Im Text-Tsunami

7. September 2022. Waldsterben, Depressionen, Dauerkrise: "We are fucked wie nie zuvor" diagnostiziert Thomas Köck in seinem neuen Stück und schreibt damit die Thematik seiner viel beachteten "Klimatrilogie" fort. Als Regisseur des eigenen Werks setzt der Sprachjongleur auf die Kraft des Spielerischen.

Von Harald Raab

Thomas Köcks neues Stück "Solastalgia" in der Uraufführungsregie des Autors beim Kunstfest Weimar © Robert Schittko

7. September 2022. "Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren." Dantes Headline zu seinem Inferno in der "Göttlichen Komödie" bringt auf den Punkt, was uns der Erfolgsdramatiker Thomas Köck in seinem neuen Stück "Solastalgia" lehren will: Wir brutzeln in der Hölle, dessen Feuer wir selbst angezündet und nach Kräften geschürt haben.

Beim Weimarer Kunstfest erlebt das Stück, das bescheiden als "sprachliche Spurensuche" daherkommt, seine Uraufführung – im diffus-grellen Licht der Spielstätte E-Werk, mit viel Endzeitmusik und Sprachgewitter, koproduziert vom Schauspiel Frankfurt.

Sterbender Wald, depressive Menschen

Das Halbrund einer Art Anatomie-Hörsaals mit aufsteigenden Rängen, tapeziert mit Abbildungen biomorpher Strukturen unterm Mikroskop (Bühnenbild: Barbara Ehnes) bildet die Arena für ein zirzensisches, nervenzehrendes, oft Ohren strapazierendes Sprach- und Sprechexperiment. Der Autor Thomas Köck hat ein Klage- und Anklagelied in Endlosschleife abgeliefert: Der Wald liegt im Sterben, der Papa einer der Akteurinnen ist manisch depressiv, suizidal, vom kapitalistischem Wirtschaftssystem als kleiner Handwerker plattgemacht, in der Psychiatrie malträtiert.

Solastalgia1 805 Robert Schittko uMit Tüllröcken und Warnwesten gegen die Krisen unserer Zeit: Die Spielerinnen und Musikerinnen auf der von Barbara Ehnes entworfenen Bühne im Weimarer E-Werk © Robert Schittko

Erhellende Erklärung könnte das seltsame Titel-Wort Solastalgia liefern. Schlag nach bei Google: "Solastalgie bezeichnet ein belastendes Gefühl des Verlusts, das entsteht, wenn jemand die Veränderung oder Zerstörung der eigenen Heimat, des eigenen Lebensraums direkt miterlebt. Geprägt wurde der Begriff 2005 durch den australischen Naturphilosophen Glenn Albrecht." Von diesem allgegenwärtigen Gefühl von Schuld und Zukunftsangst ist das Stück getragen: Wir ziehen uns selbst den Boden unter den Füßen weg. Folgen: permanente psychische Überforderung. – Auch beim Publikum?

"Das hier ist keine Andacht. Das hier ist keine Trauerveranstaltung. Das hier ist keine apokalyptische Botschaft. Das hier ist noch nicht einmal ein in sich schlüssiger Gedanke", exkulpiert sich der Autor in der Textvorlage. Die Frage des Publikums darf erlaubt sein: Was ist es nun eigentlich, was da geboten wird? Ohne Punkt und Komma ist der Text-Tsunami verfasst, im postmodernen Stil mit dem Stakkato eines Maschinengewehrs – ohne erkennbare dramatische Choreographie.

Immer Tempo, immer Action

Thomas Köck, nun in der Rolle des Regisseurs, musste dieses Sprachungetüm in sinnliches, möglichst opulentes Theater verwandeln – aus der Schreibebene in die Sphäre des spielerischen Agierens plus die Unmittelbarkeit des Augenblicks transformieren. Das gelingt ihm und seinen drei Schauspielerinnen Katarina Lindner, Miriam Schiweck und Mateja Meded mit atmosphärischer Klang-Unterstützung der drei Musikerinnen Laia Hard Catalan, Maria Laura Oliveira und Patricia Pinheiro erstaunlich beeindruckend. Immer Tempo, immer Action. Die Schauspielerinnen lassen mit Körpereinsatz und Stimme eine Geschichte entstehen, die das Publikum in ihren Bann zieht – und auch gehörig strapaziert. Ob so Sinnstiftung und Orientierung durch Katharsis entstehen, sei mal dahingestellt und wohl der individuellen Gemütsverfassung des einzelnen im Publikum überlassen.

Solastalgia2 805 Robert Schittko uMit Körper- und Stimmeinsatz lassen die Darstellerinnen aus Thomas Köcks punkt- und kommalosem Stakkato-Text Geschichten entstehen, hier Mateja Meded © Robert Schittko

In Tüllröckchen und mit Warnwesten ausgestattet (Kostüme: Agate Macqueen), wird zum Einstand der antike Chor bemüht, mit rhythmisch anklagenden "Weil"-Sätzen: "Weil der Arzt, weil die neurologische Grunderkrankung, weil die Nebenwirkungen, weil, weil, weil." Inquisitorisches und staatsanwaltschaftliche Plädoyers vor dem moralischen Weltgericht dann im ausufernden Kapitel Wald und Flur: Waldsterben, Baumleichen. "Knapp viertausend Quadratmeter deutscher Wald werden am Ende dieses Jahres zerstört worden sein. Was der Größe des Saarlandes entspricht." Man lernt viel über Waldwirtschaft und deren Geschichte, über Tannen und norwegische Fichten und den Rettungsversuch mit importierten Douglasien aus Nordamerika. Der Borkenkäfer als billige Ausrede für eine falsche Strategie mit profitabler Monokultur.

Dadaistisch, satirisch wird’s, wenn zwei der Akteurinnen in Rokoko-Manier, mit Müllsäcken wie Reifröcke um die  Hüften, höfisch exaltiert parlieren und dabei nur mit lateinischen Pflanzenbezeichnungen auskommen. Und zu schlechter Letzt im Gestus des strafenden Erzengels, der uns aus dem eingebildeten Paradies vertreibt, erklären: Wir sind "in dieser Landschaft völlig unerwünscht". Natur kommt ohne uns besser zurecht.

Das große, absolute Werk

Freilich ist solch ein Abend, an dem es um die ganz großen Probleme der Zeit geht, nicht leicht zu realisieren. Der Absturz in Beliebigkeit und hippen Agitprop droht in diesem Terrain. Aber Thomas Köck – zweifacher Gewinner des Mülheimer Dramatikpreises – ist Theaterprofi; er weiß um die Notwendigkeit, sich auf das spielerische Element zu besinnen. Deshalb kann ihm solch ein Sprach- und Aufführungsexperiment gelingen.

Wie Dante Alighieri hat der Sprachjongleur spätestens seit seiner Klimatrilogie nichts Geringeres als das große, absolute Werk vor, mit dem er die Menschheitstragödie unserer Zeit zu verhandeln gedenkt. Das neue Stück ist eine Facette dazu. "We are fucked wie nie zuvor" – um Dante zeitgemäß zu zitieren.

 

Solastalgia
Von Thomas Köck
Regie: Thomas Köck, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Agathe MacQueen, Musik: Andreas Spechtl, Dramaturgie: Marlies Kink, Julia Weinreich, Licht: Frank Kraus.
Mit: Katharina Linder, Mateja Meded, Miriam Schiweck sowie Laia Haro Catalan, Maria Laura Oliveira und Patrícia Pinheiro (Live-Musik).
Uraufführung
Koproduktion mit dem Schauspiel Frankfurt 
Pramiere am 7. September 2022
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

www.kunstfest-weimar.de
www.schauspielfrankfurt.de 

 
 

Kritikenrundschau

"Thomas Köck schreibt durchrhythmisiert, musikalisch", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (online 8.9.2022). "Solastalgia" ist für den Kritiker "ein roher Text" und das mache ihn "großartig". Als Regisseur des eigenen Werks verdichte Köck die Uraufführung zu "einem langen Schrei", erklärt Tholl. Diese Inszenierung sei "dicht, konzentriert und düster, voller hinterlistiger Gedanken, voller Erkenntnisse und toll erfundener Worte". "Er [der Abend] ist wütend, aber nie larmoyant, auch wenn ihm etwas von einem Requiem auf unsere Welt anhaftet. Viel Hoffnung vermittelt er nicht", resümiert Tholl.

Der Abend sei vor allem "ein Abgesang auf die Option Menschheit", berichtet Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (7.9.2022). Das Stück ist für den Kritiker ein "Wutanfall über die Unfähigkeit der Menschheit wie sie ist, mit dem Lebensraum, den sie hat, noch umzugehen". Das alles sei nicht neu, aber der Zorn, mit dem Köck an das Thema herangehe, sei "sehr beachtlich" und reiße einen "in tiefe Depressionen". Die Spielerinnen sprechen den herausfordernden Text mit "großer Energie", beschreibt er. Dieser Text sei anstrengend für alle Beteiligten und ziehe einen gleichzeitig in "den Sog dieser Beschäftigung mit der Menschheit als unfähiges Wesen". Die drei Schauspieler:innen findet der Kritiker sehr konzentriert und mitreißend. Zusammen mit dem Spiel der drei Musiker:innen sei das alles "klug" komponiert – und die Musik helfe den Schauspieler:innen, die "an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit" agierten, sehr.

Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen (9.9.2022) vernahm in Weimar einen "eher undramatischen Text zum aktuellen Menschheitsdrama". Mit seinem "Text, der mit unvollendeten Sätzen und ungewöhnlichen Betonungen spielt, betrauert Köck das unausweichliche Sterben und gibt sich dabei teilweise auch belustigt." Vor Sinn und Inhalt komme für Köck "stets Rhythmus und Sound", man erlebe die "entleerende Hülle eines Theaterabends, der sich für nichts anderes als Textgestaltung interessiert". Auch sei auf der Bühne kein "einziger interessanter oder irritierender Spielvorgang" zu erleben; "das plätschert alles so dahin, bis hin zu einem ziemlich verhuschten Finale".

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