Im Setzkasten der Identitäten

8. September 2022. Zuletzt legte der Schriftsteller und Dramatiker Thomas Melle mit dem Bestseller "Die Welt im Rücken" Zeugnis über seine bipolare Erkrankung ab. In seinem neuen Roman "Das leichte Leben" schildert er nun den Zerfall einer Familie – und webt erneut ein feines Netz der Selbstreferenzen.

Von Michael Wolf

 

8. September 2022. Vor zwanzig Jahren waren Kathrin und Jan ein bekanntes Szene-Paar. Gemeinsam kosteten sie die letzten Wellen der Spaßgesellschaft aus: Drogen, Partys, Exzess. Sie versicherten einander, es könnte ewig so weitergehen: "Das leichte Leben". Auch der folgende Rückzug ins Einfamilienhaus, die Geburt der zwei Kinder und Kathrins Umschulung vom gefeierten Literaturstar zur Lehrkraft für Geschichte deuteten sie nicht als Eingeständnis an die Konvention oder gar Einkehr in die Spießigkeit, sondern als Weiterentwicklung eines individuellen Lebensstils. 

In der Gegenwart ist es zunächst der Sex, der diese wohl gehütete Lebenslüge offenbart. Lange lief gar nichts mehr im Bett. Nun, da Jan als Moderator einer Fernsehshow zu frischem Selbstbewusstsein gekommen ist, schlafen die beiden zwar wieder miteinander, doch die müde Übung führt nicht zu erneutem Liebesglück, sondern erinnert Kathrin nur an alles, was sie schmerzlich vermisst. Die Lust führt sie auf Abwege, sie besucht eine Swingerparty, lebt ihre Porno-Fantasien aus, masturbiert bei jeder Gelegenheit im betrunkenen Zustand. Und sie verliebt sich neu, ausgerechnet in einen ihrer jugendlichen Schüler, der auch noch mit ihrer Tochter zusammen ist.

Arbeitstitel "Lolitus"

Keanu heißt er: ein schöner, verlorener Junge. Das Leben nimmt er als nicht enden wollendes Videospiel wahr, und sich selbst als Einzigen, der den Quellcode kennt. In seiner Hybris wie in seiner Ungeschicklichkeit ist er ein klassischer Vertreter der Jugend. Das Privileg, noch nicht in eine Identität eingeschlossen zu sein, erscheint als quälendes Verhängnis. Wohin mit sich? Wie mit dieser Haltlosigkeit umgehen? Keanu verwandelt sie in Wut. Sie treibt ihn an, lässt ihn seine Freunde denunzieren, im Netz die Klarnamen pseudonymer Accounts offenlegen, Sex-Videos von Mitschülern verbreiten. Die Folgen sind ihm gleichgültig, scheint er doch zu glauben, in diesem Game ließe sich jedes Level erneut laden. Es ist auch diese Unbedarftheit, die Kathrin anzieht, die sie sogar motiviert, wieder zu schreiben, ein Manuskript mit dem Arbeitstitel "Lolitus" zu beginnen, in dem sie sich in fragwürdige Fantasien mit dem Schutzbefohlenen hineinsteigert. Auch sie will das Spiel also neu starten, sollte es aber besser wissen.

Derweil hat ihr Ehemann andere Sorgen. Nachts erhält Jan von einem anonymen Absender Bilder, die ihn als Kind zeigen, teilweise nackt. Als Internatsschüler wurden er und seine Mitschüler regelmäßig von einem Geistlichen fotografiert und beim Duschen beobachtet, womöglich geschah sogar mehr. Thomas Melle spiegelt das Thema des sexuelle Übergriffs entlang der Zeitachsen. Da ist einerseits Kathrins Wunsch nach Veränderung, die einzuleiten ihr die Entschlossenheit fehlt. Erst ein moralischer Fehltritt würde den Weg in eine andere Zukunft freigeben, konkret: die Verführung Keanus und die unausweichlichen Folgen dieser Tat.

Cover MelleJan wiederum sucht die Gewalt aus der Vergangenheit heim. Er weiß nicht, was damals im Internat geschehen ist, kann die Fotos nicht einschätzen, fürchtet aber, dass sie sein penibel gepflegtes Ego beschmutzen könnten. Der Autor folgt hier in Grundzügen seinem Stück "Bilder von uns", das wiederum auf dem realen Fall am Aloisiuskolleg basiert, dessen Schüler Melle einst war. Es ist nicht die einzige Selbstreferenz, auch die Hauptfigur des Stücks "Versetzung" bekommt einen kurzen Auftritt.

Wie in "Bilder von uns" zeigen die Betroffenen sehr unterschiedliche Reaktionen. Ein früherer Internatszögling fordert wütend Aufklärung; ein zweiter gibt sich unerschütterlich; ein dritter ist längst zerbrochen an dem, was ihm widerfuhr. Jan entscheidet sich dagegen, ein Opfer zu sein, tut lieber so, als wäre nichts gewesen, als vor sich selbst zuzugeben, dass er nicht Herr der eigenen Biographe sein kann. Seine tatsächliche Hilflosigkeit sucht er eifrig zu verdrängen. Er bandelt mit einer jungen Kollegin an, bestellt sich Viagra im Internet, geht ins Bordell, verwechselt Selbstermächtigung mit Potenz. Und wird schließlich am tiefsten fallen, weil er am wenigsten bereit ist, seine Verletzlichkeit anzuerkennen.

Qualen der Adoleszenz

Und was machen die Kinder, während die Erwachsenen durchdrehen? "Was sollen sie schon machen, dachte Kathrin – doch auch nichts anderes als wir." Bei solchen Eltern wäre das nur erwartbar, doch gegen alle Wahrscheinlichkeit halten sich Sohn und Tochter vergleichsweise wacker. Lale gibt Keanu den Laufpass, auch der sensible Severin bewahrt sich eine gewisse Stabilität. Er träumt sich aus seiner Einsamkeit heraus nach Japan und an die kalten Brüste von Gummipuppen. Man kann deutlich unsouveräner auf die Qualen der Adoleszenz reagieren, was Keanu dann im weiteren Verlauf des Romans auch unter Beweis stellt. Dennoch gönnt Melle ihm und Kathrin so etwas wie ein Happy End, das allerdings so betont klischiert ausfällt, dass man ihm nicht recht trauen mag.

Eine gewisse Unzuverlässigkeit des Erzählers deutet sich zuvor bereits in der Sprache der Jugendlichen an, die so gar nicht zu ihrem Alter passen mag. Sie verwenden Wörter wie "Nepp" oder "delektieren" und echauffieren sich über die "Sollbruchmaserungen" eines Charakters. Allzu glaubwürdig sollen die Figuren nicht erscheinen, wohl um unerwünschte Sympathien zu vermeiden. Es gilt, den Überblick über das große Ganze zu behalten.

Figuren auf dem Spielbrett

Zuletzt erzählte der Autor in Die Welt im Rücken aus seinem eigenen Leben mit einer manisch-depressiven Erkrankung. Das neue Buch ist eher Versuchsaufbau denn psychologische Erzählung. Es demonstriert die Überforderung des Einzelnen, innerhalb sozialer Systeme wie der Ehe, der Familie oder der Schule, ein stabiles Selbstbild zu erhalten. Wie auf einem Spielbrett drapiert Melle seine Figuren und treibt sie dann in kurzen, temporeichen Kapiteln in die Enge. Grob geschnitzt und mit eben solchen Sollbruchmaserungen ausgestattet, tritt an ihnen deutlich vor Augen, wie Menschen kaputt gehen, wenn sie ihre geheimen Wünsche oder Ängste nicht in Einklang mit den Erwartungen der Anderen bringen können. Die Lust ist nur ein besonders grelles Beispiel für die Dynamik, die hier waltet. Gelingt es nicht, sie einzuhegen, folgt die Strafe auf dem Fuß – bis zum existenziellen Bankrott. Diese Präsentation gelingt Melle makellos, doch lässt einen der Niedergang seines Personals auch seltsam kalt. Man meint am Ende, etwas Wichtiges gelernt, es jedoch gleich wieder vergessen zu haben.

 

Das leichte Leben
von Tomas Melle
Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 24 Euro

Kommentar schreiben