Auf Eis

2. September 2022. Leo Tolstois "Anna Karenina" gehört zu den großen Werken der Weltliteratur. Aber nicht wegen der seifenopernden Story, sondern wegen der Welten, die sich zwischen den Zeilen auftun. Nun hat Amélie Niermeyer den Roman inszeniert und ihrem Personal echte Schlittschuhe und falsche Gefühle verpasst.

Von Andrea Heinz

Amélie Niermeyer inszeniert "Anna Karenina" © Moritz Schell

2. September 2022. "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich…": So beginnt Leo Tolstois epochaler Ehebruchroman Anna Karenina, und so beginnt auch Amélie Niermeyers Inszenierung des Stoffes im Wiener Theater in der Josefstadt. Der Text läuft, ein bisschen wie in den Star Wars-Filmen, senkrecht über einen transparenten Vorhang. Als der sich hebt, landet man unversehens auf einer Schlittschuhbahn. Hier fährt Lewin seine Kreise, der Kitty heiraten möchte, von ihr aber – unbeholfen auf ihren Schlittschuhen herumstolpernd – abgewiesen wird. Sie liebt schon einen anderen, einen gewissen Wronski, der wenig später Anna Karenina an einem Bahnsteig trifft, wodurch sehr viel Glück und Unglück seinen Lauf nimmt.

Hinter Raffgardinen keine Welt

Anna wiederum ist die Schwester von Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonski, der seine Frau Dascha mit einer Gouvernante betrügt, weshalb diese Familie eher zu den unglücklichen zählt, die laut Tolstoi jede auf ihre Weise unglücklich ist. Soweit die nicht zuletzt durch zahlreiche Verfilmungen weithin bekannten seifenopernartigen Konstellationen des über 1000-seitigen Roman. Selbiger liest sich geschmeidig weg – was man von diesem Abend leider nur bedingt behaupten kann.

Anna Karenina 2 Moritz Schell u Auf glattem Eis: Alexandra Krismer (Dascha), Alexander Absenger (Lewin), Alma Hasun (Kitty), Claudius von Stolzmann (Wronski), Silvia Meisterle (Anna Karenina) © Moritz Schell

Niermeyer hat die Theaterfassung Armin Petras’ zur Vorlage genommen, allerdings einiges daran verändert: So erhalten etwa Lewin und seine religiösen Zweifel mehr Raum, sprechen die Frauenfiguren Textpassagen, die eigentlich von Männern gesprochen wurden. Sprich: Inhaltlich relevante Passagen. Die Bühne (Stefanie Seitz) hat etwas unfertiges, spielerisches. In Rechtecke unterteilte Zwischenwände rahmen die Spielfläche, einige von ihnen sind offen, andere eine weiße Fläche, die manchmal farbig ausgeleuchtet wird. Die leeren Rechtecke füllen sich, wenn häusliche Sphäre angedeutet wird, mit altmodischen Raffgardinen.

Wronskis Schlagerkaraoke

Überhaupt hat die Inszenierung etwas eminent spielerisches: Auf der Bühne befindet sich auch ein Keyboard, das immer wieder für Gesangseinlagen und Karaoke verwendet wird, wobei Boney M.s "Rasputin" genauso angestimmt wird wie Schostakowitsch oder eigens für die Inszenierung komponierte Songs. Die Schlittschuhe kommen etwa auch zum Einsatz, wenn zum Ball geladen wird und alle sich auf Anweisung des Fürsten (sehr charmant als Impuls-getriebener Stepan mit seinem schönen bayrischen Tonfall: Robert Joseph Bartl) in Pose werfen. Die Figuren sprechen mal den Text der Erzählerstimme, mal in direkter Rede, mal hören wir ihren inneren Monolog.

Und damit kommt man dem Problem des Abends schon etwas näher: Es wird sehr viel gesprochen, aber man sieht und spürt selten etwas davon. Silvia Meisterle gibt ihre Anna Karenina als kühle, distanzierte Frau – dass sie zum ersten Mal Liebe und Leidenschaft entdeckt, erfährt man aus dem Text, glaubhaft wird es nicht. Genauso wenig wie die Anziehung zwischen Wronski und Anna, die selbst dann seltsam hohl erscheint, wenn die beiden einander nackt umklammern. Claudius von Stolzmann ist in Momenten ungemein witzig als dieser Wronski, etwa wenn er für Anna Karaoke singt und Umberto Tozzis "Gloria" zu "Anna Wronskaja" umdichtet.

Warum liegt hier Stroh?

Nur sollte Witzigkeit eigentlich nicht seine vorderste Aufgabe sein, und was ihn bewegt, was für ein Mensch er ist, das erfährt man von ihm ebenso wenig, wie von seiner Geliebten. Warum sich die beiden am Ende so heillos entzweien und Anna sich vor den Zug wirft, bleibt schließlich völlig schleierhaft. Man weiß, dass es so kommen muss, aber es fühlt sich an, als hätte jemand haufenweise Seiten aus dem Buch gerissen, die nun zum Verständnis fehlen.

Anna Karenina 3 Moritz Schell u Zwischen leeren Kästchen: Silvia Meisterle (Anna Karenina) © Moritz Schell

Das alles hat unterhaltsame Passagen und liebevolle Regie-Details (Bauer Lewin hievt etwa Stroh auf die Bühne, aus dem Off erklingt Schweinegrunzen und das Muh einer Kuh). Raphael von Bargen berührt als gequälter Karenin, Alma Hasun lässt als völlig überdrehte Kitty immer wieder schmunzeln und auch Alexandra Krismer als Dascha und Alexander Absenger als manischer Selbstweifler Lewin machen ihre Sache gut. Kinderdarsteller Cornelius Bruckmann als Annas Sohn Serjoscha sowieso.

Und trotzdem verfängt das Ganze nicht wirklich, bleibt konfus und zerfasert bis zum Schluss, der auf sich warten lässt. Da scheint zu vieles, das Regisseurin Niermeyer unbedingt noch unterkriegen und erzählen wollte, Lewins religionsphilosophische Überlegungen etwa. Man hat vollstes Verständnis dafür, nur fehlt dem Abend dadurch eben Stringenz, eine Linie. Man weiß nicht wirklich, was und warum Niermeyer es erzählen will. Bis auf einige Längen ist der Abend durchaus unterhaltsam, und vor allem witzig anzusehen. Auf das erhebende Gefühl vom großen Zusammenhang all der kleinen, nutzlosen Gefühle und Gedanken und Zweifel, das man beim Lesen des Romans bekommt, wartet man hier aber vergeblich.

Anna Karenina
von Amélie Niermeyer und Armin Petras nach Leo Tolstoi
Regie: Amélie Niermeyer, Bühne: Stefanie Seitz, Kostüme: Christian Schmidt, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki, Video: Christian Borchers, Licht: Emmerich Steigberger, Dramaturgie: Silke Ofner.
Mit: Silvia Meisterle, Raphael von Bargen, Florian Benner/Christoph Löblich/Cornelius Bruckmann, Claudius von Stolzmann, Robert Joseph Bartl, Alexandra Krismer, Alma Hasun, Alexander Absenger.
Premiere am 1. September 2022
Dauer: ca. 3 Stunden, eine Pause

www.josefstadt.org

 

Kritikenrundschau

In der Presse (online 2.9.2022, €) vermutet Norbert Mayer, dass die Regisseurin wohl auch den Ehrgeiz hatte, möglichst viel vom Roman-Stoff in diese drei Stunden Theater hineinzupacken. "Auf dünnem Eis kann das Schwere leicht einbrechen", meint der Autor zu dieser Inszenierung. Denn obwohl die Titelrolle mit "großer Intensität" gespielt werde und andere Schauspieler:innen laut Mayer immerhin mit "verlässlicher Güte" ihre Arbeit auf der Bühne tun, bleibt als Resümee für den Rezensenten: "Man sah eine durchwachsene (wiewohl am Ende heftig und ausdauernd beklatschte) Premiere, mit tollen Einzelleistungen, aber auch Längen, in denen die Darsteller vor lauter Ablenkung etwas deplatziert wirkten."

Theater werde an diesem Abend einmal mehr zur Nivellieranstalt, urteilt Uwe Mattheiß im Standard (2.9.2022). "Auf der Suche nach dem vermeintlichen Kern einer allgemeinmenschlichen Wahrheit verheddert sich die totgelaufene Idee der Interpretation darin, jedweden Stoff auf den Horizont wohlfeiler Alltagserfahrungen 'herunterzubrechen'", schreibt der Kritiker und resümiert wenig überzeugt über den Abend: "In der geschichtsvergessenen Verblendung des Gegenwärtigen verlieren die Kunstwerke ihren utopischen Gehalt."

Regisseurin Niermeyer habe in ihrer Bühnenfassung die drei Paarbeziehungen von den gesellschaftlichen Zwängen des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Romans, befreit und versuche auch noch, etwas von Tolstois gesellschaftspolitischen Analysen zu vermitteln, ordnet Petra Paterno in der Wiener Zeitung (2.9.2022) die Inszenierung ein. Dabei sei Silvia Meisterle als Anna Karenina "gewiss das Epizentrum der Aufführung". Niermeyer nehme sich in ihrer "Anna Karenina"-Interpretation viel mehr vor als den Ehebruch und das daraus folgende Drama. Das Problem daran sei, dass sie nun in knappen Szenen viel Inhalt und noch mehr Emotion unterbringen müsse. "Bedauerlicherweise verpufft aber so mancher Auftritt, selbst wenn er szenisch perfekt aufgebaut und mit einem Blick für Details erarbeitet wurde, einfach, weil das Ensemble doch auf recht unterschiedlichem Niveau agiert", meint die Kritikerin. "Gelungen" sei hingegen die Neubewertung der Dreiecksbeziehung von Anna Karenina, dem gehörnten Ehemann und ihrem Geliebten.

Niermeyer entdecke in jedem Charakter liebenswerte Details, meint Thomas Trenkler im Kurier (2.9.2022, €). In ihrer auf acht Figuren komprimierter Fassung wechselten die Schauplätze rasant und die Szenen gingen nahtlos ineinander über, beschreibt der Kritiker. "Das gelingt raffiniert", findet er. "Packend", ist das kurze, finale Gesamturteil zu dem Abend von Trenkler.

 

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