Medienschau: FAZ – Publikumsschwund aus Kulturmüdigkeit?

Kultur als Seismograph

Kultur als Seismograph

22. August 2022. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung macht Mark Siemons sich Gedanken über die tieferen Ursachen des Publikumsschwunds, den Kulturinstitutionen aller Couleur zu beklagen haben. "An der Pandemie kann es kaum mehr liegen, blickt man auf den Trubel in den Einkaufszentren, und die Vermutung, die Leute schauten jetzt lieber Netflix, wird durch dessen weltweit sinkende Abonnentenzahl nicht bestätigt", schreibt Siemons.

Und weiter: "Kultur als Gewohnheit: Das sind all die vertraut gewordenen Codes, Milieus, Umgangsformen, Normen, die die Teilnahme an einschlägigen Veranstaltungen, unabhängig von deren Gelingen oder Misslingen im Einzelnen, grundsätzlich als attraktiv erscheinen lassen – oder eben auch als entbehrlich. So betrachtet, könnte die aktuelle Kulturmüdigkeit ein Symptom dafür sein, dass die Gewohnheit einerseits und die durch Corona und den Krieg in der Ukraine veränderte äußere Realität andererseits als irgendwie nicht mehr ganz zueinander passend empfunden werden."

Müdigkeit als Akt der Resistenz sei in der Kultur vor Corona ein beliebtes Thema gewesen (Handke, Byung-Chul Han, Ottessa Moshfegh), "nun scheint sie die Kultur selbst erfasst zu haben", so Siemons: "Und selbst darin könnte sich die Kultur als Seismograph erweisen. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass die Schocks durch Krieg und Pandemie in den fortbestehenden, so schnell wie nur irgend möglich wieder aufgenommenen öffentlichen Routinen bisher kaum einen Ausdruck gefunden haben, der ihrer realen Dringlichkeit entspricht."

(FAZ / sd)

Kommentare  
Medienschau Kulturmüdigkeit: Thema verfehlt
Ich glaube ja, dass der Besucherschwund daran liegt, dass die Theater nicht mehr die Themen aufgreifen oder treffen, die die Menschen derzeit umtreiben. In meinem Umfeld - Akademiker, Geisteswissenschaftler - geht niemand mehr ins Theater (Schauspiel). Sie waren "nach Corona" durchaus alle einmal da, fühlten sich aber gar nicht angesprochen von dem, was da verhandelt wurde. Hinzu kommt die große Erschöpfung der Menschen. Man ist eh schon fix und fertig, und soll dann noch in einen der oftmals dystopischen Abende gehen? Dazu reicht bei vielen einfach die Kraft nicht mehr.

Die Menschen, die vorher in die Oper oder ins Konzert gingen, gehen aber fast genau so regelmäßig dorthin wie vor 2020.

Ich weiß, das ist lediglich "anekdotische Evidenz", aber womöglich trifft diese Beobachtung dann doch für größere gesellschaftliche Schichten zu.
Medienschau Kulturmüdigkeit: Theater bleibt zurück
Eine moralische Anstalt hat keinen wirklichen Unterhaltungswert und wenn, dann nur für diejenigen, deren Moral dort bestätigt wird. In dem Sinne muss der gesellschaftliche Konsens und die Gruppe derer, die die Corona Maßnahmen auch heute noch gut heißen und zu deren Vertreter sich die Theater machten, weitaus geringer sein als anfänglich angenommen. Zumindest treibt es sie nicht scharenweise in die Schauspielhäuser zurück. Nach der Schocktherapie, dass man sich gar nicht mehr in großen Gruppen in geschlossenen Räumen treffen kann, folgt nun die Ernüchterung und die Frage: Wozu sich überhaupt dort treffen? Jedes Handy bietet einen höheren Unterhaltungswert und der Widerspruch vieler Moralisten und Innen besteht darin, dass sie trotz ihrer Moral gerne unmoralisch unterhalten werden wollen. Dazu sind öffentliche Räume eher ungeeignet. Der geschlossene Kulturraum wurde also durch die Pandemie mehrfach beschädigt und er bedient die Unmoral der Moral nicht mehr, da er öffentlich ist und diese Öffentlichkeit neu definiert wurde, als aseptisch, woke, politisch korrekt und asexuell, oder besser gesagt unerotisch. Von daher ist er in seiner ehemaligen Funktion als Ort der Anarchie, des Circensischen und Bakkchantischen und der Freiheit der Kunst unbrauchbar geworden. Und in seiner neuen Funktion ist er zu wenig etabliert und hat zu viel Konkurrenz im akademischen Bereich und in den Medien. Das Theater hat einfach nicht die Pole Position in der Vermittlung moralischer Werte. Dem steht die Geschichte des Theatralen entgegen, die bis heute noch stärker wirkt als die jetzige Neudefinition. Die Theatralik verlässt also allmählich den Ort seines Ursprungs und wandert ab in andere und neue Medien, in denen das Publikum zum Teil sogar ohne große Umstände selbst zum Akteur werden kann, wie man auf YouTube und TikTok sehr gut erleben kann. Und dort wird erheblich mehr Widerspruch geduldet als im Theater selbst. Das Schauspiel bleibt dahinter zurück. Ein rückständiger Ort der eindimensionalen Moralvermittlung, ohne jedes heutiges Temperament. Ein Ort für Eiferer.
Medienschau Kulturmüdigkeit: Damit lässt sich arbeiten
Dieser Satz ist gut von Mark Siemons: „Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass die Schocks durch Krieg und Pandemie in den fortbestehenden, so schnell wie nur irgend möglich wieder aufgenommenen öffentlichen Routinen bisher kaum einen Ausdruck gefunden haben, der ihrer realen Dringlichkeit entspricht." - Damit lässt sich in den Theatern gut arbeiten!
Medienschau Kulturmüdigkeit: Weltweites Phänomen
Das Phänomen Publikumsschwund ist nicht auf Deutschland begrenzt. Auch die NYT berichtet gestern über massive Einbrüche bei den Besuchen. Und nicht nur im Schauspiel, wie hier teils insinuiert wird. Auch Oper und Konzerte sind betroffen, ebenso wie die eher "leichte" Unterhaltung am Broadway. Wobei dort erschwerend hinzukommt, dass die Touristen noch nicht vollumfänglich zurückgekehrt sind ... Eine neue Untersuchung auf Basis der IMPACT-Zahlen von Colleen Dillenschneider (https://www.colleendilen.com) zeigt, dass ein neuer Hinderungsgrund für den Besuch von Veranstaltungen hinzugekommen ist (für D vielleicht nicht so ganz relevant): Vermeidung der massiv erhöhten Reisekosten ...
Fakt ist aber: nichts genaues weiß man nicht, es gibt aber viele Vermutungen. Vielleicht handelt es sich um ein Multiorganversagen. Klar ist auch: wenn im Herbst die Säle nur noch auf 19° Grad beheizt werden dürfen, werden eher noch mehr Zuschauer:innen wegbleiben ...
Medienschau Kulturmüdigkeit: Nicht vorbei
@#4 Das ist auch ganz klar mein Eindruck, das deckt sich voll mit den Zahlen aus der NYT.
Die Theater, Opernhäuser, Ballett- und Konzertsäale, Museen, Ausstellungen, ja sogar die Musicals und Kinos sind bis auf leider wenige Ausnahmen ganz deutlich schlechter besucht als vor der Pandemie.
Wie alle hier kann ich auch nur spekulieren, was die Gründe dafür sind. Ich vermute:
1. PANDEMIE Die Pandemie war und ist eben für viele noch nicht vorbei. Bis in den frühen Sommer waren die Zahlen ja noch relativ hoch, und damit sicher viele Leute zumindest noch etwas vorsichtig. (Ich selber habe mir auch oft überlegt, ob ich wirklich mit hunderten von Menschen für 2 Stunden in einem geschlossenen Raum sitzen will, wenn ich am nächsten Tag ältere Verwandte besuche. Und bin dann nicht ins Theater gegangen). Besonders im Herbst, Winter und Frühjahr war die Pandemie in diesem Jahr noch in vollem Gang.
2. JAHRESZEIT Und im Hochsommer, als die Pandemie dann endlich ein bisschen nachgelassen hat, gehen eben die meisten nicht gerne auf Kulturveranstaltungen in Innenräumen.
3. FINAZIELLE EINBUSSEN DURCH DIE PANDEMIE Viele Menschen mussten und müssen in den letzten 2 Jahren aufgrund der Pandemie in zahlreichen Branchen finanzielle Einbußen hinnehmen, sei es durch Kurzarbeit, reduzierte Stundenzahlen, Auftragseinbrüche bei Selbstständigen etc. Das für die Freizeitgestaltung verfügbare Kaptial ist dadurch natürlich ebenfalls reduziert.
3. INFLATION Die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten durch die starke Inflation führen sicherlich dazu, dass sich viele Menschen sehr genau überlegen, wofür sie ihr ohnehin knappes Geld ausgeben. Und da wird halt ein Besuch einer Kulturveranstaltung, der sich ja schnell für 2 Leute auf über 100€ belaufen kann, als eine einfache Möglichkeit zum Sparen betrachtet. Für 2 Durchschnittszuschauende, die vllt. alle 6-8 Wochen von Oktober bis April ins Theater gehen, lassen sich da 400-500€ einsparen. In der aktuellen Lage ein nicht ganz unerheblicher Betrag. Da entscheiden sich dann sicher viele, lieber mit ein paar Freund*innen zu Hause zusammenzusitzen, als erst ins Theater oder Kino und danach vielleicht noch zum Essen zu gehen. Das ist vielen zur Zeit einfach zu teuer, denke ich.
4. VERKOPFT? Ob, wie in einigen obigen Beiträgen angedeutet, auch eine zu verkopfte und zerebrale Spielplan-Gestaltung bzw. nicht zugängliche Umsetzung der 'Kopfkonzepte' ebenfalls ein Faktor ist, der das Publikum abschreckt, kann ich nicht gut genug beurteilen. Dagegen spricht für mich, dass die eher 'leichte' Unterhaltung (Kino, Musical, Sommertheater, etc., ja selbst Netflix) ebenfalls Zuschauerprobleme hat.
Medienschau Kulturmüdigkeit: Sommertheater
Auch nur anekdotische Evidenz, aber immerhin: Die Sommertheater sind gut besucht, bzw. ausverkauft.
Medienschau Kulturmüdigkeit: Tickets
Auch nur anekdotisch: für die Wagner-Festspiele in Bayreuth gab es zu Beginn der Festspiele wohl noch einige unverkaufte Tickets (eher ungewöhnlich in vorpandemischen Zeiten), das gleiche gilt für die Oberammergauer Passionsfestspiele, die noch laufen, und für die (kursorisch nachgeprüft) auch noch für fast jede Vorstellung Tickets gibt.
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