorothea Marcus, es freut mich, dass Ihnen die Idee gefällt. Es freut mich immer, wenn KritikerInnen ein Korrektiv ihrer individuellen Wahrnehmung als Bereicherung empfinden. Wir haben ja einen großen Bevölkerungsanteil, der nicht mehr oder noch nicht - aus verschiedenen Gründen, die in den letzten zwei Jahren erheblich mehr Gründe geworden sind - im Berufsleben stehen und die deshalb Zeit haben zumindest bestimmte Regionen bereisen zu können. Eine Institution, die sich einen Generalintendanten und mehrere kuratierende Intendantinnen gleichzeitig leisten kann, hat auch das Geld bzw. die Kompetenz, es zweckgebunden für diesen Fall zu bekommen, um solchen ausgewählten Personen Reisekosten und Tickets zu finanzieren, sowie sich an deren Unterbringungskosten wo nötig zu beteiligen. GARANTIERT.

#5: Das ist wohl wahr, aber es gibt jedes Jahr eine Publikumsjury, für die sich filmbegeisterte Menschen bewerben können, die mit dem Filmbetrieb nichts zu tun haben. Und zwar Menschen jeder Altersklasse und jeder sozialen Schicht angehörend und unabhängig von etwa ihren Bildungsabschlüssen... Und das finde ich schon richtig gut.
Mitsprache paritätisch neben der Kritikerjury ist meine beispiellose Vorschlags-Zutat gewesen, ich wäre aber - soviel Beispiel darf man der Berlinale vielleicht zugestehen - auf den Vorschlag nicht gekommen, wüsste ich nicht um diese Publikumsjury und das Bewerbungsprozedere...
Medienschau Theatertreffen: Mut zur Expertise
Kuratoren sind davon überzeugt, dass sie bessere Entscheidungen fällen als Kulturpolitiker. Kritiker sind davon überzeugt, dass sie bessere Entscheidungen fällen als Kuratoren. Nicht-Kritiker sind davon überzeugt, dass sie bessere Entscheidungen fällen als Kritiker. Sollte man nicht aufhorchen, wo eine Gruppe ihre eigene Sach' betreibt und Scheinargumente nachschiebt oder auch im Vertrauen auf die Evidenz darauf verzichtet. Wenn aber eine Kritikerin nach dem Publikums-Korrektiv ruft, mag das demokratisch klingen. Ist es auch zielführend? Das Publikum stimmt ja an den Theaterkassen ab, und was dabei herauskäme, wenn man ihm z.B. die Auswahl für das Theatertreffen überließe, kann man in jenen Ländern ablesen, deren Spielpläne vom kommerziellen Erfolg, also von der Zustimmung des Publikums, abhängig sind. Will man das? Ist es nicht sinnvoller, sich dem unsympathischen Vorwurf der Arroganz auszusetzen und auf Kenntnisse und Erfahrungen zu pochen? Auch in der Politik würden manche Entscheidungen erschreckend ausfallen, wenn man sie dem "Publikum" überließe anstatt den Politikern und den politischen Kommentatoren, so fragwürdig und kritisierbar sie sein mögen. Wer möchte eine Wette darauf abschließen, wie eine anonyme Umfrage zu dem aktuellen Fall Abbas-Scholz ausfiele?
Medienschau Theatertreffen: Klingt nach Dercons Volksbühne
Das klingt ein wenig nach der Volksbühne von Chris Dercon.
Medienschau Theatertreffen: Zeitungen schaffen Kritik ab
Die Theaterkritik wird doch durch die Zeitungen selbst abgeschafft, und nicht durch Matthias Pees. Die Nachfrage ist einfach gesunken.
Medienschau Theatertreffen: Apparat nicht aufblähen
Habe ich es richtig verstanden? Das Theatertreffen möge nicht nur durch die Kuratorinnen bestimmt werden, sondern dazu von der Theaterkritik, die wiederum ein "Korrektiv" durch Teilmengen des Publikums erhalten? Wie aufgebläht soll der Apparat eigentlich noch werden?
Während die Theater von Publikumsschwund geprägt sind, wächst - nach Vorbild der Politik - die Sphäre der Bürokraten und Funktionäre. Okay, das bringt natürlich Jobmöglichkeiten. Macht es das gebotene Theater aber attraktiver? Das glaube ich nicht, das zeigt der Publikumsschwund.
Und die aktuelle documenta fifteen demonstriert, was passiert, wenn der Apparat irgendwann alles dominiert. Niemand mehr ist für irgendetwas verantwortlich - und das Ergebnis ist künstlerisch belanglos und stellenweise sogar peinlich. Um sich den Vorwurf des Antisemitismus einzuhandeln, benötigte es hier auch keine "Normalbürger" oder "gesundes Volksempfinden", sondern das haben etliche politisch sicher nicht rechts zu verortende Kunstexperten schon selbst angerichtet.
Wenn schon, wäre das Festival von Avignon ein Vorbild. Auch in der schlanken Organisation. Und im Publikumszuspruch. Die Auslastung beträgt übrigens 92 Prozent! Wie sieht die Auslastung bei ähnlichen Gelegenheiten in Deutschland aus? Eben ...
Durchaus amüsant finde ich das Misstrauen gegenüber dem Publikum. Es gibt den alten Theatergrundsatz: "Das Publikum hat immer recht." Theater ohne Publikum ist keines, sondern bestenfalls eine Probe. Theater, das sich vom Publikum abkoppelt und wo die Theaterbubble an ihre eigene Überlegenheit glaubt, arbeitet an der Selbstabschaffung. Nicht bloß finanziell, sondern auch inhaltlich und formal.
Medienschau Theatertreffen: immer die Selben
Ehrlich. Ich bin nicht voller Schadenfreude. Aber ist es nicht völlig egal, wer die Auswahl trifft, wenn abwechselnd nur Kuratoren und Innen, Dramaturgen und Innen, wahlweise KritikerInnen oder SchauspielerInnenfreunde im Zuschauerraum sitzen? Und wenige aus deren Dunstkreis. - Meine letzte Veranstaltung war „Eleos“ von Caren Erdmuth Jeß am DT bei den Autorentheatertagen. Die ZuschauerInnen waren so überschaubar, dass selbst ich noch die Hälfte vom Sehen kannte. Völlig egal wer entscheidet. Momentan sind es immer die Selben. Und, falls man deutsche Texte nicht in Belgien durchsetzen kann und kaum noch jemand europäische AutorInnen kennt oder auch RegisseurInnen? Wen meinen die Kuratoren und Innen ins Theater locken zu können, die nicht schon von Dramaturgien und KritikerInnen angefixt wurden? Was meinen sie wirklich besser zu können?
Medienschau Theatertreffen: Arbeitsmarkt
@martin baucks: Ich denke, es geht einerseits darum, Jobs zu schaffen und zu besetzen. Über etliche Jahre hinweg haben Leute studiert und sich ausbilden lassen und mehr oder minder mühsame Praktika absolviert, und nun stellen sie den Anspruch, im Betrieb unterzukommen. Ob und welche Ergebnisse dies zeitigt, interessiert zunächst niemanden (das ist klassisches Behördendenken, wo man an Abläufen interessiert ist, nicht an Resultaten).
Und andererseits imitieren Teile des deutschen Theaters die Verhältnisse in der bildenden Kunst. Formal, aber auch strukturell. Dort büßt der zeitweilig vergötterte Kurator mittlerweile wieder seine Bedeutung ein (auch, weil es inzwischen so viele kuratorisch tätige Menschen gibt, dass kaum jemand noch unverwechselbare Spuren hinterlassen kann). Das deutsche Theater durchläuft diese Entwicklung mit 20 Jahren Verspätung.
Der Unterschied ist allerdings: Es gab und gibt immer einen durchaus vielfältigen Kunstmarkt. Insgesamt kämpfen verschiedene Fraktionen darum zu bestimmen, welche Art von Kunst gerade relevant ist. Das Theater hingegen hat keinen Markt, und der sich als zeitgemäß verstehende Teil des deutschen Theaters ist eine überschaubare Insiderveranstaltung, eine um sich selbst kreisende Bubble mit ästhetisch limitierter Bandbreite und ohne Korrektiv sowie mit nur gelegentlichem internationalem lnput. Das macht die Sache so dröge. Und während das Publikum bei den Museen, Ausstellungen, Messen usw. durchaus eine gewichtige Rolle spielt, wird es im deutschen Theater mitunter geringgeschätzt oder gar ignoriert. Das lässt mich vermuten, dass diese Entwicklung keine besonders erfolgreiche zu werden verspricht - weil sie an den Menschen außerhalb der Bubble vorbeigeht, die in der Folge fernbleiben.
Medienschau Theatertreffen: Bitte keine Verknotung
Liebe NK und liebe NK Community, ich fand den ersten Beitrag von Rakow interessant, für meine Begriffe zwar etwas zu alarmistisch und etwas vorschnell, aber darum geht es nicht, und Rakow argumentierte präzise. Nur fürchte ich jetzt, dass Ihr Euch schon wieder etwas verknotet und die offenen (wichtigen) Fragen des Anfangstextes so lange wiederholt, bis daraus plötzlich Gewissheiten werden. Bitte passt auf, dass Ihr nicht schon wieder auf einen Wagen aufspringt, Dinge zu verhindern, bevor überhaupt klar ist, inwiefern sie passieren.
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